Ein Prozent des Bruttolohns: So viel kostet die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft. Doch immer weniger Beschäftigte engagieren sich. Der Würzburger Soziologe Andreas Göbel spricht von einer sich immer weiter verlierenden Solidarität. Es gibt Branchen, in denen fehlt den Gewerkschaften schlichtweg die Mitgliederstärke und damit die Kraft, einen Arbeitskampf durchzufechten.
Das hat Folgen: Hier in der Region sind weniger als die Hälfte der Beschäftigten durch einen Tarifvertrag geschützt. Im Interview erklärt Frank Firsching, der Bezirkschef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), warum es neue Wege der Kommunikation braucht, um Erzieher, Pfleger und Programmierer zu erreichen.
Frage: Herr Firsching, im Einzelhandel, in der Pflege oder der IT-Branche spielen Gewerkschaften quasi keine Rolle. Was läuft dort falsch?
Frank Firsching: Wir als Gewerkschaften haben unsere Mitstreiter über viele Jahrzehnte direkt in den Betrieben mobilisiert – und das sehr erfolgreich. In den von Ihnen angesprochenen Branchen funktioniert das aber nur bedingt, weil wir dort schlichtweg zu wenige Mitglieder haben. Das bedeutet, wir müssen auch neue Wege gehen – beispielsweise über öffentliche Kampagnen. Denn eines ist klar: Wenn die Tarifbindung weiter sinkt, wird die soziale Marktwirtschaft in Deutschland zum Auslaufmodell.
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Kommt diese Einsicht nicht 20 Jahre zu spät? Supermärkte, Kitas und Pflegeheime gibt es schließlich nicht erst seit gestern.
Firsching: Sicherlich gab es da Versäumnisse. Aber es tut sich was. Verdi beispielsweise hat eine erfolgreiche Kampagne zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Erzieherinnen und Altenpflegerinnen gestartet – obwohl die wenigsten von ihnen gewerkschaftlich organisiert sind. Während bisher eine gewisse Mitgliederstärke Voraussetzung für den Arbeitskampf war, sind solche Kampagnen der Versuch, in neuen Branchen überhaupt erst Fuß zu fassen. Ein gutes Beispiel ist Amazon. Dort konnten wir unter schwierigen Bedingungen viele neue Mitglieder gewinnen.
Was sind weitere Herausforderungen?
Firsching: Die zunehmende berufliche Mobilität und das sogenannte Jobhopping erschweren unsere Arbeit. Gerade junge Leute hangeln sich – häufig unfreiwillig – von einem zum nächsten befristeten Vertrag. Wenn Gewerkschaftsmitglieder dann in Betriebe wechseln müssen, in denen es keine gewerkschaftlichen Strukturen gibt, stellt sich schnell die Sinnfrage. Für uns als Gewerkschafter ist es schwierig, Konstanz und Sicherheit zu organisieren, die so im Beruf nicht gegeben ist. Außerdem habe ich das Gefühl, dass viele Jugendliche zu Hause kaum mit Gewerkschaften in Berührung kommen. Auch das ist eine Herausforderung.
Ist denn das Angebot der Gewerkschaften für junge Leute überhaupt noch attraktiv?
Firsching: Wo wir sind, gibt es mehr Geld, bessere Ausbildungsbedingungen und eine geregelte Übernahme. Das ist attraktiv. In einigen Branchen aber fehlen junge Gewerkschafterinnen, die ihre Kolleginnen im gleichen Alter zum Mitmachen motivieren. Die Kunst besteht also darin, in den Betrieben gegenseitige Solidarität zu organisieren – von jung bis alt.
Welche Rolle spielt dabei die Ansprache im Netz?
Firsching: Über digitale Kanäle Beschäftigte an eine Gewerkschaft zu binden, ist schwierig. Natürlich wird das versucht – über Facebook-Seiten, Homepage-Auftritte und auch Instagram. Aber damit gewinnt man kaum neue Mitglieder. Letztlich sind Angebote - von Mensch zu Mensch - besser als jedes Facebook-Profil. Der Betrieb bleibt die Keimzelle der Gewerkschaften.
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Aber ist das nicht genau die veraltete Denke, die auf lange Sicht in die Bedeutungslosigkeit führt?
Firsching: Also alt ist ja nicht gleich schlecht. Die persönliche Ansprache ist ein Erfolgsrezept, wenn sie zielgerichtet eingesetzt wird. In vielen Industriebetrieben funktioniert das immer noch sehr gut, trotzdem braucht es auch neue Wege der Kommunikation.
Wenn man sich die Sozialen Netzwerke anschaut, gelingt das nur mäßig. Bei rund sechs Millionen Mitgliedern hat der DGB auf Facebook gerade einmal 25.000 Abonnenten, auf Instagram sind es 3000.
Firsching: Ich bin überzeugt, dass da noch Luft nach oben ist. Aber Gewerkschaften sind auch keine Social-Media-Anbieter, sondern Organisationen von Menschen, die sich umeinander kümmern. Letztlich ist das Digitale nicht der Schlüssel zum Erfolg. Wir brauchen die Überzeugungsarbeit in den Betrieben – möglichst täglich.
Aber ist diese Strategie in einigen Branchen nicht über Jahrzehnte gescheitert?
Firsching: Sie ist nicht überall umsetzbar gewesen, aber sie ist deswegen nicht gescheitert. Immerhin entscheiden sich täglich etwa 1000 Menschen in Deutschland, einer DGB-Gewerkschaft beizutreten.
Trotzdem wird der Anteil der Bevölkerung, der gewerkschaftlich organisiert ist, immer kleiner.
Firsching: Deswegen gilt: Am Ende des Tages werden wir nur dann Erfolg haben, wenn Mitgliedschaften durch persönliche Kontakte entstehen. Dass sich eine große Zahl morgen wegen eines Facebook-Posts entscheidet, Mitglied zu werden, wird nicht stattfinden.
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