Auf Bildern schaut er immer eher grimmig drein. Dabei war Martin von Wagner, geboren 1777 in Würzburg, gestorben 1858 in Rom, eine der einflussreichsten Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts. München verdankt ihm die Skulturensammlung Glyptothek und die Antikensammlung. In Würzburg ist eines der größten universitären Kunstmuseen nach ihm benannt. Er hatte der Universität 1857 seine Sammlung mit bedeutenden Kunstwerken aus Antike, Renaissance, Barock und auch seiner Zeit geschenkt – zum Dank dafür, dass er hier nie vertragsgemäß als Professor für Zeichenkunst antreten musste, sondern einen Großteil seines Lebens in Rom verbringen konnte.
Doch wer war der Künstler, Sammler und Kunstagent Ludwigs I. wirklich? Auf verschiedenen Wegen nähert sich die Universität Würzburg nun ihrem wichtigen Gönner an: mit akribischer Forschung, einer szenischen Lesung und einer großen Ausstellung im kommenden Jahr.
Martin von Wagners gesamter schriftlicher Nachlass liegt in Würzburg – 9000 Briefe und Manuskripte, 3300 Zeichnungen. Die Kunsthistorikerin Carolin Goll erforscht das gigantische Konvolut für ihre Promotion, die Wagners Bild von der Antike behandeln wird. Prof. Damian Dombrowski, Leiter der Neueren Abteilung des Martin von Wagner Museums der Universität Würzburg, sagt, niemand wisse mehr über Wagner als sie.
Martin von Wagner war weitaus vermögender als bisher bekannt
"Dank seiner Immobilienspekulationen war Martin von Wagner weitaus vermögender als wir dachten", berichtet Carolin Goll. Sie hat auf ihren Streifzügen durch Zeichnungen in verschiedenen Stadien der Fertigstellung, durch engbeschriebene Dokumente und Briefe, darunter etliche von König Ludwig I., einen versierten Geschäftsmann, begnadeten Netzwerker und großzügigen Mäzen kennengelernt, der längst nicht nur Kunst für den König einkaufte: "Er saß in Rom wie die Spinne im Netz. Alle deutschen Künstler, die nach Rom kamen, schauten bei ihm vorbei. Einigen hat er Geld geliehen."
Martin von Wagner war zeitlebens selbst als Künstler und Forscher tätig. Seine große Passion: die Antike. Sein monumentales Ölgemälde "Der Rat der Griechen vor Troja" von 1807 ist eines der Starstücke im nach ihm benannten Museum. Seine rund 700 Zeichnungen zu Homers "Ilias" entstanden in über 50 Jahren. Damian Dombrowski nennt sie "das größte Kunstwerk des 19. Jahrhunderts in Würzburg". Es sei die umfangreichste Bearbeitung Homers in der Bildenden Kunst überhaupt.
Liebe, Hass, Intrigen, Grausamkeit: Homers "Ilias" enthält alles, was ein gutes Drama braucht
Einige dieser Zeichnungen werden als Projektionen und somit quasi Bühnenbild Teil einer "szenischen Installation" unter dem Titel "Der Zorn des Achill" sein, die der freie Regisseur Georg Rootering entwickelt hat, und die am Freitag, 24. März (19 Uhr), Samstag, 25. März (19 Uhr) und Sonntag, 26. März (11 Uhr) im Toscanasaal der Residenz zu sehen sein wird (die ursprünglich jetzt für 11. bis 13. November geplanten Vorstellungen müssen krankheitsbedingt ausfallen). Rootering war von 1994 bis 1997 Oberspielleiter am Mainfranken Theater. Er hat den ersten Gesang der "Ilias" für die beiden Darstellenden Silvia-Maria Jung und Dimitri Stapfer eingerichtet und verspricht einen spannenden und vor allem sinnlichen Theaterabend: "Das wird alles sehr verständlich sein."
Tatsächlich ist die Geschichte von Homers "Ilias" einigermaßen kompliziert. Hat man sie aber einmal entwirrt, wird eines deutlich: Das mindestens 2700 Jahre alte Versepos enthält in Überfülle alles, was ein gutes Drama braucht – Liebe, Hass, übersteigertes Ehrgefühl, Machthunger und jede Menge Grausamkeit. Kurz: reichlich Stoff für Nachfolger von Shakespeare über Richard Wagner bis zu den Machern von "Game of Thrones". Und leider auch für reale Katastrophen, von Napoleon bis Putin.
Mit Agamemnon und Achill treffen zwei lupenreine Alphatiere aufeinander
Was also passiert in der "Ilias"? Agamemnon und Achill sind eigentlich Waffenbrüder. Sie belagern mit ihren griechischen Heeren seit neun Jahren gemeinsam Troja. Aber Agamemnon, der König, und Achill, der heldenhafte Halbgott, sind auch lupenreine Alphatiere. Über den Besitz einer Beutesklavin verkrachen sie sich so unwiderruflich, dass Achill aus den Kämpfen aussteigt, wohl wissend, dass ohne ihn nichts vorwärtsgehen wird. Die Götter, ethisch keineswegs integrer als die Menschen, schalten sich ein, es folgt ein Hin und Her mit sehr viel Intrige, Wut, Zorn und – natürlich – tragischem Ausgang.
Die Geschichte endet blutig, daran werden sich all die erinnern, die in der Schule mit Homer traktiert wurden: Achills geliebter Freund Patroklos stirbt in der Schlacht, Achill rächt ihn in einem Blutrausch, in dem er Hektor erschlägt und dessen Leichnam tagelang schändet.
Der Konflikt zwischen Agamemnon und Achill ist geprägt von toxischer Männlichkeit, wie man heute sagen würde. Vor allem aber von Achills unstillbarem Zorn über vermeintliche und tatsächliche Kränkungen. Damian Dombrowski sieht in diesem ungezügelten Ausleben irrationaler Leidenschaften – bis in jüngste Zeit überhöht als Heldentum – eine "Ursituation des Menschentums". Homer zeige eindrucksvoll und zeitlos, "wie das Unglück in die Welt kommt". Georg Rootering wiederum erkennt im Epos "die Grundlegungen unseres Fühlens und Handelns vor Jahrtausenden".
Homer war wohl der erste Autor überhaupt, dem es gelang, vor dem Hintergrund einer mythischen Handlung elementare menschliche Motivationen zu verhandeln. Anders gesagt: Was in der "Ilias" schiefgeht, geht in der Gegenwart aus denselben Gründen schief.
Die Ausstellung "Antike erfinden" zeigt, wie jede Zeit ihre eigene Sicht auf das Altertum schuf
Das Theaterprojekt hätte schon 2021 in Würzburg Premiere feiern und dann an zwei weiteren Spielorten stattfinden sollen, bekanntlich kam die Pandemie dazwischen. Nun bilden die Aufführungen in Würzburg den Abschluss des Projekts und gleichzeitig das "Prequel" (Dombrowski) für die große Martin-von-Wagner-Ausstellung "Antike erfinden" vom 25. März bis 25. Juni 2023, kuratiert von Carolin Goll und Damian Dombrowski.
Der Titel "Antike erfinden" ist selbsterklärend: Jedes Zeitalter hat sich sein eigenes Bild der Antike geschaffen. Ging man im Barock aneignend vor, versuchte man im Klassizismus, also in Wagners Zeit, erstmals wissenschaftlich vorzugehen. Freilich auch wieder durch die Brille dieser Zeit. Aus heutiger Sicht ist Achill kein Held, sondern ein narzisstischer Gewalttäter. Dass er jede Menge Nachahmer bis in die Gegenwart gefunden hat, zeigt die Zeitlosigkeit von Homers Einsichten nur umso deutlicher.
"Der Zorn des Achill": Szenische Lesung von Georg Rootering nach dem ersten Gesang von Homers "Ilias". Mit Silvia-Maria Jung und Dimitri Stapfer. Die für 11. bis 13. November geplanten Vorstellungen im Toscanasaal der Würzburger Residenz müssen wegen Krankheit auf Freitag, 24. März (19 Uhr), Samstag, 25. März (19 Uhr, und Sonntag, 26. März (11 Uhr) verschoben werden. Bereits erworbene Karten behalten ihre Gültigkeit oder können zurückgegeben werden. Weitere Informationen gibt es auf Anfrage unter mvw-museum@uni-wuerzburg.de.