US-Präsident Joe Biden hat Mitte September das Ende der Pandemie verkündet, in Deutschland sind Politik und Wissenschaft zurückhaltender. Denn sicher ist: Verschwinden wird das Virus nicht mehr und es tauchen immer wieder neue Varianten auf. Wie also kann ein normales Leben auch mit Corona aussehen und gelingen?
"Corona ist erst dann vorbei, wenn wir einen Winter ohne Kontaktbeschränkungen durchgekommen sind", sagt Prof. Lars Dölken. Der Leiter des Instituts für Virologie und Immunbiologie an der Uni Würzburg sieht zwei mögliche Zukunftsszenarien für Sars-CoV-2. Ein Gespräch über die Gefahr einer "Killervariante" und die Frage, wann die Isolationspflicht fallen kann.
Prof. Lars Dölken: Nein, das kann man so nicht sagen. Man muss sich aber über den Begriff "Pandemie" klar werden: Unter Pandemie versteht man die schnelle Ausbreitung einer Infektionskrankheit über Grenzen und Kontinente hinweg, also eine globale Bedrohung. In diesem Sinne, als alles überschattende Bedrohung, ist die Corona-Pandemie sicherlich vorbei und das Risiko erneuter Lockdowns ist weltweit massiv gesunken.
Dölken: Wir haben jetzt leider neben dem Influenzavirus ein zweites Virus, das jeden Einzelnen von uns bei zwischenmenschlichen Kontakten bedroht, da es relativ schwere Erkrankungen verursachen kann. Zudem ist das Risiko für Folgeschäden wie Long-Covid noch schlecht einschätzbar. Damit ist die Situation für den Einzelnen nicht unbedingt leichter geworden.
Dölken: Grundsätzlich gibt es dazu zwei Szenarien. Das erste basiert auf der Entwicklung der vier endemischen Coronaviren, die bereits vor Sars-CoV-2 vorhanden waren, und die hauptsächlich banale Schnupfen- und Erkältungssymptome auslösen. Auch diese Coronaviren sind irgendwann aus dem Tierreich auf die menschliche Bevölkerung übergegangen und wir haben uns damit arrangiert. Sie verursachen keine größeren Probleme mehr. Wie lange das gedauert hat, wissen wir nicht. Spätestens jedoch, wenn die heutigen Kleinkinder, die jetzt im jüngsten Alter schon Corona hatten, über 70 sind, haben wir wohl die gleiche Situation.
Dölken: So lange müssen wir natürlich nicht warten. Wir sehen ja aktuell schon eine viel bessere Situation als zu Beginn der Pandemie. Die Lage wird sich aller Voraussicht nach über die nächsten Jahre mit zunehmender Immunität in der Bevölkerung weiterhin kontinuierlich verbessern.
Dölken: Das würde bedeuten, dass Sars-CoV-2 uns wie das Influenzavirus begleitet. Dass es weiterhin Sommer- und Winterwellen gibt, man sich immer wieder anstecken kann und durchaus auch schwerer erkrankt. Bei diesem Szenario wird die Immunität ebenfalls steigen, es wird aber vermutlich weiterhin Menschen geben, die sich infizieren und sagen: So krank war ich noch nie in meinem Leben.
Dölken: Genau. Die Frage ist nur: Wie krank werden die Infizierten im Schnitt? Influenzaviren verursachen deutlich häufiger schwere Erkrankungen als zum Beispiel Rhinoviren. Unklar ist aktuell, wo sich Sars-CoV-2 einordnen wird. Am Anfang war Corona eine lebensbedrohliche Erkrankung, heute ist es nur noch eine stark belastende Infektion. Wenn man irgendwann sagen kann, eine Sars-CoV-2-Infektion ist nicht schlimmer als die meisten anderen grippalen Infekte – dann wäre sehr viel erreicht.
Dölken: Coronaviren haben sich bisher nicht wie Influenzaviren verhalten. Deshalb denke ich, die Chancen stehen ganz gut, dass sich auch Sars-CoV-2 anders als Influenzaviren und mehr wie die vier endemischen Coronaviren entwickeln wird. Aber das ist aktuell ein Blick in die Glaskugel.
Dölken: Generell besteht für respiratorische Viren ein Evolutionsdruck hin zu leichterer Übertragbarkeit von einer Person zur nächsten. Das heißt, es ist für diese Viren sinnvoller, sich im oberen Atemtrakt zu vermehren als tief in der Lunge, wo sie nur schlecht wieder rauskommen, aber deutlich mehr Schaden anrichten. Der Druck geht also hin zu leichteren Infektionen mit Schnupfen, Husten und Halsschmerzen. Sars-CoV-2 besitzt jedoch ein paar Dutzend virale Proteine. Jedes einzelne davon kann sich weiterentwickeln und besser an den Menschen anpassen – und auch auf diesem Weg die Vermehrungschancen des Virus verbessern. Das ist sicherlich in den letzten drei Jahren passiert. Wir sehen aber jetzt für Omikron auch erstmals, dass sich das Virus dahin entwickelt, mildere Erkrankungen auszulösen.
Dölken: Ich halte eine "Killervariante" für ziemlich unwahrscheinlich. Natürlich könnte diesen Winter noch mal eine etwas gefährlichere Variante aufkommen. Wir haben aber nach den beiden Omikron-Wellen eine viel größere Immunität in der Bevölkerung. Blickt man weiter in die Zukunft, dann ist es wahrscheinlicher, dass harmlosere Varianten entstehen und mit zunehmender Immunität der Bevölkerung das Problem kleiner wird.
Dölken: Ja. Nach meiner persönlichen Einschätzung war Sars-CoV-2 zu Beginn der Pandemie ungefähr 20 Mal gefährlicher als Influenza. Das lag natürlich auch an der komplett fehlenden Immunität gegen das Virus in der Bevölkerung. Wir haben jedoch durch die Impfungen und die hohen Infektionszahlen mit Omikron erheblichen Schutz gewonnen. Zudem hat sich mit der Omikron-Variante die Gefahr eines sehr schweren oder sogar tödlichen Verlaufs deutlich verringert. Aktuell würde ich sagen, die akute Gefährlichkeit des Coronavirus für den Einzelnen ist nicht mehr weit von der des Influenzavirus entfernt.
Dölken: Das ist ein Punkt der schwer einzuschätzen ist. Würde ich als Erwachsener mit 40 Jahren erstmals Influenza bekommen, würde "Long-Influenza" wahrscheinlich mit der gleichen Wahrscheinlichkeit auftreten wie bei Corona. Aber diese Situation gibt es nicht, jeder hatte bis zum 30. Lebensjahr schon zig Mal die Grippe. Langfristig wird also das Problem Long-Covid wohl abnehmen. Momentan aber gibt es noch viele offene Fragen.
Dölken: Wäre Corona vor 100 Jahren aufgetreten, wären die Gesundheitssysteme komplett überlastet worden, mit Millionen von Toten wie bei der Spanischen Grippe 1918. Wir hatten in den ersten Wellen 2020 und 2021 eine Inzidenz von 500, und es wurde bereits kritisch in unseren Krankenhäusern. Bei Omikron haben wir gesehen, dass Inzidenzen leicht in die Tausende gehen können. Wir hatten keine andere Wahl, als harte Maßnahmen zu ergreifen – auch wenn das einige Leute nicht wahrhaben wollten. Die gute Nachricht ist aber, dass die Inzidenzen nicht viel höher gehen können, als wir es in der ersten Omikron-Welle gesehen haben. Wenn eine Virusvariante mehr als zehn Prozent der Bevölkerung pro Woche infiziert, ist der Großteil der Menschen in wenigen Wochen gegen diese Variante immun. Trotzdem: Eine Übersterblichkeit gab es in Deutschland 2020 und 2021 nur aufgrund der harten Lockdowns nicht.
Dölken: Den nächsten Schritt hatte Herr Lauterbach bereits im Frühjahr vorgeschlagen – die Aufhebung der Isolationspflicht bei Corona. Es könnte aber ohne weiteres sein, dass die Influenzawelle diesen Winter schlimmer wird als Corona. Für Influenza besteht jedoch keine Isolationspflicht. Wichtiger als eine virusspezifische Isolationspflicht, die vielleicht nur von einem Viertel bis einem Drittel aller Infizierten umgesetzt wird, da die anderen von ihrer Infektion gar nichts wissen, wäre daher ein konsequentes Vermeiden von Kontakten bei grippalen Symptomen.
Dölken: Wenn wir nur Corona hätten, würde ich sagen: ja. In der Kombination mit einer drohenden schweren Influenzawelle, ist es aber wohl sinnvoller, hiermit noch zu warten. Wie der kommende Winter verläuft, wird wesentlich davon abhängen, ob und wie sehr Influenza- und Corona-Welle zusammentreffen. Sollten sich beide Wellen gleichzeitig aufbauen, wird es wohl in den Krankenhäusern erneut kritisch. Anders ausgedrückt: Corona ist erst dann vorbei, wenn wir einen ganzen Winter ohne Kontaktbeschränkungen durchgekommen sind. Dann kann beziehungsweise sollte wohl auch die Isolationspflicht für Corona fallen. Corona und Influenza wären dann gleichstellt.
Erkrankungen mit stärkeren Symptomen erhalten vom Arzt eine adäquate Behandlung und AUB. Eine Testung ist wieder nicht zwangsläufig nötig. Wenn getestet wird, dann mindestens auf Influenza und Corona während der „Saison“. Quarantäne kann im Einzelfall notwendig erscheinen.
Karl Lauterbach hat im Heutejournal am 23.10. bemerkenswert richtig kritisiert, dass ein erheblicher Anteil an stat. Pat. auch ambulant behandelt werden könnte.
In welcher Hinsicht denn? Welche Maßnahmen behindern Sie oder die Gesellschaft aktuell?
Sie scheinen zu glauben, dass in anderen Ländern Corona mehr oder weniger ignoriert wird … aber das ist nicht der Fall.
Sie haben konkret die USA benannt – dann schauen Sie sich doch bitte erst mal die dort geltenden Regeln z. B. für medizinisches Personal im Falle einer vermuteten oder bestätigten Covid-19-Infektion an … und dann erklären Sie uns im Detail, was die USA in dieser Hinsicht (ihrer Meinung nach) besser machen als wir!
Erst informieren, dann agitieren … 😉
Die "echte Influenza" ist per se keine schwere Erkrankung, sie kann nur eine schwere Erkrankung nach sich ziehen - mehr als 90% der Infizierten bleiben symptomarm. Wie bei Corona sind Menschen mit besonderen Erkrankungen und alte Menschen gefährdet. Also wird man Herrn Dölken weitgehend zustimmen können.
In einem Punkt bin anderer Meinung: die Quarantänepflicht ist ohne Not das größte Problem für Kliniken, Pflegeheimen und allen anderen Wirtschaftsbetrieben, nicht die Erkrankungen. Immer mehr Menschen testen sich deshalb - zu Recht, wie ich meine - nicht mehr auf Corona.
Erstens lassen sich – wie Sie ja selbst schreiben – immer weniger Menschen auf Corona testen. Damit wird die Quarantänepflicht zwangsläufig und in immer mehr Fällen unterlaufen …
Zweitens können insbesondere Einrichtungen wie Pflegeheime und Krankenhäuser nicht einfach vorsätzlich Infizierte auf Patienten loslassen. Das sind Risikogruppen – wer so etwas vorschlägt, der hat doch den Schuss nicht gehört.
Genausowenig kann ein Krankenhaus einfach Infizierte und nicht-Infizierte Patienten „mischen“. Potenziell virulente Personen müssen isoliert werden. Deswegen macht es für ein Krankenhaus auch keinen großen Unterschied, ob ein Patient „mit“ oder „wegen“ Corona behandelt werden muss …
Drittens profitieren Wirtschaftsbetriebe von Mitarbeitern, die NICHT krank sind. Das wirtschaftlich dümmste, was man machen kann, ist virulente Personen ins Unternehmen zu lassen – damit die dann andere anstecken ...
Sollte eigentlich eine absolute Selbstverständlichkeit sein …
Aber wir leben halt leider in einer Zeit, in der sehr viele nur an sich denken …
Da stimme ich absolut zu.
Diese unangebrachten Vergleiche von Corona mit anderen Erkrankungen haben von Anfang an zu blödsinnigen Verharmlosungen („Ist doch nur ein Schnupfen!“) und sinnlosem „Whataboutismus“ („An Grippe sterben doch viel mehr Menschen!“) geführt.
Insofern frage ich mich schon, ob man da jetzt weiter Öl ins Feuer gießen muss – noch dazu als Mediziner.
Ja, Covid und Grippe ähneln sich in vielen Bereichen. Aber es gibt eben auch viele Unterschiede (Immunität, Wirksamkeit der Impfung, Inkubationszeit, Virulenz, Häufigkeit von Langzeitfolgen, …). Es sind zwei unterschiedliche Erkrankungen – belassen wir es doch einfach dabei.
Ich finde auch die Aussage befremdlich, es hätte in 2020 und 2021 keine Übersterblichkeit gegeben. Da gehen die Meinungen dann anscheinend deutlich auseinander: https://www.zeit.de/wissen/2022-01/sterbefallzahlen-2021-statistik-uebersterblichkeit-corona.