Die Matheprobe in der 4. Klasse fällt deutlich schlechter aus als erwartet. "Woran kann das liegen?“, fragt sich Matthias Schuhmann, der seit neun Jahren die kleine Grundschule in Markt Einersheim (Lkr. Kitzingen) leitet. "Ich habe dann meiner Klasse die Textaufgabe nochmal langsam und deutlich vorgelesen", sagt Schuhmann. "Und siehe da: Fast alle Schüler konnten danach die Aufgabe rechnen." Offenbar habe nicht die Matheaufgabe, sondern der Text viele Schüler scheitern lassen, sagt der Lehrer und Rektor. Das größte Problemfach der Nach-Pandemie-Zeit sei: Deutsch.
Jule liest: "Die kur-, kur-, kurvenreiche Straße führte zu einem alten, wurm-, wurmst-, wurmstichigen Haus." Die Zehnjährige aus Würzburg besucht auch eine 4. Klasse, aber ihre Lesekompetenz entspricht höchstens der einer Drittklässlerin.
Während Corona ist das Lesen zu kurz gekommen
Beim Kinderbuch über ein Spukhaus stolpert das Mädchen über zusammengesetzte Wörter, ignoriert Vorsilben, braucht oft mehrere Anläufe, um ein Wort zu verstehen. Dabei ist Jule ein kompetentes Kind ohne Lese-Rechtschreibschwäche. Ihre Leseprobleme seien bestimmt eine Folge der Pandemie, vermutet ihre Mutter. Die zweite Hälfte der 1. Klasse und weite Teile der 2. Klasse hätten Jule und ihre Altersgenossen nicht im Präsenzunterricht, sondern zu Hause vor dem Laptop verbracht.
"Ich habe gleichzeitig daheim gearbeitet und Jules Homeschooling betreut", sagt die Mutter. "Die Kraft, abends mit ihr extra noch Lesen zu üben, hatte ich nicht." Ob Jule, die im Rechnen gut ist, aber in Deutsch zwischen Drei und Vier hängt, den Übertritt auf die Realschule schafft, ist noch unklar.
Deutsch ist die Voraussetzung, um in allen Fächern Texte zu verstehen
Jetzt rund um den Zwischenzeugnis-Termin muss der Markt Einersheimer Rektor Schuhmann mehr Eltern als früher erklären, dass die Deutsch-Kompetenzen vieler Viertklässler für die Realschule oder das Gymnasium vermutlich eher nicht reichen. Deutsch sei eben die Voraussetzung, um Texte in allen anderen Fächern zu verstehen, sagt Schuhmann. Was die Schule tut, um coronabedingte Defizite aufzuholen? "Wir lesen sehr viel in der 4. Klasse, darunter zwei lange Lektüren mit je rund 100 Seiten Text", sagt Schuhmann. "Bücher etwa wie die 'Vorstadt-Krokodile'."
Doch regelmäßigen, zusätzlichen Nachhilfeunterricht in Deutsch könne die Schule angesichts des Lehrermangels nicht leisten: "Wir bekommen aus dem vom Bayerischen Kultusministerium bezahlten Brückenbau-Programm eine Studentin für drei Stunden wöchentlich." Eine umfassende Zusatzförderung aller leseschwacher Kinder sei damit nicht möglich, sagt der Grundschulleiter. Früher hätten an der Schule ehrenamtlich "Lese-Omas" mit den Kindern geübt. Aber das Programm habe in der Pandemie eingestellt werden müssen. "Wir planen aber, das wieder aufleben zu lassen."
Viel mehr Kinder und Jugendliche lesen auch in der weiterführenden Schule noch nicht flüssig
Lesepaten und Lesepatinnen hat Jürgen Wolff, Leiter der Grund- und Mittelschule in Iphofen (Lkr. Kitzingen), genug. "Mindestens 30 Leute engagieren sich bei uns ehrenamtlich, das ist toll." Aber allein mit Lesepaten ließen sich mehrjährige Deutschdefizite der Schüler nicht auffangen: "Mir hat meine Fünftklass-Lehrerin gerade wieder gesagt, wie unglaublich massiv die Lücken in Deutsch sind", berichtet Wolff. Weit mehr Fünftklässler als vor der Pandemie läsen "schleppend, unsicher, nicht flüssig" – auch Kinder mit Deutsch als Muttersprache.
Woran das liegt? "Das Lesen ist einfach nicht eingeübt", sagt Wolff. Es gebe zwar erfreuliche Ausnahmen –Kinder etwa, mit denen die Großeltern während Corona täglich gelesen hätten. Doch während der Pandemie hätten alle Kinder am Handy und am Computer sitzen müssen. Das handschriftliche Schreiben und das Lesen sei in vielen Fällen zu kurz gekommen. Seine Schule habe intern schon einen Runden Tisch zum Deutsch-Problem einberufen, aber ein konkreter Weg aus der Deutschkrise sei noch nicht absehbar.
"Wir haben aus dem Brückenbau-Programm eine Studentin mit acht Wochenstunden, aber wegen des Lehrermangels müssen wir diese Kraft oft anderweitig einsetzen", sagt Wolff. Er beobachte ein generelles "Absinken der Leistung in etlichen Fächern". Nirgends aber sei das so eklatant wie in Deutsch.
Schriftbild und Ausdrucksfähigkeit haben sich durch Digital-Unterricht verschlechtert
"Der Tag wahr so toll, das ich noch lange dran denken werde", schreibt Tilmann, 11 Jahre, in seinem Erlebnisaufsatz in der 5. Klasse Realschule. Der Unterschied zwischen der Konjunktion "dass" und dem Artikel "das" sollte Schülern der weiterführenden Schulen klar sein – ist es aber oft nicht. Natürlich habe es auch vor Corona Fünftklässler mit vielen Rechtschreibfehlern im Aufsatz gegeben, sagt Dieter Schanzer, der Leiter der David-Schuster-Realschule in Würzburg. Aber ihre Zahl sei stark gestiegen.
Er schaue als Schulleiter oft Klassenarbeiten durch, sagt Schanzer. "Da fällt schon auf, dass die Fähigkeit der Kinder, sich sprachlich auszudrücken, wahnsinnig zurückgegangen ist." Katastrophal sei in vielen Fällen auch das Schriftbild. Viele Kinder hätten während des Online-Unterrichts wenig handschriftlich geschrieben und so eine leserliche, saubere Schrift verlernt. "Die Schule kann das nicht allein ausgleichen, die Kinder müssen zu Hause üben, üben, üben", sagt Schanzer.
Schere zwischen Kindern aus ärmeren und aus gutsituierten Elternhäuser weiter auseinander gegangen
Beim Üben aber sind Kinder im Vorteil, deren Eltern sich Nachhilfe leisten können oder sich die Zeit nehmen, mit ihnen zu lernen. Das heißt auch, dass Schülerinnen und Schüler aus gutsituierten Elternhäusern mit größerer Wahrscheinlichkeit weniger Corona-Lücken haben oder sie schneller aufholen können. Dass die Pandemie die soziale Schere noch stärker geöffnet hat, betonen nicht nur die befragten unterfränkischen Schulleiter, sondern auch Untersuchungen - wie zuletzt eine Meta-Analyse von 42 Studien aus 15 Ländern zum Corona-Lerndefizit, die im Januar 2023 erschienen ist.
Je nach Möglichkeit kann sicher jeder von uns etwas beitragen, um diese Missstände zu verbessern: Als bereits genannte Lesepaten, Großeltern, Tante, Onkel, Mentor auf Zeit, Unterstützer in den Ganztagsschulen und vor allem indem wir mehr Verständnis füreinander haben und weniger vorschnell urteilen - wobei ich persönlich wohl immer Eltern be- und auch verurteilen werde, die die eigene Bequemlichkeit über das Kindeswohl stellen - in unserer Gesellschaft ist Eltern zu werden eine freie Entscheidung und kein Muss.
Vermutlich ist es aber auch so, dass Eltern heutzutage nicht mehr so "leistungsbereit" sind. Ich bin eine von fünf Geschwistern, beide Eltern waren voll berufstätig. Früher mussten wir Kinder über die Mittagszeit noch aus dem Kindergarten geholt werden. Meine Eltern hatten zwar meine Oma zur Unterstützung, dennoch frage ich mich oft, wie vor allem meine Mutter das alles geschafft hat. Wenn man sie fragt, kann sie das gar nicht so wirklich beantworten - "Ich habe da gar nicht drüber nachgedacht" etc. kommt dann. In diesem Sinne: "Danke, Mama"
Generell wäre es wunderbar, wenn wir uns gegenseitig mehr unterstützen würden. Versuche, fehlende Bildung(schancen) am Elternhaus, Erziehern, Lehrern und dem Staat festzumachen, helfen den Kindern nichts. 2/2
Dort hat man den wahren Verursacher, das Smartphone als derzeitigen Endgegner identifiziert.
Ein ganz klarer Nachteil der ungezügelten Digitalisierung im Laufe der Pandemie ..
P.S.: Volksschule 60er Jahre...
das liegt daran, dass die Lehrbücher von Fachleuten geschrieben werden, die ihre eigene Sprache verstehen und für gut befinden, aber keinen Gedanken daran verschwenden, dass die Bücher in die Hände von KINDERN kommen, die doch erstmal damit anfangen müssen zu verstehen, um was es überhaupt geht.
Kann es sein, dass es auch deswegen immer weniger Kinder gibt, weil diese Welt einfach zunehmend kinderUNfreundlich wird?
Auch betrachten es viele Mütter kritisch, wenn man sein Kind in die Ganztagsschule gibt - meine Nichte z. B. profitiert aber ungemein davon - sie ist gegen 15.45 Uhr daheim, Hausaufgaben sind erledigt, mit Mama/ Papa/ Oma/ Tante wird dann nochmal über die Aufgaben geschaut und sie hat Kontakt mit Kindern, die nicht in ihre Klasse gehen. Es braucht eben wirklich ein Dorf, um ein Kind zu erziehen. Leider kann aber nicht jeder auf ein solches Netzwerk zurückgreifen. 1/2
So sind wir alle früh heimgekommen haben gegessen Hausaufgaben gemacht und ab 14:30 Uhr waren wir immer unterwegs und haben gespielt bis Abends.
Ich sehe es kritisch wenn man Kinder schon auf lange Tage vorbereiten will um sie fit zu machen als Arbeitsroboter für die Arbeitswelt mit 10-12 Stunden Tagen.
Komische Vorstellungen von dem System der OGS scheint es häufiger zu geben, da sie von manchen richtiggehend verteufelt werden - im Gespräch merkt man dann aber, dass viele Menschen keine oder eben völlig falsche Vorstellungen von dem Ablauf in einer OGS haben.
Meine Nichte geht gerne dorthin - das ist für mich die Hauptsache.
als ich (Ende der 60-er) in die Schule kam, hatte ich ein Ränzelchen für eine Schiefertafel, ein Lesebuch, ein Rechenbuch und ein paar DIN-A5-Hefte. Heutzutage brauchen die Kinder einen Tornister, der fast so groß ist wie sie selber, um all die Sachen unterzubringen, die von der Bildungspolitik und der Wissenschaft für unabdingbar gehalten werden, um den Kindern auch alles kindgerecht beizubringen. Der Erfolg scheint allerdings - gefühlt: zunehmend - auszubleiben, wohingegen sich meine Zweifel mehren, ob das wirklich kindgerechter sein kann als zu meinen Grundschulzeiten...
Bayern ist, was Bildung anbelangt deutlich zurechtgefeilten. Nicht im Vgl. zu anderen Bundesländern, aber absolut gesehen. Kein Wunder, wenn mehr oder weniger ohne Probleme jedes Jahr mehr als 50mrd mit steigender Tendenz für die BW und ohne Probleme ein 100mrd. Soderpaket durchgewunden wird. Ich bin nicht gegen die Verteidigungsausgaben, aber ich bin dagegen, daß die Bildung deshalb vernachlässigt wird, weil die konservativen Parteien, allen voran die FDP, aber auch CSU/CSU, gegen Steuererhöhungen für Reiche und Superreichen sind.
Dann doch lieber ein "gechilltes" Leben. Sollen sich doch die Anderen darum kümmern, dass es vorwärts geht.