Im Jahr 2004 feierte die Stadt Würzburg ihr 1300-jähriges Bestehen. Das Mainfränkische Museum - heute Museum für Franken - steuerte zum Festprogramm die Ausstellung "Tilman Riemenschneider - Werke seiner Blütezeit" mit vielen internationalen Leihgaben bei. Die "größte Riemenschneider-Ausstellung aller Zeiten", so ein Fernsehbeitrag damals.
Doch nun droht rückwirkend ein Schatten auf das Ereignis zu fallen. Denn in der Ausstellung war eine Madonna aus den USA zu sehen, die nach jüngsten Forschungen als Raubkunst einzuschätzen ist: Ihr ursprünglicher Besitzer, der jüdische Münchner Kunsthändler Siegfried Lämmle, musste sie 1936 unter Zwang an das Kunsthaus Böhler in München verkaufen.
Der Katalogeintrag der Riemenschneider-Ausstellung erwähnt den Namen Lämmle nicht
In Würzburg wurde die Figur, die seit 1940 dem Museum Dumbarton Oaks in Washington gehört, mit einem Katalogeintrag gezeigt, der den Namen Lämmle nicht erwähnt. Somit konnten Besucherinnen und Besucher keine Verbindung zum Thema Raubkunst erahnen.
Im Katalog steht: "Die Figur befand sich schon ca. 1910 bis 1935 im Kunsthandel; am 13. Februar 1937 wurde sie von Mr. und Mrs. Robert Wood Bliss, Washington D.C., gekauft."
Die damalige Museumsleiterin und Herausgeberin des Katalogs war Claudia Lichte – inzwischen im Ruhestand. Sie sieht sich fast 20 Jahre nach der Ausstellung einem Verdacht ausgesetzt: Haben die Autorinnen und Autoren bewusst die problematische Herkunft der Figur verschwiegen?
Geäußert wird der Verdacht in einer Ausgabe der ARD-Sendung "Titel Thesen Temperamente", die erstmals am 3. September 2023 ausgestrahlt wurde und in der Mediathek der ARD abrufbar ist.
Darin kommt der Provenienzforscher Willi Korte mit einer drastischen Einschätzung zu Wort: "Ich glaube, das wurde alles bewusst so präsentiert beziehungsweise weggelassen, um nicht schlafende Hunde zu wecken, was ich im Rückblick eigentlich nur als eine inakzeptable Verfälschung der Provenienz in Verbindung mit dieser Ausstellung sehen kann."
Statt vier Seiten standen im Würzburger Katalog der Riemenschneider-Ausstellung nur zwei zur Verfügung
Claudia Lichte, die in der Sendung nur mit einem schriftlichen Statement vorkommt, ist zum Gespräch mit dieser Redaktion bereit: "Den Vorwurf, ich hätte bewusst im Würzburger Katalog die Provenienz-Angaben zur Riemenschneider-Madonna aus Dumbarton Oaks gekürzt, weise ich entschieden zurück. Die Unterstellung, ich hätte damit etwas verschleiern wollen, hat mich auch persönlich sehr getroffen."
Die Angaben im Würzburger Katalog 2004 basierten auf den Informationen zu vorhergehenden Riemenschneider-Ausstellungen in Washington und New York, so Lichte. Doch anders als im amerikanischen Katalog von 1999/2000 hätten in der Würzburger Ausgabe statt vier Seiten nur zwei zur Verfügung gestanden.
"Also mussten wir an verschiedenen Stellen kürzen", so Claudia Lichte. "Wir waren ein dreiköpfiges Redaktionsteam, aber als Herausgeberin nehme ich das natürlich auf meine Kappe. So schwer es heute vorstellbar ist: Bei keinem von uns ist damals der Groschen gefallen, als der Name Lämmle fiel."
Das sei einfach noch kein Thema gewesen. "Der entscheidende Aufsatz in meinem Umfeld über den Münchner Kunsthändler Siegfried Lämmle und die von den Nationalsozialisten erzwungene Abgabe seiner Sammlung an den Kunsthändler Justus Böhler erschien 2005."
Autor Ulf Kalkreuth wirft in der ARD-Sendung die Frage auf, ob die Herkunftsabgaben bewusst verkürzt wurden, um zu verhindern, "dass die Raubkunst-Madonna bei der Ausfuhr aus Deutschland als national wertvolles Kulturgut beschlagnahmt" werde.
Die Aspekte Raubkunst und national wertvolle Kulturgüter, die in der Sendung derart verknüpft werden, sind, juristisch gesehen, zwei unterschiedliche Themen. Aber für eine Beschlagnahmung der Figur hätte es damals ohnehin keinerlei Rechtsgrundlage gegeben, sagt Jörg Meißner, der heutige Leiter des Museums für Franken. "Der Zoll hätte die Madonna auf jeden Fall durchwinken müssen."
Das Mainfränkische Museum in Würzburg bekam erst 2003 einen Internetanschluss
Den Verdacht, sie habe keine "schlafenden Hunde" wecken wollen, kann Claudia Lichte denn auch nicht nachvollziehen: "Wozu und wie soll ich das gemacht haben?" Als Leihvertrag und Zollpapiere in Washington ausgefertigt wurden, sei der Würzburger Ausstellungskatalog noch gar nicht erschienen gewesen. "Der kam erst auf den letzten Drücker zur Eröffnung am 24. März 2004 heraus."
Die Papiere seien auf Basis der Angaben von Dumbarton Oaks beziehungsweise von Kopien aus dem ausführlicheren amerikanischen Ausstellungskatalog von 1999/2000 entstanden.
Der Leihvertrag liegt heute im Museum für Franken. Einblick darin könne er nicht gewähren, sagt Museumsleiter Meißner. Derlei Dokumente seien zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der Beteiligten 30 Jahre lang gesperrt. Das Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst, Träger des Museums für Franken, lässt eine entsprechende Anfrage unbeantwortet.
Für eine Offenlegung bräuchte es zudem die Zustimmung des damaligen Vertragspartners, also des Museums Dumbarton Oaks, sagt Meißner. Das Museum in Washington antwortet auf Anfragen zur Madonna mit einem Verweis auf den eigenen Online-Katalog. Dort findet sich lediglich der Hinweis: "Wir führen weitere Forschungen zur Geschichte dieses Werks durch, mit besonderem Augenmerk auf die jüngsten Funde im Böhler-Archiv."
Aus heutiger Sicht würde ein Katalog wohl anders mit einem Raubkunst-Verdacht umgehen
Wie viel hätte man also bereits 2004 wissen können oder müssen? "Die Provenienzforschung war zur Zeit der Würzburger Ausstellung ein wissenschaftliches Spezialgebiet, das noch wenig mit der sonstigen Museumsarbeit und mit der kunsthistorischen Forschung vernetzt war", sagt Claudia Lichte. Besonders in kleineren Museen habe es keine Fachkompetenz gegeben.
Entsprechende Stellen seien erst in jüngster Zeit eingerichtet worden – im Museum für Franken etwa 2017. "Die Online-Datenbanken, in denen man heute recherchieren kann, gab es damals entweder noch nicht, oder sie waren wenig gefüllt", sagt Lichte. Das Mainfränkische Museum habe erst 2003 einen Internetanschluss bekommen.
"Natürlich würde ich aus heutiger Sicht den Katalogeintrag anders kürzen als damals", sagt Claudia Lichte. Der berechtigte Raubkunst-Verdacht müsse dringend geprüft werden. "Wir kennen die Aktenlage in den USA nicht, aber ich bin zuversichtlich, dass das dort sehr genau bearbeitet wird, und die legitimen Eigentümer zu ihrem Recht kommen werden."
Das mag sein, aber was sagt das aus?
Dieser Fall - die Nürnberger Rassegesetze sind ein Begriff ? - scheint derart eindeutig sein, dass die Verantwortlichen sich entweder an einer Täuschung beteiligten und gezielt wegsahen - oder schlicht selbst Opfer einer Täuschung wurden.
Das Schweigen des zuständigen Ministers Blume (CSU) auf die Anfragen lässt tief blicken, siehe Film.
Warum ist es eigentlich immer wieder Bayern, das derart in Erklärungsnot kommt, man denke nur an Cornelius Gurlitt?