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WÜRZBURG
Rechtsmedizinerin: Leben mit Leichen
Susanne Schmitt
 |  aktualisiert: 17.10.2017 10:17 Uhr

Der Sarg wird hereingefahren. Einäscherungsnummer 703. Weiß geflieste Wände, ein Waschbecken. Die Deckenstrahler blenden. Auf dem Tisch liegen ordentlich aufgereiht 14 rosa Totenscheine. Der Sargdeckel wird abgehoben, der Anblick erschüttert. Ein alter Mann. Es ist still. Katharina Jellinghaus schlüpft mit den Händen in helle Gummihandschuhe, beginnt konzentriert die Leichenschau. „Ich muss nicht jedes Mal weinen, wenn ich eine Leiche sehe“, sagt die junge Rechtsmedizinerin. Der Tod, er gehört zu ihrer Arbeit dazu, seit viereinhalb Jahren.

Fast jeden zweiten Tag fährt die 30-Jährige vom Würzburger Institut für Rechtsmedizin ins Krematorium nach Osterburken, kurz hinter der Landesgrenze in Baden-Württemberg. Bundesweit außer in Bayern gilt, dass Leichen vor der Einäscherung ein zweites Mal beschaut werden. Dabei überprüfen Rechtsmediziner die Angaben im Totenschein, suchen Unklarheiten. Eine Leiche nach der anderen wird in den Untersuchungsraum gefahren. „Der Tod gehört zum Leben, wir sterben alle irgendwann. Das wird natürlich mit der Tätigkeit mehr und mehr zur Routine“, sagt Jellinghaus. Sie steht im grünen Kittel am Kopfende des Sarges, tastet mit den Fingern über Kopf und Hals des toten Mannes, hebt Arme und Beine an.

Krematoriumsmitarbeiter Thorsten Kreuter hilft beim Umdrehen, Totenflecke werden sichtbar. In dem Raum scheint es plötzlich noch kühler. Jellinghaus blinzelt, lässt den Körper zurück sinken. Es gibt keine Auffälligkeiten.

Sind Rechtsmediziner eine Art Ermittler?

Bis zu 30 Leichen sieht die Rechtsmedizinerin am Tag, an bis zu drei Obduktionen ist sie beteiligt. Wie häufig eine falsche Todesursache aufgedeckt werde, sei schwer zu sagen. Bekannt sind hierzu die Ergebnisse der Görlitzer Studie von 1987, bei der mehr als 1000 Verstorbene obduziert und danach die Angaben auf den Totenscheinen überprüft wurden. In knapp der Hälfte der Fälle hätten die Daten nicht übereingestimmt, so Jellinghaus. Sind sie und ihre Kollegen also tatsächlich eine Art Ermittler wie Jan Josef Liefers als Tatort-Gerichtsmediziner Karl-Friedrich Boerne?

Nein, sagt Jellinghaus. „Wir sind immer noch Ärzte und keine Ermittler.“ Sie setzt sich nicht ins Auto und fährt zu einem Beschuldigten oder befragt die Familie des Toten. „Das darf ich gar nicht, weil ich dann meine Neutralität verliere.“ Professor Boerne, der den TV-Kommissar häufig mit eigenen Theorien in den Wahnsinn treibt, habe mit der Realität recht wenig zu tun. Trotzdem sieht die 30-Jährige die Krimifolgen aus Münster gerne. Und manches sei dem Alltag in Würzburg und Osterburken gar nicht so fern: Gefrotzelt wird auch hier am Sektionstisch. Das Lachen hilft, schützt vielleicht vor Angst und Beklemmung. „Wenn ich mich bei einer Leiche über den Geruch beschwere, fragt mein Oberarzt schon gerne mal: Na, Frau Jellinghaus, wären Sie doch lieber Augenärztin?“

Eine echte Alternative wäre das für sie nicht. Vor der Rechtsmedizin habe sie kurz in der Psychiatrie gearbeitet. Sich da von den Patienten abzugrenzen, abends ruhig nach Hause zu gehen, sei ihr schwer gefallen, sagt Jellinghaus. Das sei heute leichter. „Weil ich in meiner ärztlichen Funktion hier nicht in der Verantwortung stehe, es besser machen zu müssen.

“ Der eine oder andere Fall beschäftigt sie trotzdem auch nach Feierabend. Gerade wenn es Berührungspunkte zum eigenen Leben gibt.

Erst kürzlich habe sie einen jungen Toten vor sich gehabt, im Alter ihres Mannes und mit dem gleichen Beruf. „Das war schrecklich“, sagt Jellinghaus. „Da taucht dann schon ein Gefühl von Dankbarkeit auf, dass ich gesund bin, dass ich lebe.“ An diesem Nachmittag in Osterburken liegen vor allem alte Menschen vor ihr. Bei der dritten Leiche wird sie stutzig, die Todesursache erscheint merkwürdig, könnte auf einen Behandlungsfehler hindeuten. Der rosa Schein wird separat gelegt, später wird die Ärztin im Klinikum anrufen und nachforschen. Vorher warten noch elf Leichen. Sarg um Sarg fährt Thorsten Kreuter aus dem Kühlraum herein. Dort stehen die Holzkästen aufgereiht, es ist zwischen acht und neun Grad kalt. In der Ecke ist ein kleines Zimmer abgetrennt. Für „Stinker“, erklärt Kreuter, für faulende und verwesende Leichen. Kreuter ist erst seit Januar in Osterburken tätig. Leicht, sagt er, sei es am Anfang nicht gewesen.

Im Krematorium werden die Leichen bei rund 800 Grad eingeäschert.

Jellinghaus beobachtet ihn, der Blick aus den blauen Augen ist wach. In der Ecke des Raumes, neben dem Karton mit dunklen Schuhen, die ein Toter hinterlassen hat, wartet ihre kleine schwarze Hündin Tara. Sie ist immer dabei, ob im Krematorium oder im Institut in Würzburg. „Ich habe mir diese Arbeit ausgesucht, und ich mache das ausgesprochen gerne“, sagt Jellinghaus. Taras Vorgänger sei Rettungshund gewesen, so kam sie zur Medizin. Während des Studiums habe sie dann die Vorlesung des Rechtsmediziners begeistert, im zweiten Semester sah sie ihre erste Leiche. „Da war natürlich schon eine Scheu, die wollte man nicht gerne anfassen.“ Heute ist davon nichts mehr zu merken. Die 30-Jährige tastet professionell die Körper ab, ohne Zögern. „Man nimmt den Tod in der Rechtsmedizin als etwas Natürlicheres an“, sagt sie. Man lerne, das zu tun. Anders würde der ständige Umgang mit Gewalt, Verbrechen und leblosen Körpern belasten.

Für Angehörige ist der Umgang mit den Verstorbenen deutlich schwieriger. Wie um zu beruhigen ist das Krematorium ein Ort mit großen Fenstern, hell und schlicht, neben dem Eingang stehen Ledersessel, im Abschiedsraum flankieren rote Kerzen die Tore zu den Einäscherungskammern. Wenn die Leichen von den Rechtsmedizinern freigegeben sind, werden sie hier hereingebracht. Es ist deutlich wärmer als im Untersuchungsraum. Die Kammern werden angeschaltet, es pfeift, drinnen herrschen rund 800 Grad. Auf dem Sarg liegt ein Stein mit der Einäscherungsnummer, zur Identifizierung. Dann beginnt die Einfahrt, Wärme schlägt aus der Kammer nach draußen, Flammen umschließen den Sarg. Manchmal sind Angehörige da, nehmen Abschied. Heute ist es still. Nach der Verbrennung bleiben drei bis vier Kilogramm Asche zurück. Sie wird in schlichten Urnen verwahrt.

Draußen schiebt sich die Sonne wieder durch die Wolken. Aus dem Fenster blickt man auf grüne Wiesen rund um das Krematorium. Jellinghaus sitzt am Schreibtisch, telefoniert wegen der dritten Leiche mit der Klinik. Der verantwortliche Arzt erklärt, wie der Mann verstorben ist, wie es zu den Angaben auf dem Totenschein kam. Für Jellinghaus ist seine Schilderung schlüssig, die Zweifel lösen sich auf. „Es ist nicht so, dass wir jeden Tag drei Leichen anhalten“, sagt sie, trinkt einen Schluck Cappuccino und streichelt Taras Kopf. Die Gummihandschuhe sind weggeworfen, ihr Arbeitstag geht im Institut in Würzburg weiter.

Manche Fälle setzen sich als kleine Narben im Gehirn fest.

Die Fahrt zurück tut gut. Stau, Baustellen. Bis zur Ankunft ist die Normalität zurück. Jellinghaus öffnet die Schwingtür zum Obduktionssaal. Es stinkt. Wonach ist schwer zu sagen. Vielleicht riecht so der Tod. Auch dieser Saal ist gefliest, von der Decke hängen Lampen wie beim Zahnarzt, an der Wand steht eine Vitrine. Darin liegen Sägen, Scheren, Meißel und Totenköpfe. Auf Besucher wirkt es wie ein Gruselkabinett. Für Jellinghaus ist es der Arbeitsplatz. Die Würzburger Rechtsmediziner sind vor allem zuständig für die Landgerichtsbezirke Würzburg, Schweinfurt und Aschaffenburg. Bei Verbrechen oder unklaren Todesumständen werden hier die Leichen untersucht.

„Wir stürmen aber nicht wie im Film gleich mit Messer und Skalpell auf die Leiche zu“, sagt Jellinghaus. Zunächst werde ein Toter von außen begutachtet. Dann folgt alles einem standardisierten Ablauf: Kopf-, Brust- und Bauchhöhle werden eröffnet, alle Organe untersucht. Kleine Stücke von Niere, Leber oder Gehirn werden in Formalintöpfchen zurückbehalten. Bei täglich bis zu drei Obduktionen ist die junge Frau dabei. Wie kann man das aushalten?

„Aus meiner Sicht, stellt es an das Empfinden von Menschen viel größere Anforderungen, wenn sie miterleben müssen, wie sie ein Menschenleben nicht retten können und es ihnen unter den Händen wegstirbt“, sagt Professor Hansjürgen Bratzke vom Berufsverband Deutscher Rechtsmediziner. Es gebe aber Fälle, die sich als „kleine Narben im Gehirn festgesetzt haben“. Das sei Teil des Berufes, den er 22 Jahre lang als Direktor des Rechtsmedizinischen Institutes der Uniklinik Frankfurt ausgeübt hat. Die Präsenz in Film und Fernsehen habe die Popularität der Gerichtsmediziner erhöht. Jedoch habe sich die Politik davon, so Bratzke, nicht anstecken lassen. Institute seien geschlossen, Gelder gestrichen worden.

2015 arbeiteten nach seinen Angaben bundesweit etwa 264 Mediziner an rechtsmedizinischen Instituten. In Würzburg sind es in der forensischen Medizin fünf, Chef- und Oberarzt und drei junge Frauen.

Für Katharina Jellinghaus ist es der richtige Platz. „Ich fühle mich da wohl“, sagt die 30-Jährige. Makaber meint sie den Satz nicht, Obduktion und Leichenschau sind Alltag für sie. Mit den Toten wird pietätvoll umgegangen. Alle Handgriffe sind routiniert, die Gummihandschuhe schaffen Distanz. Problematisch, sagt sie, wäre es dann, „wenn sich der Sarg öffnet und da jemand liegt, den ich kenne“. Dann wäre der Tod plötzlich zu nah.

 
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