
Nach den Bomben kamen die Plünderer: Das Würzburger Martin von Wagner Museum hat nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die größten Verluste aller deutschen Museen durch Kunstraub in der amerikanischen Besatzungszone erlitten. Zwar konnten Teile der Sammlung schon 1946 sichergestellt werden, manches aber blieb verschollen bis heute.
Ein Großteil der grafischen Sammlung des Würzburger Universitätsmuseums hat die Bombenangriffe in den Tresoren zweier Würzburger Banken überstanden. Der schriftliche Nachlass des Namensgebers Martin von Wagner (1777-1858) aber, ein riesiges Konvolut aus 9000 Briefen und Manuskripten sowie 3300 Zeichnungen, war ins Amtsgericht Aub im Landkreis Würzburg gebracht und dort nicht richtig bewacht worden.

Zu Wagners Nachlass gehörten Alben mit Skizzen und Zeichnungen von bedeutenden Künstlern wie Giambattista Tiepolo (1696-1770) und dessen Mitarbeiter Georg Anton Urlaub (1713-1759). 34 dieser Alben verschwanden kurz nach dem Krieg, vermutlich haben US-Soldaten sie an sich genommen. Das zumindest legt ein erster Teilerfolg bei der Rückgewinnung im Jahr 1970 nahe: Da bot H. Daniel Morgan, ein Reverend aus Kilgore in Texas, bei Sotheby's in London ein Album mit 76 Zeichnungen von Georg Anton Urlaub an.

Das Auktionshaus verständigte geistesgegenwärtig das Würzburger Institut für Kunstgeschichte. Und Morgan erklärte sich bereit, das Album gegen Erstattung seiner Auslagen zurückzugeben. Bei der Übergabe im April 1971 in London erlebte der damalige Würzburger Lehrstuhlinhaber und Museumsvorstand Prof. Herbert Siebenhüner eine Überraschung: "Reverend Morgan brachte nicht nur das Urlaub-Album mit, sondern unverhoffterweise vier weitere Alben mit Zeichnungen von Johann Wolfgang van der Auwera und Martin von Wagner", berichtet Damian Dombrowski, der Direktor der Neueren Abteilung des Martin von Wagner Museums.
Eine folgenreiche Entdeckung im Lesesaal des Ansbacher Markgrafenmuseums
Wie aus den Akten des Museums hervorgeht, gab Morgan an, die fünf Skizzenbücher im Sommer 1945 während seines Dienstes als Feldkaplan von einem US-Soldaten auf einem Schloss im hessischen Schlüchtern erhalten zu haben. Mit dem Verkauf der Bücher wollte er 1970 offenbar eine Krebsbehandlung finanzieren. Für die Rückgabe erhielt er vom Museum eine "Belohnung" von 1200 Mark, was wohl zwei Prozent des Schätzpreises der Zeichnungen entsprach, so Dombrowski.

29 Alben blieben verschollen. Doch seit 6. Dezember 2023 sind es nur noch 28: Denn an diesem Tag kehrte ein weiteres Skizzenbuch nach Würzburg zurück. Der Privatgelehrte Wolfgang Kümper hatte es im Markgrafenmuseum Ansbach entdeckt.
Kümper war 35 Jahre lang als Landarzt in Thüngersheim (Lkr. Würzburg) tätig. Neben der Medizin hatte er außerdem ein Studium der Kunstgeschichte absolviert und über die Jahre kontinuierlich geforscht und publiziert - etwa über den flämischen Würzburger Hofmaler Oswald Onghers (1628-1706) oder die Künstlerdynastie Urlaub, die aus Thüngersheim stammt.
Der 81-Jährige war eigentlich dabei gewesen, über Georg Anton Abraham Urlaub (1744-1788) zu forschen, einem Neffen des berühmteren Georg Anton und seinerseits Hofmaler in Ansbach. Im Lesersaal des dortigen Markgrafenmuseums stieß er auf ein Skizzenbuch, von dem man annahm, dass es Zeichnungen Georg Anton Abrahams enthielt. Es war allerdings mit einem Stempel gekennzeichnet, der in eine andere Richtung wies: "Kgl. Universität Würzburg, M.v.Wagnersche Sammlung".

Schnell war Wolfgang Kümper klar: Es musste sich um eines der verschollenen Würzburger Alben handeln. Tatsächlich ist es als "WS 133" in den alten Inventaren des Martin von Wagner Museums verzeichnet. Der Forscher verständigte die Universität, die wiederum ihr Justiziariat einschaltete. Als "widerrechtlich angeeignetes Kulturgut" fand das Album schließlich aus Ansbach seinen Weg zurück nach Würzburg - diesmal ohne jegliche Zahlung.
Angeblich gelangte das Album als Dämmmaterial bei einem Umzug nach Ansbach
Doch wie war das Album nach Ansbach gekommen? Ansbacher Privatleute hatten es bei einem Kunsthändler eingereicht, der es den Experten im Markgrafenmuseum zur Ansicht überließ, wo es schließlich Wolfgang Kümper entdeckte. Nach Darstellung der Privatleute war es 1945 als Dämmmaterial bei einem Umzug eines Verwandten von München nach Ansbach gelangt.

Kümper widerlegte die Zuschreibung der Zeichnungen - und formulierte eine neue. Martin von Wagner hatte eigenhändig "Handzeichnungen vom jüngeren Urlaub" auf den Deckel des Albums geschrieben. Georg Anton Abraham konnte laut Kümper damit nicht gemeint sein, denn der hatte nie in Würzburg gewirkt. Georg Anton, in der Literatur vielfach als "Vater Urlaub" bezeichnet, als der "ältere" auch nicht. Blieb nur Johannes Andreas Urlaub (1735-1781), ein 22 Jahre jüngerer Cousin Georg Antons. Dieser war Lehrling bei Franz Ignaz Roth (1697-1757), seinerseits ebenfalls Hofmaler in Würzburg und - wie Georg Anton Urlaub - Vertrauter von Giambattista Tiepolo.
Für die Forschenden sind Alben wie "WS 133" wertvoller als Originalzeichnungen
"Für uns Forschende ist ein solches Album wertvoller als eine Originalzeichnung von Giambattista Tiepolo", sagt Kunsthistoriker Damian Dombrowski. Denn der Inhalt gewähre einen direkten Blick in die vorzüglich organisierte Würzburger Werkstatt Tiepolos. Es sei Usus gewesen, dass führende Mitglieder der Werkstatt Originalzeichnungen des Meisters kopieren durften. In einer Zeit, in der noch kein Urheberrecht existierte, stellten solche Bilder ein exklusives Reservoir an Motiven und Kompositionen und damit einen beträchtlichen wirtschaftlichen Wert dar, sagt Dombrowski.
Es kam also vor, dass Tiepolos Sohn Giandomenico eine Zeichnung seines Vaters kopierte, das Ergebnis dann Georg Anton Urlaub zum Abzeichnen überließ, der seine Version wiederum seinem Cousin Johannes Andreas zum aktiven Studium, zum Abzeichnen gab. Dombrowski und Kümper können diese künstlerische "stille Post" an vielen Beispielen aus den Skizzenbüchern nachweisen.

Und sie stellen dabei frühere Zuschreibungen infrage, widerlegen sie mitunter gar. Im direkten Vergleich zeigt sich, dass etwa ein weniger gelungenes Auge - ein "totes" Auge, wie Dombrowski sagt - nicht wie bislang angenommen, von Tiepolo selbst gezeichnet worden sein kann. Sondern von einem der weniger begnadeten Mitarbeiter stammt.
Skizzenbuch "WS 133" enthält noch 112 Zeichnungen. 24 fehlen, auch das lässt sich bei näherem Studium nachweisen. Was die drei Nummerierungen aus drei Epochen in Tusche, Rötel und Bleistift bedeuten, von wem welche Zeichnung stammt, ob Johannes Andreas sie alle in verschiedenen Stadien seiner Ausbildung geschaffen hat, ob eine Arbeit seines Cousins mit hineingerutscht ist oder ob Martin von Wagner später selbst einige beigesteuert hat - all das wollen die Forscher nun herausfinden.
Damian Dombrowski erhofft sich dabei neue Erkenntnisse zu Werkstatt und Entstehung von Giambattista Tiepolos bedeutendstem Werk und Würzburgs ganzem Stolz, dem großen Deckenfresko der Residenz. Wolfgang Kümper, der Urlaub-Experte, bereitet sich auf eine Menge Arbeit vor: "Das Album wirft weit mehr Fragen auf, als es beantwortet."
Termin-Tipp: Am Sonntag, 3. März, 1stellen Damian Dombrowski und Wolfgang Kümper um 11 Uhr in der Gemäldegalerie des Martin von Wagner Museums in der Residenz das Album "WS 133" der Öffentlichkeit vor.