Seit 1996 ist Michael Lindner-Jung Leiter der Bahnhofsmission in Würzburg. Bereits in seinem ersten Studiensemester hat er sich dort engagiert. Insgesamt ist er bereits seit 40 Jahren bei der Bahnhofsmission. In dieser Zeit hat er viele Veränderungen und Krisen miterlebt, doch ein Jahr wie 2022 hat es bislang noch nicht gegeben. Im Interview spricht er darüber, wieso das vergangene Jahr so herausfordernd war, wie sich die Armut in Würzburg verändert hat und was das für seine tägliche Arbeit bedeutet.
Michael Lindner-Jung: Während der Pandemie haben manche Besucher bereits ihre Arbeit oder Zuverdienst verloren, kamen in finanzielle Schieflage und viele waren zunehmend sozial isoliert. Sie waren förmlich hinter der Maske verschwunden. Dann folgten der Ukraine-Krieg und die hohe Inflation. Auf beides waren wir nicht vorbereitet. Allein die Besucherzahl hat im letzten Jahr fast um 50 Prozent zugenommen und wir sind bei circa 60.000 Hilfekontakten gelandet. Das waren 45 Prozent mehr Kontakte als 2021 (rund 41.000 Hilfekontakte).
Das Besondere war, dass alles sehr plötzlich passierte. Innerhalb von 14 Tagen nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine ging unsere Statistik steil nach oben. An einem Bahnhof erlebst du unmittelbar, wenn etwas in der Welt passiert. Deshalb haben sich auch die Kontakte mit Menschen mit Migrationshintergrund 2022 mehr als verdoppelt.
Lindner-Jung: Jeder von uns weiß, dass es Armut gibt, aber sie ist oft nicht sichtbar. Betroffene betreiben einen großen Aufwand, damit andere nicht merken, dass sie arm sind. Wir haben das Gefühl, dass wir Armut jetzt sehen können. Es sind zum Beispiel viel mehr Menschen sichtbar, die in Hauseingängen liegen und dort übernachten. Es sind auch mehr Bürger unterwegs, die Flaschen sammeln.
Bei der Bahnhofsmission haben wir zuallererst materielle Not erlebt. Wir haben fast jeden Tag 160 Lebensmittelportionen ausgegeben, dreimal so viel wie zuvor. Für uns war das ein deutlicher Hinweis, dass Menschen mit der finanziellen Situation nicht mehr klarkommen. Spätestens dann, wenn du nicht mehr genug zu essen hast, musst du auf andere zugehen und kannst dich nicht länger fast unsichtbar zurückziehen. Gleichzeitig haben wir gemerkt, dass manche Hilfestrukturen nicht mehr ausreichen oder funktionieren. Das soziale Netz hat nicht mehr gehalten.
Lindner-Jung: Lange konnten wir auch in 2022 nur reduzierte Hilfsangebote vorhalten, weil die Zugangsvoraussetzungen weiter beschränkt waren. Gleichzeitig entstand plötzlich ein besonderer Hilfebedarf durch Geflüchtete. Da gab es erstmal keine tragfähige Struktur. Wo kommen diese Menschen unter, wie können sie verteilt und versorgt werden? Vieles musste neu gedacht und geschaffen werden und wir haben gemerkt, dass wir bis an die Grenzen gefordert waren. Wir haben einmal mehr gelernt, dass wenn nichts geht und schnelle Hilfe nötig ist, das nur im Miteinander möglich wird.
Die Wärmehalle am Bahnhof, inzwischen im dritten Winter in Betrieb, ist so ein gelungenes Beispiel, das erst in der Zusammenarbeit zwischen Stadt, Bayerischem Roten Kreuz, Bahnhofsmission und viel bürgerschaftlichem Engagement möglich wurde. Durch die immense Menge an Lebensmittelausgaben, die eigentlich nicht unser Kerngeschäft sind, waren auch viele personelle Ressourcen gebunden. Dadurch konnten wir dem gestiegenen Gesprächsbedarf von Menschen nicht wie gewünscht nachkommen. Aber aus unserer Sicht ließ uns die gestiegene materielle Not unserer Besucherinnen keine andere Wahl.
Lindner-Jung: Wir haben uns nicht weggeduckt. Wir haben immer gesagt, wir müssen unsere Tür aufhalten. Manchmal haben wir freie Zeit investiert, damit wir weiter da sein konnten und haben versucht, kreativ zu kompensieren, was wir in der Regelarbeit nicht geschafft haben. Uns war wichtig, dass die Menschen nicht allein bleiben. Deshalb haben wir im Sommer 2022 mit dem Projekt "Mutmacher:in am Bahnhof" ein neues Angebot geschaffen. Es ist eine zusätzliche Halbtagsstelle, die Menschen mit Bedarf nur für Gespräche, Beratung und Ermutigung zur Verfügung steht. Ein Projekt, das nur durch Spenden finanziert wird.
Lindner-Jung: Wir haben die Zusammenarbeit mit dem Sozialreferat der Stadt Würzburg als ermutigend empfunden und gemerkt, dass wir in unseren Anstrengungen nicht allein sind. In manchen Zeiten haben wir uns täglich abgesprochen. Es waren viele Organisationen und Einrichtungen beteiligt und wir haben geschaut, was jeder beitragen kann. Als Bahnhofsmission sind wir auch so etwas wie ein Seismograf, wo gesellschaftliche Verwerfungen oder strukturelle Notlagen frühzeitig wahrgenommen werden.
Lindner-Jung: Die materielle und psychische Armut wird bleiben. Problematisch wird es in dem Moment, wo Menschen sich aus dem sozialen Netz verabschieden und weiter Ressourcen verloren gehen. Sie sind dann auch für uns schwerer erreichbar.
Lindner-Jung: Menschen in Not dürfen sich nicht weniger wert fühlen oder ausgeschlossen werden. Wir müssen Räume schaffen – und das macht die Stadt Würzburg zum Beispiel im Modell Soziale Stadt bereits – wo es darum geht, dass Menschen wieder zueinander kommen und zueinander finden. Es ist unser aller Aufgabe, dass wir Berührungspunkte schaffen, damit jemand die Situation eines anderen kennenlernt und sich mitteilen kann. So können Momente entstehen, in denen jemand dann sagt: 'Armut geht auch mich an und ich will Verantwortung übernehmen'. Jeder einzelne von uns kann etwas tun, indem er sich mit der Situation auseinandersetzt und Begegnungen sucht.
Lindner-Jung: Wenn man viele Jahre in der Bahnhofsmission ist, kennt man viele Schicksale, die einem nahe gehen. So geht es auch mir. Keines dieser Schicksale ist mehr oder weniger von Bedeutung, sodass man eines weglassen könnte. Ich erinnere mich noch oft an eine Frau, sie war öfter in der Bahnhofsmission. Sie war voller Sehnsucht nach einer eigenen Familie, wollte als Modeschneiderin arbeiten und hat sich eine kleine Wohnung gewünscht. Gleichzeitig war sie konfrontiert mit vielen Brüchen in ihrem Leben und mit Scheitern. An einem Nachmittag, ich war gerade im Gespräch mit anderen Besuchern, steht sie unvermittelt auf und schreit in den Raum: 'Merkt ihr nicht, dass ich hier bin! Ich bin doch auch ein Mensch! Warum sieht mich keiner?' Voller Enttäuschung und Wut ist sie dann zum Ausgang gegangen und hat die Tür zugeschlagen. Diese ging, wie vieles in ihrem Leben, zu Bruch. Dieses Bild wirkt für mich bis heute.
Lindner-Jung: Nein, weil uns 2022 mindestens mit zwei Situationen, der Ukraine-Krieg und die Inflation kalt erwischt hat. Ich habe große Umbrüche erlebt, zum Beispiel 1989 die Maueröffnung. Da wurden Frauen ohne Wohnung ein politisches Thema, nachdem Frauen in großer Zahl aus Ostdeutschland kamen und auf der Suche nach Arbeit hier vor dem Nichts standen. Mitte bis Ende der 90er gab es viele junge Erwachsene, die in prekären Wohnverhältnissen oder zum Teil auf der Straße gelebt haben. Auch die Flüchtlingskrise im Jahr 2015 war eine Herausforderung. Aber einen solchen plötzlichen steilen Anstieg in unserer Statistik wie in 2022 in allen Bereichen hatten wir noch nie.