Kann Technik Leben retten oder wie hilft ein Tablet beim Herzinfarkt? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Sebastian Dresbach täglich. Der 42-Jährige ist Geschäftsführer des Zentrums für Telemedizin in Bad Kissingen (ZTM). Die vom Bayerischen Staatsministerium geförderte Forschungseinrichtung entwickelt seit 2010 telemedizinische Versorgungskonzepte. Dresbach glaubt an die Vorteile der Digitalisierung, die auch vor der Medizin keinen Halt macht. Dennoch weiß der ehemalige Rettungsassistent, dass die Menschen noch nicht für jede Innovation bereit sind.
Herr Dresbach, was macht eine zukunftsorientierte Einrichtung wie das ZTM eigentlich in Bad Kissingen?
Sebastian Dresbach: Wir haben hier einen demografischen Status Quo, wie er in ganz Deutschland erst in einigen Jahren erwartet wird. Wir sind der Zeit also ein Stück voraus, da die Bevölkerung schon älter ist als anderswo. Das sind passende Rahmenbedingungen, gerade was chronische Erkrankungen angeht. Deren Behandlung kann man sehr gut telemedizinisch unterstützen. Die Region ist außerdem mit Dienstleistern, Pflegeheimen, Ärzten und Kliniken gespickt. Die Modellregion Rhön ist unsere "Hexenküche", wir können die Telemedizin hier gut vorantreiben. Das hat sich weltweit herumgesprochen.
- Lesen Sie auch: Wie ein Roboter die Tagespflege aufmischt
Was genau kann man sich unter Telemedizin vorstellen?
Dresbach: Die Telemedizin setzt überall an, wo Medizin praktiziert wird. Immer mit der Frage: Wo kann Digitalisierung sinnvoll sein? Wenn man einen Laien nach Telemedizin fragt, sagt er meistens: Der Arzt auf der Mattscheibe. Die Videokommunikation ist aber nur eine Anwendung von vielen. Es geht um digitale Vernetzung. Beispielsweise wenn Ärzte ihre Praxisangestellten zu Hausbesuchen schicken. Diese fahren mit entsprechender Technik zu Patienten und können sich vor Ort mit dem Arzt, der in der Praxis geblieben ist, austauschen. Vitalzeichen oder Bilder von Verletzungen können analysiert werden, ohne dass der Arzt beim Patienten ist. So werden Ressourcen gespart. Der direkte Kontakt bleibt wichtig, ist aber nicht immer nötig.
Werden immer Ressourcen gespart oder führt die Technisierung auch zu neuen Problemen?
Dresbach: Natürlich gibt es Dinge, die die Menschheit nicht braucht. Wenn sich ein Arzt in drei verschiedene Systeme einloggen muss, mit drei verschiedenen Passwörtern, dann ist die Anwendung sinnlos. Wenn sich meine Oma alleine ein kompliziertes EKG anlegen soll, dann merken wir, dass die Reise der Telemedizin nicht zum Ziel führt. Anders sieht es bei ärztlicher Expertise aus. Ein Krankenhaus kann sich die Meinung eines Spezialisten einholen, auch wenn dieser am anderen Ende der Welt sitzt. Telemedizin kann auch bedeuten, dass Patienten online Termine ausmachen oder den Anamnesebogen digital ausfüllen.
Wie wird die Telemedizin im Rettungsdienst eingesetzt?
Dresbach: In keinem anderen Bereich ist sie so verbreitet, wie im Rettungsdienst. Es geht um Vernetzung der Einsatzkräfte mit den Kliniken. Der Rettungsdienst am Unfallort kann über ein Tablet Daten vorab an das Krankenhaus schicken und die spätere Übergabe des Patienten optimieren. Gerade zeitkritische Patienten können durch das Wissen, welches die Klinik vorab erlangt, wesentlich schneller richtig behandelt werden. Ein Beispiel: Wenn ich das EKG-Bild eines akuten Herzinfarktpatienten in die Klinik schicke, kann sie sich besser vorbereiten. In Unterfranken sind fast alle relevanten Akutkliniken mit dieser Technik ausgestattet. Insgesamt sind über 160 Kliniken angebunden. Wir haben auch Anwendungen in der Schweiz, Österreich und demnächst in Shanghai.
Ist die Telemedizin die Zukunft des Gesundheitsbereichs?
Dresbach: Wenn wir das medizinische Versorgungsniveau erhalten wollen, müssen wir uns öffnen. Blicken wir auf den Fachkräftemangel. Ärztlich und pflegerisch. Wir müssen das Personal, welches noch da ist, durch die Digitalisierung entlasten. Leider ist Telemedizin in vielen Bereichen noch nicht etabliert. Wenn ich in Ausland zum Zahnarzt gehe, finde ich es skandalös, dass ich ihm nicht die Röntgenaufnahmen meines heimischen Zahnarztes zeigen kann. Wir brauchen in Zukunft ein Gesundheitskonto, in dem wir all unsere Daten speichern können. Denn ich kann mir nicht merken, was ich vor 30 Jahren alles hatte. Der Datenschutz ist dabei natürlich ein wichtiges Thema.
- Lesen Sie auch: Was ist geplant und wie funktioniert Telemedizin?
Mit welchen Entwicklungen rechnen Sie in Zukunft?
Dresbach: In der Forschung erleben wir verrückte Dinge, bei denen man sich fragt, ob die Menschheit schon bereit ist. Denken wir an Implantate. Wir scannen an jeder Supermarktkasse die Ware. Es gibt auch Kontaktlinsen, die sich scannen lassen und dadurch Digitalparameter, wie den Blutzuckerwert, ableiten können. Implantate, die Parameter aus dem Körper senden. Ich will nicht ausschließen, dass der Rettungsdienst in ein paar Jahren die Scannerpistole rausholt und sofort weiß, wie es dem Patienten geht. Aber man muss alles auch hinterfragen.
Das klingt nach Hightech und Science Fiction: Ist die Menschheit schon bereit dafür?
Dresbach: Sicher nicht für alles. Es gibt bereits heute Forscher, die Maschinen mit ihren Gedanken steuern, indem Elektroden am Kopf befestigt werden. Das ist natürlich Wahnsinn für jeden Querschnittsgelähmten. Die Menschheit ist vielleicht noch nicht bereit dafür. Aber das kommt. Bei der Mondlandung vor 50 Jahren war ein Computer, der für die Navigation der Raumflüge genutzt wurde, so groß und schwer wie zwei Bierkästen. Heutige Smartphones haben millionenfach mehr Speicherkapazität und jeder kann sich denken, wo das hinführt.
Klingt das nicht auch beängstigend, gerade im Gesundheitsbereich?
Dresbach: Hätte vor 30 Jahren jemand gesagt, dass wir mit Smartphones einkaufen und Reisen buchen, hätte jeder von Science Fiction gesprochen. Das ist heute Normalität. Gerade im medizinischen Seniorenbereich gilt: Die besten Systeme sind die, die gar nicht bemerkt werden. Da gibt es beispielsweise Sensoren in Wohnungen, die erkennen, wenn der Bewohner gestürzt ist oder wenn er unnormal lange im Badezimmer bleibt. In solchen Fällen werden automatisch die Pflegeeinrichtungen alarmiert. Oder auch Systeme in Pflegeheimen, die die Schwestern über das Handy informieren, wenn ein Patient versucht, aufzustehen. Es geht darum, Prozesse zu optimieren. Wir wollen und können niemanden ersetzen. Die Digitalisierung soll das Gesundheitssystem entlasten, den Notstand kompensieren. Und niemanden verängstigen.