Am frühen Morgen des 5. Septembers 1972 ist Bundeswehrsoldat Georg Eichhorn mit seinem Kameraden Werner Egner auf einem Patrouillengang im zweiten Stock eines Studiogebäudes im Deutschen Olympiazentrum (DOZ) in München, als draußen plötzlich Schüsse fallen.
Die beiden erstarren - und stürzen dann zum Fenster. "Es war dunkel, wir haben die Schüsse gehört", erinnert sich Georg Eichhorn. "Wir haben die gesehen, schemenhaft, weil innen Licht war. Und da hat man gesehen, dass die Masken aufgehabt haben und Gewehre trugen." Auch 50 Jahre nach dem Anschlag hat der 72-Jährige aus Marktbreit (Lkr. Kitzingen) noch genau das Bild dieses Moments vor Augen. Der "heitere Charakter" der Olympischen Sommerspiele in München war mit diesem Moment, diesen Schüssen, abrupt zu Ende.
Georg Eichhorn sah die Terroristen der Gruppe "Schwarzer September"
Die acht bewaffneten Männer, von denen Eichhorn einige auf dem Balkon eines gegenüberliegenden, etwa 100 Meter entfernten Appartementgebäudes ausmachen kann, sind Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation "Schwarzer September".
Kurz zuvor, um 4.35 Uhr, haben sie das Wohnquartier der olympischen Männermannschaft Israels überfallen und elf Geiseln genommen. Die Schüsse, die den jungen Soldaten 17 Minuten später aufschrecken lassen, treffen den Ringer-Trainer Mosche Weinberg und den Gewichtheber Josef Romano. Sie hatten versucht, sich zur Wehr zu setzen. Weinberg ist sofort tot, Romano verblutet in den folgenden zwei Stunden vor den Augen seiner Mannschaftskameraden, weil die Terroristen keinen Arzt in das Gebäude lassen.
"Wir haben noch gesehen, wie dort Terroristen mit ihren Masken herausgeschaut haben aus dem Haus – aber dann wurde schon alles abgeriegelt", beschreibt der gebür seine letzten Eindrücke vom Gelände, das die Polizei sofort weiträumig absperrte.
"Wir sollten dann zurück ins Deutsche Olympiazentrum und unseren Dienst verrichten", erzählt der 72-Jährige im Rückblick. "Auch um diese Uhrzeit waren ja die Studios einiger Länder noch besetzt und wir mussten weiterhin Journalisten einweisen." Genau darin bestand die Hauptaufgabe des Grundwehrdienstleistenden aus Unterfranken, der wie zahlreiche Kameraden bei den Münchener Sommerspielen - unbewaffnet und ohne militärische Uniform - Hilfsdienste im Olympiastadion und anderen Sportstätten oder eben im DOZ verrichtete.
Auch auf ihren Patrouillengängen seien sie lediglich mit einem Funkgerät ausgestattet gewesen, schildert Eichhorn. Es galt dafür zu sorgen, dass Journalistinnen, Journalisten und auch Sportprominenz wie etwa der neunmalige Goldmedaillengewinner Mark Spitz aus den USA oder die deutsche Überraschungssiegerin Ulrike Meyfarth ihren Weg in die Aufnahmestudios fanden.
Ein militärisches Eingreifen der Bundeswehr verbietet das Grundgesetz
Die Bundeswehrsoldaten leisteten auf diese Weise nichtmilitärische Amtshilfe. An ein bewaffnetes Eingreifen war auch nach den Schüssen nicht zu denken - das verbietet das Grundgesetz. "Dass wir oder andere Kameraden da mit Waffen eingegriffen hätten, das war der Bundeswehr untersagt", sagt der gelernte Fahrzeugbauer. "Die Polizei hat sofort übernommen."
Der fatale Verlauf des Anschlags, dem am Tag danach auch die weiteren neun Geiseln und ein Polizist zum Opfer fielen, bekümmert den gebürtigen Marktbreiter heute noch. Eichhorn spricht von einer "Erniedrigung" für ganz Deutschland - und von einer schlimmen Enttäuschung für sich selbst: "Das war natürlich ein Schlag ins Kontor. Du hast das mitgestaltet und dann bricht das ab, weil da so politischer Schmarrn im Hintergrund steht."
Die Moral unter den Helferinnen und Helfern, die zuvor wie eine große Familie am Gelingen der Spiele gearbeitet hätten, sei in diesem Moment zusammengebrochen: "Das Schöne, das wir da gehabt haben, die Fröhlichkeit, das Lachen – das war alles weg. Jeder hat nur noch traurig geschaut und war betroffen. Das war tagelang so."
Ein tiefer Einschnitt für alle Beteiligten. Die "heiteren Spiele" als Gegenstück zur Olympiade der Nationalsozialisten 1936 in Berlin seien nicht nur propagiert, sondern auch wirklich gelebt worden, so schildert es Eichhorn: "Wirklich jeder ist mit einem lachenden Auge über das Gelände gelaufen, egal ob das in der Halle war oder im Stadion – es war nur ein Lachen."
Dass er sich gerne an seine 15 Monate bei der Bundeswehr zurückerinnert - es hängt neben dem Zusammenhalt, den er dort erfahren habe, trotz allem im Wesentlichen mit seinem Einsatz bei den Spielen zusammen, sagt Eichhorn. Ein Erlebnis, das nicht nur er als Privileg empfunden habe: "Jeder hat sich gefreut, dass wir da teilnehmen durften. Das kriegst du in deinem Leben nie mehr geboten."
Doch daran erinnert niemand.
Mit freundlichen Grüßen
Der Autor