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Würzburg/München
Würzburger Riemenschneider-Madonna ist eindeutig Raubkunst - Warum die Nazis dennoch leer ausgingen
Es begann mit einer alten Karteikarte. Sie gab den Hinweis auf den Verkauf eines Meisterwerks im Jahr 1936. Ein Kunstkrimi, der in die USA führt.
Dr. Stephan Klingen (links) und Prof. Dr. Christian Fuhrmeister, Provenienzforscher am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München, studieren Fotos der Riemenschneider-Madonna.
Foto: Susanne Spieler | Dr. Stephan Klingen (links) und Prof. Dr. Christian Fuhrmeister, Provenienzforscher am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München, studieren Fotos der Riemenschneider-Madonna.
Christine Jeske
 |  aktualisiert: 08.02.2024 10:20 Uhr

Bei Nazi-Raubkunst stehen meist deutsche Museen im Fokus. Im Fall einer Riemenschneider-Madonna nicht. Der Weg führt in ein Museum in den USA, zur "Madonna mit Kind", rund 95 Zentimeter groß, aus Lindenholz, geschaffen von Tilman Riemenschneider um 1521/22 in Würzburg.

Im Herbst 1935 tauchte die Figur in der Privatsammlung des jüdischen Kunsthändlers Siegfried Lämmle in München auf. Bis dahin war die Madonna Kunstexperten völlig unbekannt.

Seit 1940 gehört die Madonna zur Haussammlung des Dumbarton Oaks Museums der renommierten Harvard University. Und seit einiger Zeit ist klar, dass die Figur zu den vielen Kunstwerken zählt, die während der NS-Zeit nicht freiwillig, vielmehr in einer Notsituation den Besitzer wechselten. In diesem Fall erfolgte der Verkauf offenbar, um die Madonna dem NS-Zugriff zu entziehen.

2004 kehrte die Riemenschneider-Arbeit für kurze Zeit nach Deutschland zurück. Sie war ein herausragendes Exponat der Tilman-Riemenschneider-Ausstellung in Würzburg.

Vieles ist noch unklar. Wie kam sie in die USA? Welche Rolle spielt ein ominöser Inhaber eines Juwelier-Geschäfts? War bereits 2004 bekannt, dass es sich bei ihr um Raubkunst handeln könnte? Es ist eine vertrackte Geschichte. Sie beginnt mit einer Karteikarte.

Was ist bekannt zur Riemenschneider-Madonna – und wer hat die Geschichte entdeckt?

Ohne die detektivische, wissenschaftlich grundlegende Arbeit der Provenienzforscher am Zentralinstitut für Kunstgeschichte (ZI) in München, Dr. Stephan Klingen und Prof. Christian Fuhrmeister, wäre die Geschichte nicht ans Licht gekommen. Sie gehören zum Leitungsteam des Projekts "Böhler re:search". Seit 2017 untersuchen sie, unter anderen mit Mitteln des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste, Geschäftsunterlagen der Münchner Kunsthandlung Julius Böhler. Diese war auch während der NS-Zeit gut im Geschäft.

Vor zweieinhalb Jahren entdeckte Stephan Klingen eine Karteikarte, die sein Interesse weckte. Auf ihr ist vermerkt: Am 3. Januar 1936 erwarb Böhler eine Holzplastik Maria mit Kind von Riemenschneider von Siegfried Lämmle für 20.000 Mark. "Das Datum, der Verkäufer und der Käufer – alles lässt darauf schließen, dass das Geschäft vom Eigentümer der Madonna so nicht geplant war", sagt Klingen.

Karteikarte der Kunsthandlung Julius Böhler, München, über den Eingang bzw. Ankauf der  Holzplastik 'Madonna mit Kind' von Tilman Riemenschneider von Siegfried Lämmle.
Foto: ZI München, Archiv Julius Böhler, M_36-0001, S.1 | Karteikarte der Kunsthandlung Julius Böhler, München, über den Eingang bzw. Ankauf der  Holzplastik "Madonna mit Kind" von Tilman Riemenschneider von Siegfried Lämmle.

Wer war Siegfried Lämmle, der ursprüngliche Besitzer der Riemenschneider-Madonna?

Siegfried Lämmle wurde 1863 im schwäbischen Laupheim (Lkr. Biberach) in eine kinderreiche Familie hineingeboren. Berühmt ist sein jüngerer Bruder, der Filmpionier Carl Laemmle. Dieser ist früh in die USA ausgewandert, begründete 1912 in Los Angeles die Universal Studios und gilt als Erfinder Hollywoods.

Zuerst war Siegfried Lämmle im Weinhandel unterwegs. 1894 wechselte er in die Welt der Kunst und Antiquitäten. Seit Herbst 1935 war er verstärkt Nazi-Repressalien ausgesetzt. Im Februar 1938 meldete er seine Antiquitäten- und Kunsthandlung rückwirkend zum Juni 1937 ab.

Im September 1938 verließ er Deutschland und zog nach Los Angeles. Sohn Walter folgte ihm Ende 1938. Auch in den USA war Lämmle im Kunsthandel tätig, gründete die Laemmle Gallery. Sein Sohn führte sie bis 1993 weiter. 1953 ist Siegfried Lämmle gestorben.

Kunsthändler Siegfried Lämmle (links) besuchte 1926 seinen jüngeren Bruder Carl (rechts) in Los Angeles. Carl Laemmle war der Präsident der Universal Studios in Hollywood.
Foto: gemeinfrei | Kunsthändler Siegfried Lämmle (links) besuchte 1926 seinen jüngeren Bruder Carl (rechts) in Los Angeles. Carl Laemmle war der Präsident der Universal Studios in Hollywood.

Was ergaben die Recherchen der Provenienzforscher?

Klingen und Fuhrmeister machten sich aufgrund der Karteikarte auf die Suche nach der Holzplastik – und fanden sie auf der Seite des Dumbarton Oaks Museum als "Madonna mit Kind auf der Mondsichel". Sie informierten das Museum über die Quellen und ihre Bedeutung. Alles werde von den Anwälten der Institution geprüft, hieß es. "Danach war Funkstille", so Fuhrmeister.

Die Kunsthistoriker suchten weiter. Fündig wurden sie im Getty Research Institute in Los Angeles. Dort werden private und geschäftliche Unterlagen der Lämmles verwahrt, darunter ein Interview aus dem Jahr 1993 mit Lämmles Sohn Walter. "Mein Vater wollte die Madonna nie verkaufen", sagte Walter Lämmle, "er wurde zum Verkauf gezwungen".

Wie kam es dann doch zum Verkauf der Riemenschneider-Madonna?

Im August 1935 wurde dem damals über 70 Jahre alte Siegfried Lämmle durch die Reichskammer der bildenden Künste in Berlin quasi ein Berufsverbot erteilt. Sie sprach ihm und weiteren rund 40 jüdischen Händlern in München die Eignung ab, "an der Förderung deutscher Kultur" mitzuwirken. Innerhalb von nur vier Wochen sollten sie ihren Geschäftsbetrieb auflösen.
Lämmle protestierte. Vergebens. Er bekam lediglich einige Monate länger Zeit, sein Lebenswerk abzuwickeln und seine Ware zu Schleuderpreisen zu verkaufen – und hatte in dieser Zeit reichlich Besuch von kaufwilligen Museumsdirektoren. Seine Madonna ging jedoch andere Wege.

Welche Rolle spielen das Propagandaministerium und ein Museumsdirektor?

Hans Buchheit, Direktor des Bayerischen Nationalmuseums in München, sichtete im Auftrag der Reichskammer der bildenden Künste beziehungsweise des Propagandaministeriums die Bestände Lämmles und auch die private Sammlung. Er suchte Werke, die als nationales Kulturgut deklariert werden konnten. "Sicherstellung" lautete die Anordnung, Kunstraub war letztlich die Folge. Buchheit meldete die Riemenschneider-Madonna. Damit drohten Beschlagnahmung und Ausfuhrverbot. Zuvor jedoch zog die Madonna um rund 150 Meter weiter – vom Wohn- und Geschäftssitz Lämmles in die Kunsthandlung Böhler. Beide Kunsthändler hatten als noble Adresse die Brienner Straße.

Was passierte nach dem Verkauf der Riemenschneider-Madonna an Böhler?

Böhler verkaufte die Madonna am 25. März 1936 an den etwas undurchsichtigen Stuttgarter Schmuckhändler Rudolf Zinser, der viel in New York unterwegs war und dort mit Grafiken handelte. Das FBI hatte ihn schnell im Visier. Er stand im Verdacht, ein Nazi-Händler zu sein. Zudem fiel auf, dass er nur Bargeschäfte machte und immer dicke Bündel mit Geldscheinen in seiner Jacken- oder Hosentasche hatte. Kunden von Zinser berichteten dem FBI jedoch nie von einer Madonna, die er angeboten hätte.

Karteikarte der Münchner Kunsthandlung Julius Böhler über den Verkauf der Madonna von Tilman Riemenschneider an Rudolf Zinser am 25. März 1936. Vermerkt ist auch die Übergabe eines Fotos an den Riemenschneider-Experten Prof. Justus Bier. Er sollte ein Gutachten zur Madonna erstellen.
Foto: ZI München, Archiv Julius Böhler, M_36-0001, S.2 | Karteikarte der Münchner Kunsthandlung Julius Böhler über den Verkauf der Madonna von Tilman Riemenschneider an Rudolf Zinser am 25. März 1936.

Wie kam die Madonna in die USA?

Hat der umtriebige Juwelier Zinser die Riemenschneider-Figur über den Großen Teich geschafft? Das wissen die Münchner Forscher Klingen und Fuhrmeister nicht. Ein Weg wäre der über die Schweiz gewesen. In Luzern hatte ein Sohn Böhlers - Julius Wilhelm - ebenfalls eine Kunsthandlung. Aber dies ist für Klingen und Fuhrmeister Spekulation. Fakt ist: Nach dem Kauf der Madonna musste sie schnell außer Landes geschafft werden. Denn noch stand sie nicht offiziell auf der Nazi-Liste der nationalen Kulturgüter. Es war also ein Ziel, die Madonna den Nazis zu entziehen – und sicher auch, ein lukratives Geschäft zu machen.

Wie kam die Riemenschneider-Madonna nach Washington?

Laut Internet-Katalog des Dumbarton Oak Museums in Washington soll die Madonna Anfang 1937 in den Besitz des jüdischen Kunsthändlers Jacob Hirsch gelangt sein, der ebenfalls viel in den USA war. Seltsam ist: Der gebürtige Oberfranke (Altenkunstadt) handelte eigentlich vor allem mit Münzen, hatte unter anderem Geschäfte in München und in Genf und das Schweizer Bürgerrecht. Am 2. Februar 1937 verkaufte Hirsch den Angaben zufolge die Madonna dem Ehepaar Mildred und Robert Woods Bliss.

1940 brachte das Ehepaar sein Wohnhaus "Dumbarton Oaks" und seine Kunstwerke in eine Stiftung ein. Seither gehört die in Würzburg gefertigte Madonna zur Haussammlung des Museums, das von der Harvard University verwaltet wird. Obwohl im Internet unter anderem die Korrespondenz des Ehepaars Bliss mit ihren Geschäftspartnern dokumentiert ist, findet sich dort über den Verkauf durch Hirsch kein Beleg.

Wusste der ursprüngliche Besitzer Lämmle, dass seine Madonna in den USA ist?

Erst 1939 wurde den Lämmles bewusst, dass die Riemenschneider-Madonna in den USA gelandet ist. Sie wurde in der Ausstellung "Masterworks Of Five Centuries" in San Francisco ausgestellt. Dort entdeckte sie Walter Lämmle. Doch erst zehn Jahre später, 1949, reichte sein Vater ein Rückgabegesuch bei der Harvard University ein - und scheiterte.

Haben die Erben Lämmles noch Chancen auf eine Rückgabe der Riemenschneider-Madonna?

Das steht in den Sternen. Was die Nachfahren der Familie Lämmle unternehmen wollen, sei derzeit nicht absehbar, sagen Klingen und Fuhrmeister. Aber eine Restitution sei auch in den USA nicht mehr hoffnungslos. So hat im September die New Yorker Staatsanwaltschaft aus drei US-Museen Werke des österreichischen Künstlers Egon Schiele beschlagnahmen lassen. Sie gehörten einst zur Sammlung des Kabarettisten Fritz Grünbaum.

Fotokarte der Münchner Kunsthandlung Julius Böhler, auf der die Riemenschneider-Madonna abgebildet ist und diverse Hinweise vermerkt wurden, unter anderem die Gutachter und das Verkaufsdatum.
Foto: ZI München/Photothek, Archiv Julius Böhler, Fotomappe M_36-0001 | Fotokarte der Münchner Kunsthandlung Julius Böhler, auf der die Riemenschneider-Madonna abgebildet ist und diverse Hinweise vermerkt wurden, unter anderem die Gutachter und das Verkaufsdatum.

Welche Rolle spielte der fränkische Riemenschneider-Experte Justus Bier?

Der Riemenschneider-Experte Justus Bier erstellte unter anderem laut der Böhler-Karteikarte 1936 ein Gutachten zur Madonna. Es fiel euphorisch aus. Der Nachlass von Bier befindet sich in Würzburg auf dem Festungsberg im heutigen Museum für Franken.

Verdächtig ist: Justus Bier wurde von Böhler zu Stillschweigen verpflichtet - und hielt sich daran. Das bislang unbekannte Meisterwerk sollte offenkundig nicht in der Öffentlichkeit auftauchen. Erst sehr viel später hat er diese Madonna in sein Riemenschneider-Werkverzeichnis aufgenommen.

Was geschah mit den anderen Werken aus der Kunsthandlung Lämmle in München?

Nach seiner Emigration im September 1938 wurde das nicht verkaufte Kunsthandelsgut beschlagnahmt und bei Auktionen angeboten. Auch die Stücke, die Lämmle bereits für die Ausfuhr in die USA gepackt hatte.

Gab es bereits von deutschen Museen Rückgaben an die Lämmle-Erben?

Von deutschen Museen haben die Erben Siegfried Lämmles bereits einiges zurückerhalten. Etwa vom Münchner Stadtmuseum, Deutschen Theatermuseum in München, Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, Landesmuseum Württemberg in Stuttgart oder Badischen Landesmuseum in Karlsruhe. Noch zu Lebzeiten Siegfried Lämmles gab es Rückgaben vom Bayerischen Nationalmuseum.

 
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