An zwei markante Bilder vom Blutvergießen bei den Olympischen Spielen 1972 in München erinnert man sich noch nach 45 Jahren: Eines zeigt einen maskierten Terroristen, der von einem Balkon aus seine Forderungen dem Innenminister Hans Dietrich Genscher unten auf dem Platz zuruft. Das zweite entstand am Morgen darauf: Das Wrack eines gesprengten Hubschraubers in Fürstenfeldbruck kündet im Morgengrauen von der missglückten Befreiungsaktion.
Teil des Dramas
Der Würzburger Professor Peter Sefrin erinnert sich vor allem an das erste Bild von dem Terroristen auf dem Balkon: Kein Wunder, der damals 31-jährige Notarzt stand nur wenige Meter dahinter, erlebte einen großen Teil des Dramas aus der Nähe mit. An jenem Tag blickte schier die ganze Welt auf Genscher und seine Überzeugungskunst im Olympischen Dorf. Kameras hielten das aus weiter Entfernung grobkörnig fest, für den Notarzt daneben zeigten sie kein Interesse.
Genschers Verhandlungen
Aber Sefrin stand daneben, als Genscher nach den Verhandlungen zurückkam und sich mit dem Münchner Polizeipräsidenten Manfred Schreiber beriet. Der junge Notarzt rechnete mit seinem Einsatz, als sich Münchner Polizisten auf die Erstürmung des Hauses vorbereiteten. Und er kauerte – nachdem das abgeblasen worden war – mit anderen Einsatzkräften Stunden später hinter einer Betonsäule in der Nähe des Geiselhauses, als die Terroristen mit ihren Geiseln in den Bus zum Flughafen stiegen.
300 Ärzte bei Olympia im Einsatz
„Als sie abgefahren waren, atmeten wir nach den vielen Stunden der Anspannung erst einmal auf, dass es nicht zu dem befürchteten Blutvergießen gekommen war,“ erinnert sich der heute 76-Jährige. Sefrin ahnte in dem Moment nicht, welchen Verlauf der Abend in Fürstenfeldbruck noch nehmen sollte.
Ihn schüttelt es, wenn er an jene Ereignisse zurückdenkt. Damit hatte er – damals noch nicht der bundesweit bekannte Würzburger „Vater der Notärzte“, sondern ein unbekannter junger Mediziner – nie gerechnet, als er sich 1972 freiwillig zum Einsatz für die Olympischen Spiele beworben hatte. Aus Tausenden von Bewerbern wurden damals 300 Ärzte ausgewählt, die teilweise in Bundeswehr-Kasernen untergebracht waren – und Sportler, Trainer und Zuschauer betreuen sollten.
Sperrgürtel der Polizei
Sefrin hat aus seinem Archiv einen alten Aufsatz für die Deutsche Krankenpflegezeitschrift ausgegraben. Darin hatte er im Dezember 1972 über Aufgaben und Erfahrungen berichtet – und dabei (nur Monate nach dem Attentat) geflissentlich verschwiegen, wie nah er selbst zeitweise an den Ereignissen war.
„Um das gesamte Olympische Dorf, direkt am Sperrgürtel der Polizei, stand ein Ring von Rettungswagen bereit,“ schrieb er – und ganz unpersönlich: „Insgesamt waren am Ort des Geschehens drei Ärzte von morgens bis in die späte Nacht bereit, um sofort helfend eingreifen zu können.“ Dass er selbst dabei war – darüber verlor er kein Wort.
„Nachdem das erste Ultimatum um 12 Uhr abgelaufen war, wurde den Sanitätskräften klar, dass es wahrscheinlich nicht ohne Blutvergießen abgehen wurde,“ heißt es in seinem Aufsatz. Scharfschützen schraubten Zielfernrohre auf, Maschinenpistolen wurden an die Beamten ausgegeben, die das Haus stürmen sollten: „Die Stimmung war gedrückt, und bei vielen war deutlich die Angst erkennbar.“
Heute wird er in der Erinnerung deutlicher: „Bei den Polizisten waren schon Typen dabei, die mir halb schnoddrig, halb ängstlich zuriefen: Doc, nummerieren Sie mal unsere Knochen, damit Sie uns hinterher wieder zusammenflicken können“.
Scharfschützen im Einsatz
Die Erstürmung wurde abgeblasen. Doch dann postierte man Scharfschützen nahe dem dem Eingang, als bekannt wurde, dass die Geiselnehmer mit den israelischen Sportlern das Haus verlassen wollten. Polizisten, Sanitäter und Notarzt kauerten hinter Betonsäulen, „die Spannung war auf ihrem Höhepunkt angelangt,“ schrieb er für die Zeitschrift. Doch der Anführer der Palästinenser erkannte die Gefahr, forderte und bekam einen Bus. Mit dessen Abfahrt war Sefrins Dienst an jenem Tag im Olympischen Dorf in München zu Ende. Erschöpft von den vielen Stunden der Anspannung stieg er gegen Abend in seinen Wagen, um nach Hause zu fahren. Auf dem Weg hielt er an einer öffentlichen Telefonzelle, erzählte seiner Frau vom scheinbar guten Ende seines Einsatzes.
Schreckliche Wahrheit: Alle Geiseln tot
Jäh erfuhr er von ihr die schreckliche Wahrheit über das blutige Ende der Geiselnahme beim Befreiungsversuch in Fürstenfeldbruck: „Ich rief ungläubig ins Telefon: Wie – die sind alle tot?“ Hinterher fühlte er eine tiefe Niedergeschlagenheit. „Man hatte den Eindruck: Es war alles umsonst“.
Die Olympischen Spiele hatten auch für ihn ihre Heiterkeit verloren, obwohl er weiterhin seinen Dienst versah – und in dem Aufsatz vier Monate später lobend vermerkte: „Die großzügige Organisation des Olympia-Sanitätsdienstes erwies sich im Nachhinein als unbedingt notwendig.“
Sefrin macht klar, welchen Einschnitt die Ereignisse für seinen Beruf bedeuteten: „Das war für uns eine völlig neue Form von Einsatz“, erinnert er. „Wir waren zuvor auch schon zum Beispiel bei Autorennen im Einsatz gewesen, wo etwas passieren konnte. Aber hier war erstmals ernsthaft zu befürchten: Das geht nicht ohne Tote ab.“
Auch heute will der (mit 76 Jahren noch aktive) Notarzt nicht seine Rolle in den Vordergrund rücken. Aber er will die Arbeit der 3200 Helfer im Sanitätsdienst gewürdigt wissen: „Wenn jetzt eine Gedenkstätte eingeweiht wird, sollte sie nicht nur an die Opfer erinnern, sondern auch an die vielen Einsatzkräfte, die dort ihr bestes gaben.“
Das Olympia-Attentat von 1972 in München
Die Olympischen Spiele 1972 in München sollten nach dem Versprechen der Gastgeber heitere Spiele werden und das Verhältnis Deutschlands zur Welt 27 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs weiter normalisieren. Doch nach dem 5. September wurden die bis dahin heiteren Spiele zu einem Albtraum, an dem das Versagen der Polizei einen großen Anteil hatte. Von einem „erschütternden Dokument deutscher Unfähigkeit“ sprach Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) in den Tagen nach dem Attentat. Es hatte Warnungen vor einem Anschlag gegeben, diese waren aber nicht ernst genommen worden, das Sicherheitskonzept war entsprechend ungeeignet.
Geiselnahme im Morgengrauen
Am frühen Morgen des 5. September 1972 kletterten acht Kommandomitglieder der palästinensischen Gruppierung „Schwarzer September“ über den Zaun ins Olympischen Dorf. In kurzer Zeit brachte die Gruppe elf israelische Sportler in ihre Gewalt, zwei töteten sie zu Beginn der Geiselnahme. Sie verlangten, 234 in Israel inhaftierte Palästinenser sowie die deutschen RAF-Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof freizulassen. Die Forderung wurde von Israel zurückgewiesen. Nach einer stundenlangen Belagerung ließen sich die Terroristen am Abend des 5.
September mit den Geiseln in Hubschraubern zum Flughafen Fürstenfeldbruck fliegen. Eigentlich sollten sie dort in einer zum Schein für sie zum Ausfliegen bereit gestellten Boeing überwältigt werden. Doch als die Palästinenser die Maschine betraten, war sie leer. Stattdessen sollten Scharfschützen die Terroristen ausschalten. Trotz des langen Vorlaufs waren aber nur fünf Scharfschützen postiert worden, obwohl es acht Geiselnehmer gab.
Drama am Flugplatz Fürstenfeldbruck
Als wenige Minuten nach 22.30 Uhr der Befehl „Feuer frei“ erging, war dies das Todesurteil für die Geiseln: Zwar starben im Verlauf des folgenden stundenlangen Feuergefechts fünf Terroristen, doch die Ermordung aller neun israelischen Sportler durch das Terrorkommando konnte die Polizei nicht verhindern. Auch ein deutscher Polizist wurde bei dem Einsatz getötet.
Von den deutschen Sicherheitsbehörden wurde kein Verantwortlicher für das Fiasko zur Rechenschaft gezogen. Als Konsequenz wurde unmittelbar darauf die Eliteeinheit GSG 9 geschaffen. Die überlebenden drei Terroristen wurden nicht einmal zwei Monate nach dem Anschlag durch eine Flugzeugentführung aus deutscher Haft freigepresst. Israel reagierte mit Racheakten: Zwei der drei Attentäter von München wurden vom Geheimdienst Mossad getötet, dazu mindestens zwölf weitere angeblich an der Planung beteiligte Palästinenser. Der Nahost-Konflikt erreichte eine neue Eskalationsstufe. Damit gelten die Spiele von München auch als die Spiele, bei denen das Sportereignis seinen unbeschwerten Charakter verlor. Nach nur einem Tag Unterbrechung gingen die Wettkämpfe weiter. Der damalige Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, Avery Brundage, sprach einen Satz, der heute als der bekannteste und zugleich umstrittenste der Sportgeschichte gilt: „The games must go on.“ – „Die Spiele müssen weitergehen.“
Gedenkstätte in München wird eröffnet
45 Jahre nach dem Münchner Olympia-Attentat von 1972 wird am Mittwoch ein Erinnerungsort für die elf getöteten israelischen Sportler und einen getöteten bayerischen Polizisten eröffnet. Für jedes der zwölf Opfer gibt es an dem Denkmal im Olympiapark eine Tafel mit Fotos und Informationen, an der der Lebenslauf dokumentiert ist. „Einschnitt“, wie der Erinnerungsort heißt, hat 2,35 Millionen Euro gekostet und wurde unter anderem vom Freistaat, Bund, der Stadt München und dem Internationalen Olympische Komitee finanziert. (Text: AFP/dpa)