Als die Diakonie in Schweinfurt vor Kurzem aus heiterem Himmel 40 Pflegeverträge wegen Personalmangels kündigte, hatte Gottfried Bindrim seinem Ärger schon Luft gemacht und einen Brandbrief an alle unterfränkischen Landtags- und Bundestagsabgeordneten geschickt. Der 60-Jährige leitet seit 34 Jahren die Caritas-Sozialstation St. Josef in Schweinfurt, ein ambulanter Pflegedienst, und kennt das Problem mit dem fehlenden Personal nur zu gut. Worum es ihm in dem Brief geht, was er sich von der Politik erhofft und warum es so schwer ist, neues Personal zu finden, erklärt er im Interview.
Gottfried Bindrim: Ich habe den Brief geschrieben, weil ich gefrustet bin. Ich bin froh über meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ich noch habe und dass sie so gut mitziehen, aber ich habe in den letzten zwei Jahren acht Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verloren. Im Endeffekt ist es so, dass die Pflege seit vielen Jahren ins Hintertreffen gerät. Man hat vor zweieinhalb Jahren, als Corona losging, kurz geklatscht, und die Politiker haben sich hingestellt und gesagt, die Pflege gehört aufgewertet – auch finanziell. Passiert ist nichts. Jetzt hat man mal einen Pflegebonus gezahlt, aber das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Das ist eine einmalige Sache und dann war's das auch wieder. Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wollen Planungssicherheit, wenn sie frei oder Urlaub haben. Aber mit immer wiederkehrenden Ausfällen, welche seit Corona massiv zugenommen haben, ist es planerisch einfach nicht mehr möglich, einen Dienstplan auch so zu leben, wie er geplant war.
Bindrim: Wir haben den AVR-Tarif der Caritas, der ein sehr guter Tarif ist. Aber wenn die Politik sagt, die Pflege gehöre aufgewertet, dann muss sie auch ausreichend Geld in die Hand nehmen und Pflegerinnen und Pflegern 15 bis 20 Prozent mehr Lohn bieten, um den Beruf angemessen zu honorieren. Aber es ist auch klar, wenn man die Löhne bei uns dementsprechend anhebt, müssen natürlich auch die Beiträge erhöht werden. Aber da muss ich ehrlich sagen, in anderen Ländern sind die Beiträge wesentlich höher und da ist die Pflege den Menschen das Geld auch wert. Das Geld ist aber nur ein Lösungsansatz von vielen weiteren.
Bindrim: Die Bürokratie wird immer schlimmer. Ich sage es mal salopp: Wenn ich einem Patienten den Hintern abwischen muss, dann wische ich immer von vorne nach hinten. Das war früher schon so und ist heute immer noch so. Früher habe ich dafür ein Papier gebraucht – das Klopapier. Wenn ich es heute machen will, dann brauche ich drei Papiere: ein Antragspapier; ein Papier, auf das ich die Durchführung geschrieben habe, und das Klopapier. Das ist das, woran der Staat meiner Meinung nach irgendwann noch zugrunde geht. Hinzu kommen immer neue Vorgaben für Behandlungen. Zum Beispiel bei Wundverbänden. Dafür sollen alle Fachkräfte nun eine Fortbildung machen mit circa 160 Stunden. Wie soll das zeitlich gehen bei circa 15 Fachkräften? Mal völlig vom Geld abgesehen. Vor über 30 Jahren haben unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fast 80 Prozent ihrer Arbeitszeit in der Pflege verbracht und den Rest in der Bürokratie, heute ist das Verhältnis bei 55 Prozent Pflege und 45 Prozent Bürokratie.
Bindrim: Momentan habe ich 27 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber circa 20 Prozent Ausfälle. Es wird langsam happig. Wir können kaum neue Patienten aufnehmen. Ich bin froh, dass wir den Stamm an Patienten, den wir haben, versorgt kriegen. Das sind alles in allem 200 bis 220, zu denen wir zur Grund- und Behandlungspflege gehen. Die Zahlen sind rückläufig, weil ich mit weniger Mitarbeitern auch weniger Patienten betreuen kann. Hierdurch versuchen wir unser Personal nicht zu überlasten.
Bindrim: Ich kann die Lage bei der Diakonie nicht bewerten. Ich habe das Ganze bei uns so gehandhabt, dass ich im äußersten Notfall noch reagieren kann. Wie lange wir das noch so machen können, weiß ich nicht. Es kann durchaus in sechs bis acht Wochen auch so aussehen, wenn noch weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter länger ausfallen würden. Aber ich bin ja kein Hellseher. Bei uns beträgt aber - anders als bei der Diakonie - die Kündigungsfrist 28 Tage zum Monatsende. Ich habe in meinen 34 Jahren hier noch keine zehn Kündigungen an Patienten gehabt und wenn, dann auch nicht, weil wir es nicht mehr leisten konnten, sondern wegen der Unzumutbarkeit. Ich war aber auch schon so weit, zu sagen, wenn es so weitergeht mit dem Personalschwund, werden wir nicht drumherum kommen, Leuten zu kündigen.
Bindrim: Das ist eine Sache, die man für sich selber entscheiden muss. Ich würde einen Sozialplan nach der Schwere der Erkrankung oder dem Vorhandensein von Angehörigen machen. Aber es ist schwierig. Das ist dasselbe, wie bei der Frage, wen nehme ich auf. Da sind wir ja auch schon gezwungen, eine Triage zu vollziehen.
Bindrim: Das mit der Diakonie hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Letztes Jahr im Sommer, als die Diakonie schon einmal über 40 Verträge in unserem Einzugsgebiet gekündigt hat, haben wir welche aufgenommen. Da lief das auch sehr gut, da haben sie rechtzeitig Bescheid gesagt und gefragt, ob wir welche nehmen können. Dieses Mal haben wir von den Kündigungen erfahren, weil die Patienten hier angerufen haben. Seit einer Woche steht das Telefon nicht mehr still, weil die Leute einen neuen Pflegedienst suchen. Wir können niemanden aufnehmen, weil wir selbst keine Mitarbeiter finden und es nicht in unserem Versorgungsgebiet ist. Ich weiß, dass die Kollegen in der Innenstadt dasselbe Problem hatten und nichts aufnehmen konnten, weil sie selbst am Limit sind.
Bindrim: Die meisten heutzutage wollen keinen 24/7-Job haben. Dabei weiß jeder, der in die Pflege geht, dass er so arbeiten muss. Es sind ein paar Sachen. Aber Geld ist nicht alles. In der Pflege gehörte es schon immer dazu, dass derjenige das von Herzen gerne macht. Die meisten jungen Leute hauen irgendwann ab, weil sie es nicht mehr mitmachen, immer und immer wieder aus dem "frei" geholt zu werden.
Bindrim: Insgesamt hat unser Staat bei dem Thema in den letzten 30 oder 40 Jahren versagt. Als ich mit 17 Jahren in der Pflege angefangen habe, gab es Ausbildungskurse in Krankenhäusern mit 25 Ausbildungsplätzen mit 400 Bewerbungen. Dann haben irgendwann die Pflegekonzerne angefangen, die öffentlichen Häuser aufzukaufen und die Pflegeschulen zu schließen. Außerdem hat man damals entweder Wehr- oder Zivildienst gemacht und in der Altenpflege musste man seine Ausbildung noch selbst finanzieren. Und es gab noch das Soziale Jahr. Damit und mit dem Zivildienst hat man sehr viele junge Leute in den pflegerischen Beruf bekommen.
Bindrim: Die Vorgaben bedeuten viel Stress. Wenn ich in der Pflege arbeite, muss ich mich nach wie vor testen, ich muss nach wie vor eine Maske aufhaben. Bei mehr als 30 Grad ist das nicht mehr so lustig. Dazu kommt die Uneinsichtigkeit der Patienten, wenn sie keine Maske tragen wollen. Wenn Sie zum Patienten herausgehen und ihn pflegen, dann müsste er auch eine Maske aufziehen. Ich schütze ihn, er schützt mich. Aber dann kommt der Stress, wenn er fragt, warum soll ich eine Maske aufziehen, ich bin doch den ganzen Tag daheim? Wenn die Politik zu dem Schluss kommt, dass man keine Schutzmaßnahmen mehr im Alltag braucht, dann muss sie sie auch für alle anderen Lebensbereiche abschaffen. Genauso mit der Impfpflicht.
Bindrim: Was ich nicht verstanden habe: Man hat eine Impfpflicht für unseren Bereich eingeführt. Die alte Regierung war für die Impfpflicht für alle, in der Opposition wusste man plötzlich nichts mehr davon. Dann kam der Regierungswechsel und die neue Regierung hat gesagt, es sei jedem freigestellt. Keiner hat genug Mumm gehabt, zu sagen, wir machen die Impfpflicht für alle. Ich bin selbst geimpft und würde mich immer wieder impfen lassen, aber bei der Zahl an Ungeimpften in unserer Bevölkerung werden wir dies nie in den Griff bekommen.
Bindrim: Es sind alle Politiker hier in der Verantwortung, egal ob in der Regierung oder in der Opposition. Ich habe von den wenigsten der 33 Landtags- und Bundestagsabgeordneten, die ich angeschrieben habe, eine Antwort auf meinen Brief erhalten. Von zwei Antworten war ich positiv überrascht. Von den anderen, muss ich sagen, bin ich bitter enttäuscht. Ein Politiker hat mich angerufen und gesagt: "Ich gebe Ihnen in allem Recht, was sie reingeschrieben haben, aber wir haben keine Lösung." Was ich mittlerweile in der Politik vermisse, sind ein paar bodenständige Leute, ein paar Menschen aus dem Volk, die mitkriegen, wie es in der Pflege läuft. Das fehlt.
Bindrim: In der Stadt Schweinfurt und auch im Landkreis wurde in den letzten 20 Jahren ein Pflegeheim nach dem anderen genehmigt. Man hat aber irgendwann eigentlich schon gewusst, dass es nicht mehr genug Personal dafür gibt, aber die Gebäude weiter genehmigt und diese subventioniert. Wenn ich als Staat oder Kommune für eine Infrastruktur in der Pflege sorge, so muss ich auch dafür Sorge tragen, dass hier genügend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vorhanden sind. Dies hat man schlicht und einfach ignoriert. Wir haben mittlerweile so viele Beratungsstellen. Wofür beraten sie? Sie beraten für etwas, was die Leute nicht kriegen können. Es gibt die Menschen nicht, die das leisten können.
Für mich war es eine Berufung!
Aber zu meinen Kindern habe ich vor über 20 Jahren schon gesagt, macht ALLES, nur keinen Pflegeberuf...es wurde damals schon Jahr für Jahr schlimmer....schon zum damaligen Zeitpunkt war abzusehen, wo es hinführen wird.
Als während Corona geklatscht wurde, dachten ich und meine Schwiegertochter, welche als Ärztin auch in diesem Bereich arbeitet, daß fer Beruf nun endlich die Anerkennung findet, die er schon lange gebraucht hätte....wir wurden im Familienkreis über unsere Naivität da schon belächelt
Es ist mehr als traurig....
Ich frage mich nur, wer soll mich mal pflegen, wenn es soweit ist?
Ich habe mich psychisch und physisch aufgearbeitet....und nun???
ich finde auch den Zeitpunkt Verabschiedung Kessler Rosa in Ruhestand und Kündigung bemerkenswert.....
es wird nicht besser werden. das Interview wird leider nix ändern
Die Gründe für den " aktuellen Zustand" sind sehr komplex. Der Idealismus, sich für eine Aufgabe zu begeistern und sich dafür zu engagieren, hat meiner Meinung nach stark nachgelassen. Planbare Freizeit ist zum neuen Standard geworden. Die Solidarität mit kranken und alten Menschen hat insgesamt auch sehr nachgelassen.
Praktikumseinsätze, soziales Jahr, Patenschaften von Schulen mit sozialen Einrichtungen wäre ein kleiner Baustein, wo noch viele Ideen folgen müssten, damit die Begeisterung für einen sozialen Beruf erstmal erlebt und persönlich wahrgenommen werden kann.
Ehrliche und sinnstiftende Arbeit kann auf alle Fälle eine tiefe Zufriedenheit mit dem Einbringen persönlicher Stärken mit sich bringen.