Auf dem Monitor blinken die Vitalparameter. Herzfrequenz, Blutdruck, Sauerstoffsättigung. Der Patient liegt regungslos im Bett, die Geräte piepen gleichmäßig. Dr. Axel Steinke drückt auf den Cursor. Pfeil nach oben, das Kamerabild fährt an den Mann heran. Dann schwenkt Steinke auf das Beatmungsgerät, zoomt noch einmal näher. "Das sieht nicht gut aus", sagt der Facharzt für Anästhesiologie. Steinke arbeitet als Oberarzt auf der Intensivstation der Uniklinik Würzburg (UKW). Sein Patient aber liegt in diesem Moment fast 20 Kilometer entfernt, auf der Intensivstation der Klinik Kitzinger Land.
Schwer kranke Intensivpatienten medizinisch zu betreuen – ohne vor Ort zu sein, ohne am Patientenbett zu stehen? Das klingt surreal, nach Science-Fiction. Tatsächlich aber ist genau dies das Ziel eines Pilotprojektes am Würzburger Uniklinikum. Möglich machen das die Videokonferenz-Software Zoom und ein Teleintensivwagen, eine Art digital verlängerter Arm des Intensivarztes. "So können Spezialisten aus Kliniken der Maximalversorgung Kollegen in kleineren Häusern bei der Intensivbehandlung mit ihrem Fachwissen unterstützen", sagt Dr. Nora Schorscher.
Der Visitenwagen ist mit Kameras und einer Augmented-Reality-Brille ausgerüstet
Die 35-jährige Intensivmedizinerin leitet das Projekt und hat den Wagen mit entwickelt. Seit 2021 kümmert sie sich zusammen mit dem leitenden Oberarzt der Intensivstation, Dr. Daniel Röder, und dem Leitstellenoberarzt, Dr. Jürgen Brugger, um die Umsetzung und Weiterentwicklung des Teleintensiv-Konzepts an der Uniklinik Würzburg, um die Zukunft quasi.
An diesem Nachmittag hat Schorscher die Aufsicht auf der Intensivstation im Zentrum für Operative Medizin in Würzburg. Ihr Handy klingelt im Minutentakt, als sie einen der Visitenwagen für die Teleintensivmedizin in den Raum schiebt. Exakt das gleiche Modell steht in der Klinik Kitzinger Land.
Im Prinzip sei das ein normaler Visitenwagen mit Laptop – jedoch ausgerüstet mit verschiedenen Kameras, einem Scanner, einer Augmented-Reality-Brille und Video-Capture-Devices, erklärt Maximilian Göpfert vom Servicezentrum Medizininformatik. Die Kameras und die Brille sollen quasi als Augen fungieren und dem Uniklinik-Experten einen umfassenden Eindruck vom Zustand des Patienten vor Ort ermöglichen, sagt der technische Leiter des Projekts.
Zugleich könnten die Würzburger Ärzte auf dem PC Informationen zu dem Patienten abrufen, sagt Nora Schorscher. Und betont: "Wir greifen nicht auf das medizinische System des Partnerkrankenhauses zu." Die Original-Patientenakte liege weiter in Kitzingen, der Datenschutz bleibe gewahrt. "Die einzige Verbindung ist der sicher verschlüsselte Videostream über Zoom."
So wird es möglich, dass Oberarzt Axel Steinke zig Kilometer von seinem Patienten entfernt ist. Auf den drei Bildschirmen seines Arbeitsplatzes ploppt rechts die extra angelegte Akte des Kitzinger Patienten auf, links liegen Ordner mit Screenshots von CT-Aufnahmen. In der Mitte wechselt das Kamerabild vom Visitenwagen ins Büro von Dr. Daniel Holzheid.
Der Kitzinger Intensiv- und Notfallmediziner war früher selbst an der Uniklinik tätig, die Begrüßung mit Axel Steinke ist freundschaftlich. Holzheid stellt den Patienten, einen älteren Mann, der an einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) leidet, in knappen Worten vor. Steinke fragt nach dem Corona-Impfstatus.
Dann gehen die beiden Mediziner die Werte des Mannes von Kopf bis Fuß durch. "So bekomme ich strukturiert ein gutes Bild von dem Erkrankten", erklärt Steinke. Virtuell müsse man sich zwingen, wirklich Organ für Organ abzufragen – am Patientenbett, wenn man den Menschen vor sich liegen habe, falle das leichter.
Mittlerweile haben die beiden Oberärzte etwa 15 Patientinnen und Patienten gemeinsam betreut. "Es funktioniert gut", sagt Holzheid. "Wo wir an Grenzen stoßen und in der Uniklinik mehr Erfahrung da ist, hilft die Beratung." Dadurch stelle man "dann vielleicht die letzte Nuance am Beatmungsgerät doch noch mal anders ein".
Profitieren würden in erster Linie die Patientinnen und Patienten. Aber auch für die Mitarbeiter kann die Kooperation eine Erleichterung sein, etwa, wenn ein Erkrankter in die Uniklinik verlegt werden muss. "Das geht dann schneller und einfacher", so Holzheid.
Ungewohnte Situation für Intensivmediziner
Wie aber ist das für einen Arzt, wenn der Patient nicht vor ihm liegt? Anfangs ungewohnt, sagt Steinke. Tatsächlich würde jedoch gerade in der Intensiv- und Notfallmedizin viel telefoniert, teils auch noch gefaxt und nicht selten nach dem Prinzip der Kurvenvisite gearbeitet. Das heißt, "dass man viele Entscheidungen nur anhand der Patientenkurve treffen kann" – aber eben nicht alle. Dort, wo ein Blick auf den Patienten nötig sei, auf die Haut, den Körper, helfe der Telemedizinwagen mit seinen Kameras "extrem".
Allerdings hat die Teleintensivmedizin Grenzen. Dass der Arzt von Würzburg aus eine Therapie in Kitzingen leite, sei nicht möglich. "Ich behandle nicht selbst, sondern spreche Empfehlungen aus", sagt Steinke klar. Was wirklich gemacht werde, würden die Kollegen vor Ort entscheiden. Sie haben das letzte Wort und tragen die Verantwortung. Sie agieren. Die Uniklinik berät.
Das geht theoretisch von überall, egal ob aus der Uniklinik oder von zuhause. Der Oberarzt lacht. "Natürlich habe ich darüber schon Witze gemacht. Homeoffice als Intensivmediziner, das klingt verrückt." Es ist aber denkbar. Ausprobiert habe er es im Pilotprojekt auch, die Visiten seien ganz einfach mit einem Laptop durchführbar.
Denn darum geht es, zu sehen, zu probieren, was digital in der Intensivmedizin möglich ist. Noch stehe man am Anfang, sagt Projektleiterin Nora Schorscher. Bislang arbeiten sie und ihr Team mit der Klinik Kitzinger Land, dem Klinikum Main-Spessart und dem Klinikum Ansbach in Mittelfranken zusammen. Das Ziel sei, nach und nach ein bayernweites Netzwerk aufzubauen, dass Spezialwissen in jede Klinik bringe, rund um die Uhr.
"Langfristig gedacht, könnte dann nachts beispielsweise ein erfahrener Intensivmediziner für zahlreiche andere Krankenhäuser in Bayern als Experte in intensivmedizinischen Notfällen digital erreichbar sein." Noch ist das ferne Zukunft, noch fehlt dafür zum Beispiel ein einheitliches Dokumentationssystem. "Aber es wird gehen", sagt Schorscher. Dass es wichtig ist, habe sich gerade in der Corona-Pandemie gezeigt.
Nicht selten hätten Experten der Uniklinik in den vergangenen zwei Jahren ihr Wissen zur Behandlung und vor allem zur Beatmung der Covid-Patienten weitergegeben, sagt Steinke. Zur Bauchlagerung oder zur Notwendigkeit einer Ecmo-Therapie. Der Teleintensivwagen vereinfache und verbessere diese Zusammenarbeit. Für Ärztinnen und Ärzte genauso wie für Pflegerinnen und Pfleger. "Es geht nicht darum, die Krankenhäuser in der Fläche zu überwachen – sondern um den kollegialen Austausch und die fachliche Unterstützung in der Notfallsituation", sagt Schorscher. "Wir zwingen niemanden dazu."
Teleintensivmedizin bedeutet Mehrarbeit und höheren Personalaufwand
Zu Beginn sei das vereinzelt auch mal nicht auf Begeisterung gestoßen, gibt die Intensivmedizinerin zu. Weder in Würzburg, noch in den peripheren Krankenhäusern. Die Teleintensivmedizin bedeutet mehr Arbeit, neue Positionen, die besetzt werden müssen, neue Abläufe. "Ich musste mich erst reinfuchsen in das System", sagt auch Axel Steinke.
Mittlerweile aber laufen die Visiten in Kitzingen routiniert. Steinke zoomt noch einmal auf das Beatmungsgerät, fragt dann nach einem CT des Brustkorbs. Daniel Holzheid sucht das Bild heraus und überstellt es seinem Kollegen. Beide Mediziner sind besorgt, der Gesamtzustand hat sich nicht verbessert. Ein neuer teleintensivmedizinischer Termin für den nächsten Tag wird vereinbart. Mehr können die beiden Ärzte momentan nicht für den Mann tun.
Das Kamerabild wird schwarz. Das Kitzinger Patientenzimmer verschwindet von Steinkes Desktop. Bis morgen, bei der nächsten digitalen Visite.