Auseinandersetzungen bei Corona-Demos in Schweinfurt, eine Bombendrohung in Würzburg, ein Anschlag auf einen ICE in Main-Spessart: Eine radikalisierte Minderheit von verschwörungsgläubigen "Querdenkern" hält Unterfrankens Polizei so in Atem, dass Ministerpräsident Markus Söder (CSU) bereits vor einer möglichen "Corona-RAF" warnte.
Wie schätzt Unterfrankens Polizeipräsident Detlev Tolle die Gefahr ein? Im Interview spricht der 58-Jährige über den turbulenten Einstieg in sein neues Amt. Und darüber, wie sich für die Polizei die Situation verändert hat.
Detlev Tolle: Die Corona-Proteste waren in dieser Dimension überraschend. Ich habe mit Demonstrationen in Würzburg, Schweinfurt und Aschaffenburg gerechnet. Nicht jedoch mit denen im ländlichen Raum: Dass in Hammelburg, Ebern, Bad Königshofen hunderte Menschen ohne für mich erkennbare Botschaft demonstriert haben, habe ich nicht erwartet.
Tolle: So etwas überrascht. Als Polizist weißt du, dass es Menschen gibt, die es nicht gut mit dir meinen, etwa Personen auf links- oder rechtsextremen Demos oder Fußball-Hooligans. Jetzt kommt Gewalt auch aus dem bürgerlichen Lager. Wenn etwa eine 50-jährige Frau uns angreift, kratzt, schlägt und beißt, dann ist das neu. Die Kolleginnen und Kollegen haben das bisher jedoch höchst professionell und nach Möglichkeit gelassen gelöst. Das große Vertrauen zwischen Bürgerinnen und Bürgern und ihrer Polizei ist dadurch jedenfalls nicht beeinträchtigt.
Tolle: Das ist zumindest die einzige Absicht, die sie nach meiner Auffassung hatten. Ich glaube nicht, dass es den Rechtsextremen inhaltlich jemals um die Pandemie ging. Ob ihnen ein Schulterschluss gelungen ist, lässt sich nicht direkt in Zahlen ablesen. Ein schönes Zeichen war, dass es nach den Ausschreitungen in Schweinfurt eine Flucht aus den Telegram-Kanälen gab. Viele Bürgerliche wollten mit der Gewalt gegen die Polizei nichts zu tun haben. Diejenigen, die jetzt noch bei Aufzügen mitlaufen, können sich nicht mehr rausreden. Jeder weiß, Rechtsextremisten sind Teil dieser Demos.
Tolle: Als Polizeipräsident obliegt es mir nicht, diesen politischen Begriff zu gebrauchen. Wir haben jedoch die große Befürchtung, dass die Corona-Pandemie nur ein Vehikel für antidemokratisches Gedankengut ist. Das eigentliche Thema spielt für derartige Proteste keine Rolle. Deshalb hat der Ministerpräsident Recht, wenn er sagt, dass nach Corona das nächste Thema kommen wird.
Tolle: Es ist Aufgabe des Staates, hier genau hinzuschauen. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass die Polizei alltäglich mit der Frage zu kämpfen hat, welche Rolle Respekt und Anstand in diesem Land spielen. Ein 22-Jähriger hat kürzlich einem Kollegen bei einem Einsatz in Bad Königshofen vierfach den Kiefer gebrochen. Der Kollege war völlig überrascht von dieser Gewalt. Ich glaube, dass Respekt und Anstand einigen verloren gegangen sind. Ob das jedoch mit Corona zu tun hat, bezweifle ich.
Tolle: Ich bin guter Hoffnung, dass sich einiges beruhigen wird, insofern Konfliktfelder der Corona-Pandemie entschärft werden können. Ich glaube aber nicht, dass es wieder so wird, wie es vorher war. Bei den von Ihnen genannten Aktionen handelt es sich um schwere Straftaten, die wir mit aller Konsequenz verfolgen. Den Verursachern drohen empfindliche Strafen.
Tolle: Telegram ist kein rechtsfreier Raum. Deshalb trügt der Anschein, wir würden dort nicht aktiv sein. Der Vorteil, den wir haben, ist, dass sich auf Telegram vieles auf offenen Foren abspielt. Die Gruppen, in denen die Demonstrationen organisiert werden, sind uns bekannt und beim Verdacht einer Straftat leiten wir gegen die Personen, von denen wir Klarnamen ermitteln, Verfahren ein.
Tolle: Wir haben erste Hinweise, dass Telegram seine Blockadehaltung aufgibt. Einzelne Kanäle, die Hass und Hetze verbreiteten, wurden seitens Telegram gelöscht. In Bezug auf Ermittlungsverfahren werden wir über kurz oder lang an die notwendigen Daten herankommen. Telegram wird sich nicht halten können, wenn man sich den Strafverfolgungsbehörden verschließt. Bereits jetzt gilt: Sollte sich jemand in diesen Gruppen unbeobachtet fühlen, täuscht er sich.
Tolle: Womit wir nicht gerechnet haben, war die Eskalation der Gewalt. Ich weiß nicht, warum es ausgerechnet in Schweinfurt eskaliert ist. Überraschend war, dass die Gewalt von Personen ausging, denen man das als Polizist nicht zugetraut hätte. Konkret meine ich den Fall einer Mutter, die mit einem Kinderwagen – darin sitzend der vierjährige Sohn – versuchte, eine Polizeikette zu durchbrechen. Oder andere, die versuchten einen Streifenwagen anzuzünden.
Tolle: Bei vielen "Spaziergängen" hatten wir Kommunikationsbeamte im Einsatz, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Dies gestaltete sich schwierig bis unmöglich. Aber auch Repression hat präventive Wirkung, etwa bei den beschleunigten Verfahren in Schweinfurt. Auf Versammlungen haben wir nach Verstößen zahlreiche Personalien festgestellt, unterfrankenweit wurden rund 1000 Ordnungswidrigkeitenverfahren eingeleitet, die mit empfindlichen Bußgeldern geahndet werden. Gerade gegen Verantwortliche der Szene laufen eine Vielzahl von Verfahren. Unsere Staatsschutzkommissariate kennen die Szene zudem sehr genau. Vor allem zu Beginn der Proteste gab es Kontaktaufnahmen mit Personen, um auf die geltenden gesetzlichen Regeln und die rechtlichen Konsequenzen im Falle einer Missachtung hinzuweisen
Tolle: Wir gehen grundsätzlich davon aus, dass unsere Maßnahmen rechtmäßig sind und haben daher kein Problem damit, in der Öffentlichkeit zu erscheinen. Unsere Einsatzkräfte kennen die rechtlichen Bestimmungen dazu sehr gut und auch wir filmen mit unserer Bodycam. Ob wir vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder von einem YouTuber gefilmt werden, macht für uns keinen Unterschied. Problematisch wird es, wenn nur Ausschnitte und kein Gesamtzusammenhang veröffentlicht werden. Zum Beispiel wenn ein polizeilicher Zugriff gezeigt wird, nicht jedoch dessen Entstehung, wo Polizeibeamte zuvor geschlagen, bespuckt oder getreten worden waren. In solchen Fällen entsteht für die Zuschauer ein verfälschtes Bild.
Tolle: Dieser einzeln geäußerte Vorwurf ist sehr bedauerlich. Die Pressefreiheit ist für mich eines der wichtigsten Grundrechte in unserem Staat. Eine freie Berichterstattung ist gerade in gesellschaftlich unruhigeren Zeiten existenziell für die Demokratie. In Unterfranken pflegen wir traditionell einen professionellen Umgang mit Medienvertretern und bieten direkte Ansprechpartner für jedwede Belange an. Aber nachdem der Begriff "Journalist" leider weder geschützt, noch gesetzlich geregelt ist, müssen wir journalistische Tätigkeit im Zweifel an den durch Rechtsprechung definierten äußeren Faktoren festmachen. Der bundeseinheitliche Presseausweis ist eine solche Legitimation.
Tolle: Das ist richtig. Er erleichtert unseren Einsatzkräften vor Ort aber die Einschätzung und es gibt Einzelfälle bei Demonstrationen, bei denen Personen versuchen, die Privilegien der Pressefreiheit zu missbrauchen. Für jede Art von journalistischem Anliegen haben wir den Service einer 24 Stunden am Tag erreichbaren Pressestelle: sei es bei Anfragen, oder bei Problemen an Einsatzstellen. Sehr gerne stehen und standen wir dazu auch im Austausch mit dem Bayerischen Journalistenverband.
Tolle: Die Polizei ist zur Neutralität verpflichtet. Es ist nachvollziehbar, wenn unterschiedliche Lager unser Vorgehen unterschiedlich bewerten. Allerdings mussten wir unser Vorgehen bei den "Spaziergängen" zunächst ordnen. Zeitweise kamen in verschiedenen Städten um kurz vor 18 Uhr plötzlich zahlreiche Menschen auf den Marktplatz und liefen einfach los – ohne erkennbare politische Botschaft. Wir mussten abwägen, ob wir hier nach Versammlungs- oder nach Polizeirecht vorgehen. Wir haben uns versammlungsfreundlich für das Versammlungsrecht entschieden, was im Nachgang auch die Rechtsprechung bestätigte. Der Erlass der Allgemeinverfügungen war für die Polizei ein entscheidender Erfolgsfaktor im richtigen Umgang mit der Situation.
Tolle: 3000 Menschen auf einer Demonstration von einem ordnungswidrigen Aufzug abzuhalten, erfordert viele Einsatzkräfte. Wir haben das Recht jedoch mit massivem Personaleinsatz durchgesetzt. Allerdings folgt daraus, dass viele Kolleginnen und Kollegen sieben Tage die Woche aus den Einsatzstiefeln nicht mehr herauskommen. Ehrlich gesagt, könnten wir diese Einsatzzeiten auch besser nutzen: Für die Bekämpfung von Kinderpornografie, des Phänomens "Enkeltrick", aber auch für die Verkehrsüberwachung.
Da spielt momentan die Demos gegen Impfpflicht und deren Querdenker eigentlich nur noch eine ganz kleine Nebenrolle in dieser Welt!