Seit 30 Jahren hat Prof. Michael Bohnert beruflich mit Toten zu tun. Zur Arbeit des Leiters des Instituts für Rechtsmedizin an der Universität Würzburg gehören aber auch lebende Menschen und Gegenstände - immer dann, wenn Recht und Medizin aufeinandertreffen. Im Interview spricht der 59-Jährige über das verzerrte Bild der Forensischen Medizin in der Öffentlichkeit - und warum er Krimis verabscheut.
Michael Bohnert: Die Rechtsmedizin ist ein medizinisches Fachgebiet wie die Chirurgie oder die Innere Medizin. Das heißt, ich bin Arzt. Die Rechtsmedizin versteht sich als ein Fach, bei dem medizinisches Wissen für die Beantwortung von rechtlichen Fragen verwendet wird.
Bohnert: Meist haben wir mit Körperverletzungsdelikten zu tun. Die kommen natürlich häufig vor. Im häuslichen Rahmen noch viel häufiger, als man sich das so vorstellt. Ein Viertel aller Frauen gibt an, mehrfach körperliche oder sexuelle Gewalt in ihrer Partnerschaft erlebt zu haben. Da sehen wir immer nur die Spitze des Eisbergs. Nämlich diejenigen, die sich trauen Hilfe zu holen oder die es schaffen auszubrechen.
Bohnert: Na klar, das passiert tagtäglich. Man ist früher mal davon ausgegangen, dass auf jeden bekanntgewordenen gewaltsamen Todesfall ein bis zwei kommen, die nicht erkannt worden sind. Das halte ich für ein bisschen übertrieben. Ich schätze eher, dass auf zwei bekanntgewordene nicht natürliche Todesfälle einer kommt, der nicht bekannt geworden ist. Die meisten sind aber Unfälle.
Bohnert: Ja. So ist das. Die Todesermittlung ist ein ganz eigenes Thema in Deutschland.
Bohnert: Naja, es läuft schlecht. Das ganze System, wie ein Todesfall in Deutschland untersucht wird, ist nicht sehr gut geregelt. Das fängt schon damit an, dass jeder Arzt, der dazu aufgefordert ist, den Tod festzustellen, eine Leichenschau machen muss. Auch die Ärzte, die sonst nie mit Toten zu tun haben, beispielsweise ein Augenarzt. Damit müssen oft Berührungsängste gegenüber Toten überwunden werden. Es fehlt an Wissen, an Ausbildung, an Qualitätskontrolle. Außerdem wird nicht jeder Todesfall, der der Polizei gemeldet wird, auch obduziert. In Europa sind wir Schlusslicht.
Bohnert: Das entscheidet die Staatsanwaltschaft. Bei einem natürlichen Todesfall sind wir außen vor. Es gibt keine Verpflichtung, einen Todesfall zu melden. Es müssen nur nicht-natürliche oder unklare Todesfälle gemeldet werden. Wir haben aber auch etwa vier bis fünf Privatobduktionen im Jahr.
Bohnert: Verübte Morde in Deutschland gibt es vergleichsweise wenige. Wir haben pro Jahr etwa 700 Tötungsdelikte, die meisten davon sind Beziehungstaten. 95 Prozent der Tötungsdelikte werden aufgeklärt. Jeden dritten Tag wird eine Frau von ihrem Partner oder Expartner getötet. Aus rechtsmedizinischer oder kriminalistischer Sicht ist das ehrlicherweise meistens nicht besonders spannend.
Bohnert: Ja, und weil die Täter sich oft hinterher stellen. Ich will nicht sagen, dass Rechtsmediziner immer alles sehen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass wir einen gewaltsamen Tod übersehen, ist ziemlich gering. Es gibt natürlich Fälle, bei denen wir es nicht sicher sagen können, das liegt aber in der Natur der Sache.
Bohnert: Stellen Sie sich vor: Es gibt einen alten reichen Herrn, der auf die 90 zugeht und ein schwaches Herz hat. Er hat einen Nachkommen zweiter Linie, der alles erben würde. Der Enkel könnte jetzt auf die Idee kommen nachzuhelfen, indem er den Großvater so sehr erschreckt, dass er daran verstirbt. Das ist sehr überspitzt, aber wie will ich das von einem natürlichen Geschehen unterscheiden? Im Gegensatz zum Krimi lösen Rechtsmediziner keine Fälle. Wir erheben medizinische Befunde und bewerten sie.
Bohnert: Mein Leben ist ganz anders als im Krimi. Im Krimi werden die Dinge die ein Rechtsmediziner tagein tagaus macht, nie gezeigt. Es wird nie gezeigt, dass man ständig auf der Straße ist, von einem Amtsgericht zum anderen. Es wird auch nie gezeigt, dass man den ganzen Tag am Schreibtisch verbringt und Akten durchliest.
Bohnert: In Unterfranken vielleicht dreimal im Jahr. Es gab aber auch Jahre, da hatten wir kein einziges Delikt. Es ist sehr friedlich hier.
Bohnert: Bei einem Fall war überall Blut in der Wohnung. Jemand ist dort offensichtlich blutend herumgelaufen. Da lag auch eine Leiche in einer Blutlache, aber man hat keine Verletzungen gesehen. Später stellte sich heraus: Eine Krampfader hatte sich vermutlich spontan geöffnet und der Mann verlor sehr viel Blut. Aber anstatt, dass er Hilfe gerufen oder zumindest seine Wunde abgedeckt hat, ist er in seiner Wohnung herumgelaufen und lag dann irgendwann verblutet auf dem Boden. Das war insofern skurril, dass man sein Handeln nicht nachvollziehen konnte.
Bohnert: Ich war als Gutachter im Todesfall Oury Jalloh tätig, der in der Gefängniszelle in Dessau verbrannt ist. Das ist einer der Fälle, die mich bis heute beschäftigen.
Bohnert: Weil er komplex ist und wir mit unseren Untersuchungen wenig beitragen konnten. Eben weil gilt, dass wir als Rechtsmediziner keine Fälle lösen. Wir sind als Gutachter nur dazu da, die medizinischen Befunde zu erheben und zu bewerten. Wir ermitteln nicht. Zur Lösung eines Falles gehören alle Umstände und Beweise, nicht nur die medizinischen.
Bohnert: Nein, deshalb bin ich ja Rechtsmediziner. Das gilt in der gesamten Medizin. Sie brauchen Distanz zu dem, was sie tun. Sie können keinen Patienten behandeln, wenn sie ihm privat nahe sind. Dann verlieren Sie den klaren Blick. Ich kann mich gut auf die Gutachterposition zurückziehen. Das hat vielleicht manchmal auch etwas mit Selbstschutz zu tun.
Bohnert: Das hatte ich schon, ich habe aber beide nicht mehr wiedererkannt. Der eine war durch die intensivmedizinische Behandlung so aufgequollen, dass er nicht mehr zu erkennen war. Der andere lag länger in der Wohnung und war fäulnisverändert. Aber das waren keine Freunde von mir. In dem Augenblick, in dem ich eine engere Beziehung zu dem nun Toten gehabt hätte, würde ich die Untersuchung ablehnen, weil ich befangen bin.
Bohnert: Nein. Ich lese und schaue auch keine Krimis.
Bohnert: Mich stört die Glorifizierung von Gewalt und der mediale Hype darum. Ich mag dieses Sensationsgeile nicht, deshalb gehen wir auch in diesem Gespräch nicht in den Sektionssaal, um dort ein Foto zu machen. Ich will das nicht unterstützen. Gewalt ist hässlich und banal. Ich finde daran nichts, was in irgendeiner Weise aufregend, unterhaltsam, geil, gruselig oder glamourös wäre. Das ist mir völlig zuwider.
Bohnert: Die Menschen gruseln sich gerne. Und sie lernen nicht dazu. Wenn irgendwo etwas Ungewöhnliches passiert, kommt immer die Frage: Wie konnte das passieren, was für ein Mensch tut denn so etwas? Sehr schnell kommt es auch zur Dämonisierung des Täters oder der Täterin. Dabei müsste man bloß in der eigenen Zeitung fünf Jahre zurückblättern. Dann würde man feststellen: Solche Fälle hat es auch früher schon gegeben. Das meiste was für die Öffentlichkeit interessant und spannend erscheint, ist überhaupt nichts Neues. Das hat es vor 150 Jahren genauso gegeben und ist in vielen Büchern nachzulesen. Auch in der Rechtsmedizin haben wir über die Jahre so etwas wie Routine.
Bohnert: Ja, zwangsläufig. Ein alter Ermittler ist hoffentlich auch durch nichts mehr zu erschüttern, sondern erinnert sich daran, dass er eine ähnliche Konstellation in einem anderen Fall bereits hatte. Und dass diese hier auch zutreffen könnte. Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Wenn irgendjemand ein Verbrechen begeht, dann hat er das aus den gleichen Motiven gemacht wie andere zuvor.
Bohnert: Ja, weltweit. Natürlich regional sehr unterschiedlich, aber die Zahl der Tötungsdelikte, die Zahl der tödlichen Unfälle, aber auch die Zahl der tödlich verlaufenden Erkrankungen, die man behandeln kann, nimmt weltweit gesehen seit 100 Jahren ab. Und wenn die Leute sagen, dass alles immer schlimmer wird: Nein, es wird immer besser. Insgesamt wird die Welt immer friedlicher. Hier auch.
Deutlich zurückgegangen ist in der Tat nur die Anzahl der Tötungsdelikte. Die Anzahl der restlichen Straftaten hat hingegen in der digitalen Zeit deutlich zugenommen.
Vermutlich aber werden die unerkannten Morde eher im bürgerlichen Milieu verübt. Da fällst am wenigsten auf.
„Die Bohnert: Naja, es läuft schlecht. Das ganze System, wie ein Todesfall in Deutschland untersucht wird, ist nicht sehr gut geregelt. Das fängt schon damit an, dass jeder Arzt, der dazu aufgefordert ist, den Tod festzustellen, eine Leichenschau machen muss. Auch die Ärzte, die sonst nie mit Toten zu tun haben, beispielsweise ein Augenarzt. Damit müssen oft Berührungsängste gegenüber Toten überwunden werden. Es fehlt an Wissen, an Ausbildung, an Qualitätskontrolle. Außerdem wird nicht jeder Todesfall, der der Polizei gemeldet wird, auch obduziert. In Europa sind wir Schlusslicht.“