Beim ambulanten Pflegedienst Bergmann/Ritschel in Langenprozelten klingelt das Telefon. Der Sozialdienst eines Krankenhauses ruft an, ein Patient muss entlassen werden. Er braucht ambulante Pflege. Stefanie Bergmann sagt zu – mit Einschränkungen: "Wochenende können wir nicht machen und abends nicht", sagt sie. "Wenn Krankheitsfälle sind und Urlaub kann es auch sein, dass ein paar Tage keiner kommt. Und vor zehn Uhr wird's nix." Denn der neue Patient kann höchstens an eine vorhandene Tour "drangehängt" werden.
Zustände sind aktuell dramatisch
Solche Zustände, sagen die Bergmanns und Co-Leiterin Christiane Ritschel, haben sie in ihren 25 Jahren als Pflegedienst-Chefs noch nicht erlebt. "Es war schon immer ein personeller Notstand da und der Bedarf an Pflegekräften war schon immer hoch", sagt Christof Bergmann. "Aber momentan ist ein Punkt erreicht, an dem es uns emotional zu schaffen macht." Regelmäßig müssten sie Anfragen von weinenden Angehörigen oder Pflegebedürftigen ablehnen. "Sie sind schon der Fünfte, den ich anrufe", sagen dann manche Anrufer und Anruferinnen. Einmal konnte ein Anrufer nur deshalb spontan untergebracht werden, weil wenige Stunden zuvor in der Nacht ein Patient gestorben war.
Besonders ein Fall hat Christof Bergmann bewegt: "Eine Frau hat weinend angerufen und gesagt: Sie sind meine letzte Hoffnung. Ich finde keinen Pflegedienst, der mich betreut, um meinen Fuß zu verbinden. Ich möchte meinen Fuß nicht verlieren", erzählt er. Doch er musste der Frau absagen – sie wohnt so ländlich, dass die 50-minütige Fahrt nur für das Wechseln eines Verbandes zu weit ist.
Tariftreuegesetz verspricht höheres Gehalt
Auch der Pflegestützpunkt Main-Spessart berichtet auf Anfrage: "Der Rückgang der Geburten, fehlender Nachwuchs in der Pflege und der erhöhte Pflegebedarf durch die im Durchschnitt immer älter werdende Bevölkerung stellen alle ambulanten und stationären Versorger gerade im ländlichen Bereich vor große Probleme."
Dazu kommen überbordende Bürokratie, gestiegene Spritpreise und mehr. Ein Punkt, der den Notstand laut Pflegedienst Bergmann/Ritschel deutlich verschärft: die gestiegenen Lohnkosten. Denn seit dem 1. September 2022 gilt die Tarifpflicht für Pflegeberufe auch für private ambulante Pflegedienste. Ritschel und die Bergmanns mussten die Löhne an regional vorhandenen Tarifverträgen ausrichten. Für eine Fachkraft in Gemünden heißt das laut Ritschel: mehr als 23 Euro pro Stunde.
Im gleichen Zug wurden die Leistungen, die die ambulanten Pflegedienste abrechnen können, nur geringfügig erhöht. Erst im Januar 2023 gab es hier vier Prozent mehr, wie der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste, auf Anfrage erklärt. Zum 1. Juli ist mit einer neuen Vereinbarung zu rechnen.
Eine Anfahrt im ländlichen Bereich wie oben erwähnt, 25 Minuten hin, 25 Minuten zurück, kosten die Arbeitgeber dann schon fast 20 Euro. Fürs Tauschen eines Verbandes "kriege ich etwa 15 Euro", sagt Christof Bergmann. "Da können Sie sich ausrechnen: Das funktioniert nicht." Gerade für ältere Leute, die ländlich wohnen, sei das dramatisch, sagt Stefanie Bergmann. "Das ist auch für uns ein ganz schlimmes Gefühl, da abzusagen."
Ambulante Pflege ist auch in Marktheidenfeld schwierig
In Marktheidenfeld ist die Situation ähnlich. Die dortige Sozialstation St. Elisabeth ist vor allem bemüht, die Mitglieder der beteiligten Kirchengemeinden zu versorgen. Einzelne neue Patientinnen und Patienten kann sie aufnehmen – je nachdem, wo sie leben. Zwei Touren mussten wegen Krankheitsfällen jedoch ganz eingestellt werden, berichtet Irina Jakob, stellvertretende Pflegedienstleiterin der Sozialstation. "So schlimm war es wirklich noch nie", bestätigt sie die Eindrücke aus Gemünden. Wenn wieder genug Personal da ist, will sie die Touren wieder öffnen. "Wir hoffen, dass es wieder besser wird", sagt Jakob.
Mehr Glück als die Dame mit dem verletzten Fuß hatte Familie Schäffer. Die 63-jährige Frida Schäffer ist hochdement, ihr drei Jahre älterer Mann Michael pflegt sie. Nur den Katheter kann er nicht selbst legen und suchte mehrere Monate nach einem Pflegedienst, der das übernimmt. "Wie viele Leute haben gesagt, sie machen es nicht", erzählt er. Beim Pflegedienst aus Langenprozelten wurde er dann doch fündig.
Seit etwa einem Jahr kommt Christiane Ritschel einmal im Monat vorbei und wechselt den Katheter – unentgeltlich. "Jetzt ist alles okay", sagt Schäffer. Bei allem Zeitdruck, Personalmangel und wirtschaftlichem Engpass: Auf solche "ehrenamtlichen" Leistungen will Ritschel nicht verzichten. "Sowas lasse ich mir nicht nehmen", sagt sie.
Katheter legen als Ehrenamt
Also legt sie weiter Katheter bei mehreren Personen, ohne die Leistung abzurechnen, um die Menschen zu entlasten. Die Verordnung für das Legen des Katheters zu besorgen, sagt Ritschel, sei aufwändiger als die Durchführung selbst. Das Material besorgt die Familie auf Rezept in der Apotheke. Ärzte seien am Wochenende auch nicht erreichbar, wenn etwa der Katheter verstopft ist, erklärt sie.
Ihr liegt auch ein weiteres Projekt am Herzen: Die Senioren-WGs, die Christof Bergmann und sie gegründet haben. In den beiden WGs wohnen je sieben Seniorinnen und Senioren bei 24-stündiger Betreuung durch den Pflegedienst. Früher betrug der Eigenanteil der Bewohnerinnen und Bewohner nur 1500 Euro im Monat. Durch die höheren Löhne musste der Pflegedienst den Eigenanteil schon auf 2000 Euro im Monat anheben. "Wir wissen nicht genau, wie es mit den WGs weitergeht", sagt Ritschel. Zu ungewiss ist die wirtschaftliche Situation.
Impfpflicht in der Pflege ist aufgehoben
Ein weiteres Ärgernis: die Bürokratie. "Wir sitzen im Büro und wissen nicht mehr, welches Formular man zuerst ausfüllen muss", sagt Christof Bergmann. Und die Personalknappheit trifft auch seinen Pflegedienst. Zwei Bewerbungen seien im vergangenen Jahr lediglich an der Impfpflicht für Pflegepersonal gescheitert – die zumindest seit dem 1. Januar 2023 nicht mehr gilt.
Körperlich, emotional, logistisch und wirtschaftlich fühlen sich die Bergmanns und Christiane Ritschel ausgelaugt. "Wir laufen auf dem Zahnfleisch", sagt Christof Bergmann. Von der vielversprochenen Entlastung komme bei ihnen nichts an. Er trat selbst an diese Redaktion heran: Es komme bisher in der Öffentlichkeit und in der Politik nicht an, "wie ernst die Lage wirklich ist."
Aber ich möchte gerne Frau Ritschels Einsatz loben, die die Katheter unentgeltlich legt, also quasi im Ehrenamt.
Wunderbar, dass es Leute wie Sie gibt, Frau Ritschel, ganz toll!
Das mit dem Geld ist überall eins der Probleme, weil die „ Frauenberufe“ noch nie angemessen bezahlt wurden, kenne ich von meiner Mutter. Wer nicht „gut“ verheiratet ist und/ oder gut verdienende Kinder hatte, dem droht Armut, echte Sauerei.
Nur: die Gehälter werden nicht von der Kirchensteuer bezahlt, das liest sich hier indirekt so. Die Caritas ist fast ein ganz normaler Arbeitgeber, wenn man die Konfessionsproblematik rauslässt und vor allem den schlechten Ruf, besonders hartnäckig gegen Tariflöhne zu sein. Und ob es „christlich“ war, vor Jahren meine Nichte, die dreisterweise während der Probezeit schwanger wurde, umgehend schnell rauszuwerfen, das zu beurteilen überlasse ich jedem selbst. Es liegt sicher am allg. Fachkräftemangel, aber auch am Ruf (vieler kirchlichen Träger), wenn jemand genauer reinschaut. Das sind nicht nur die Kirchenaustritte, da fehlen auch Spenden - teils aus vorgenannten Gründen! Bitter!
Das Problem der schlechten Bedingungen in den Sozialberufen ist nicht die Caritas, sondern die privaten Anbieter, die schlechter bezahlen und damit das allgemeine Niveau drücken (bspw. fließen dadurch in der Refinanzierung durch Sozialversicherungen weniger Gelder).
Die Caritas finanziert sich aus: Leistungsentgelten der Leistungsträger, Eigenbeiträge der Leistungsempfänger, Öffentliche Zuschüsse, Spenden und Eigenmittel (zu denen die Kirchensteuer zählt). Quelle: https://www.caritas.de/diecaritas/wir-ueber-uns/transparenz/finanzierung/ueberblick
In der Pflege muss viel passieren. Unsere Modelle sind, egal für wieviel gute Bezahlung, im demografischen Wandel unhaltbar. Wenn man sich neben der kirchlichen Betrachtung einmal der von Finanzinvestoren zuwendet, die längst im Immobilienbereich über entsprechendere Modelle „ wie werden wir zukünftig leben“ nachdenken, inkl. dem Gesundheitsbereich, dann sieht man die Fehlsteuerung, Symptome bekämpfen statt mehr Prävention. Meine Mutter war nach ihrer Krankenschwesterzeit Nachtwache in einer Einrichtung, und sie sagte voller Angst, als sie in eine Residenz wechselte: da wird man zu Tode gepflegt. Ja, nach bestem Wissen und Gesetz.
Ich habe mehr als 40 Jahre in diesem Bereich gearbeitet!!
Nie waren genug Menschen für die Betreuung des uns anvertrauten Klientels da, da ja immer die Lohnkosten finanziell gedeckelt sein mussten!!
Ich hatte immer die Hoffnung, daß irgendwie mal etwas besser wird.....aber nein, es wurde immer schlimmer!
Ich war damals auch in leitender Position, zu guter letzt sagte ich mir, das wenige Personal wenigstens gut einarbeiten, mit dem Personal klar kommen....jedes Personal ist besser als gar keines...
Und genau in der Situation sind wir jetzt!
Nur wie sieht es aus, wenn wir mal selbst Pflege benötigen???
Leider kommt es in der Politik nicht an, wie schlimm die Situation wirklich ist!
80% gehen an diejenigen, die sowieso schon viel zu viel von Allem haben. Die restlichen 20% sollen für den Rest der Bevölkerung ausreichen. Das Problem in diesem Land sind nicht die armen Menschen, sondern die wenigen Reichen die mit ihrem Geld Politiker kaufen, um eine gerechte Umverteilung zu verhindern. Die Union hält da ganz vorne mit die Taschen auf. Parteispenden müssen verboten werden und große Vermögen deutlich stärker besteuert werden. Dann bleibt auch genug für die Pflege.
Nicht umsonst ist die Union strikt gegen Offenlegung der Lobbykontakte und Abschaffung des Parteispendensystems. Wir sehen immer nur die Spitze des Eisbergs. Die Union sorgt dafür, dass es auch so bleibt.