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Schweinfurt
Von Mutter und Ziehvater zur Prostitution gezwungen: Eine junge Frau erzählt, wie sie den Ausweg gefunden hat
Sie war finanziell und emotional abhängig von der Familie. Dass hier Straftaten begangen wurden, erkannte sie nicht. Ihr Weg bis zum Prozess – und in ein neues Leben.
Josy musste vor Gericht gegen ihre Mutter und den Ziehvater aussagen, die wegen sexuellen Missbrauchs, Zwangsprostitution und Zuhälterei angeklagt waren. Eine schwere Vernehmung für die junge Frau. 
Foto: Ivana Biscan | Josy musste vor Gericht gegen ihre Mutter und den Ziehvater aussagen, die wegen sexuellen Missbrauchs, Zwangsprostitution und Zuhälterei angeklagt waren. Eine schwere Vernehmung für die junge Frau. 
Lisa Marie Waschbusch
 |  aktualisiert: 15.07.2024 11:13 Uhr

Es war nur eine Verwechslung, ein Missverständnis. Gleiche Haarfarbe, gleiche Statur. Ein Mann sprach sie auf der Straße an, mit dem Namen, den sie für ihre Arbeit als Prostituierte immer genutzt hatte. Ganz schlecht sei ihr in dem Moment geworden, erzählt die junge Frau. Schnell klärte sich das Missverständnis auf, doch der Schock saß tief.

Es hätte jeder andere Name sein können, aber warum gerade der? Gerade dieser eine Name, der sie an ihre Vergangenheit, gefangen in einem toxischen Familienkonstrukt, erinnern sollte?

"Es wird immer wieder Momente geben, in denen ich daran erinnert werde", sagt die junge Frau, die in diesem Text zum Schutz Josy heißen soll. "Es ist meine Vergangenheit, die lässt sich nicht ausradieren." Eine Vergangenheit, die sie jetzt öffentlich machen will, um anderen Betroffenen Mut zu machen. Um ihnen zu zeigen, wie sie es geschafft hat, sich ein neues, eigenes Leben aufzubauen.

Jahrelang war Josy finanziell, aber vor allem emotional abhängig. Das wird in dem langen, sehr intimen Gespräch mit ihr klar. Und das ist der Grund, warum sie nicht einfach die Familie verlassen konnte. Auch wenn das für viele unverständlich sein mag.

Auf der Anklagebank sitzen die eigene Mutter und der Ziehvater

Am 17. Januar 2023 startet am Landgericht Schweinfurt der Prozess gegen einen 54-Jährigen. Die Vorwürfe: sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen, Zwangsprostitution und Zuhälterei. Mitangeklagt ist eine 51-Jährige, die sich wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch und Zwangsprostitution verantworten muss. 

Es sind Josys Mutter und deren Lebensgefährte. Die Mutter, zu der die junge Frau, wie sie sagt, immer ein gutes Verhältnis gehabt habe. Und der Ersatzvater, den sie kenne, seit sie neun Jahre alt war. Der ihr Schwimmen beibrachte, mit ihr wandern ging, später Motorrad fuhr. Josy habe ihm so viel zu verdanken, habe die Mutter immer gesagt.

Josys Mutter und deren Lebensgefährte im Januar auf der Anklagebank vor dem Landgericht Schweinfurt. 
Foto: Heiko Becker, dpa | Josys Mutter und deren Lebensgefährte im Januar auf der Anklagebank vor dem Landgericht Schweinfurt. 

Doch der Ziehvater soll sich auch, so steht es in der Anklageschrift, an der damals 15-jährigen Josy jahrelang vergangen und sie später – gemeinsam mit ihrer Mutter – in die Prostitution gedrängt haben. Er sei immer zu Hause gewesen, eine Bezugsperson, sagt die junge Frau heute. Die Mutter sei eine Zeitlang erst spät abends heim gekommen. Erst später wird Josy erfahren, dass auch ihre Mutter als Prostituierte gearbeitet hat. 

Es klingt beinahe unglaublich, was Josy erzählt. Doch es zeigt, in welchem kleinen Kreis sie jahrelang verkehrte. "Ich habe gar nicht gemerkt, dass das Straftaten sind. Ich hatte ja keine Familie zum Vergleichen", sagt die junge Frau. "Es wurde nur immer gesagt, ich darf mit niemandem darüber sprechen, das ist das Geheimnis unserer Familie."

Die Familie – das waren nun mal sie, die Mutter und deren Lebensgefährte. 

Eine Gynäkologin wollte Josy befreien, doch die Mutter intervenierte

Die Abgrenzung habe früh begonnen. "Schon während der Schulzeit wurden meine Freunde in der Familie schlechtgeredet", erzählt Josy. Auch der Kontakt zur Schwester, die schon früh ausgezogen sei, sei nicht für gut befunden worden. Sie sei kein guter Umgang für Josy, habe es immer geheißen.

Josy erzählt von mehreren Versuchen zu entkommen. Ihre Gynäkologin etwa habe sie ins Frauenhaus schicken wollen. Daraufhin die Mutter: Das könne sie ihr nicht antun, sie könne sie doch nicht allein lassen. Dann habe es einen Versuch gegeben, gemeinsam mit der Mutter auszuziehen. Sie sahen sich sogar eine Wohnung an. Es wurde nichts.

Ein neuer Partner hilft Josy beim ersten Schritt in Richtung Ausweg

Josy glaubt den Grund dafür zu kennen, dass die Mutter sie nicht gehen lassen wollte. "Der Lebensgefährte hat immer zu ihr gesagt: 'Wenn sie geht, gehe ich auch. Mich hält hier ja nichts.' Deswegen wollte sie, dass ich dableibe." Josy beschreibt das als "Dreiecksverbindung mit Druck und Erpressung", als ein "gegeneinander Ausspielen".

Irgendwann lernt Josy einen Mann kennen, vertraut sich ihm an. Der Freund, geschockt über das "Familiengeheimnis", habe ihr sofort angeboten, bei ihm wohnen zu können. "Er hat mir die Augen geöffnet", sagt Josy. Mit seiner Hilfe habe sie es geschafft, aus dem Haus der Familie zu ziehen. 

Doch es kommt ein Rückschlag, Josy knickt ein, geht zurück zur Mutter und dem Ziehvater. Sie führt den Grund dafür nicht weiter aus, sagt nur, die Mutter habe sie mit einer Aussage sehr verletzt. Nach zwei Wochen zu Hause hält sie es jedoch nicht mehr aus, geht zurück zu ihrem Freund – und vertraut sich kurze Zeit später auch ihrer Schwester an.

Am 6. Dezember 2021 gehen Josy und ihr Freund zur Polizei. Eigentlich will sie nur Begleitschutz, um ihre Sachen erneut aus dem Haus der Mutter und deren Lebensgefährten herauszubekommen. Sie habe Angst gehabt, sie sagt: "Ich wollte mich nicht wieder diesem Psychoterror aussetzen."

Rechtsanwalt Jürgen Scholl vertrat Josy vor Gericht in der Nebenklage.
Foto: Anand Anders | Rechtsanwalt Jürgen Scholl vertrat Josy vor Gericht in der Nebenklage.

Die Beamten haben einen guten Riecher, als sie Josy fragen, ob sie noch etwas auf der Seele habe. Es sei nicht ihre Intention gewesen, eine Anzeige zu machen. Aber es habe sich richtig angefühlt, zu erzählen, was hinter dem Wunsch nach Begleitschutz stecke. "Ich saß bestimmt fünf, sechs Stunden auf der Wache", erzählt Josy. "Wenn der Polizist nicht nachgefragt hätte, wäre ich wahrscheinlich nicht da, wo ich heute bin." Die Beamten alarmieren den Kriminaldauerdienst und so kommt eines zum anderen.

Statt sich erleichtert zu fühlen, kämpft Josy mit sich. "Danach habe ich mir wahnsinnig viele Vorwürfe gemacht", erzählt sie. Es habe immer geheißen: "Geh auf keinen Fall zur Polizei, wenn du das machst, ruinierst du uns alle." Als sie kurz nach der Anzeige Kontakt zu Verwandten aufgenommen habe, habe sie erfahren, was die Mutter ihnen erzählt habe: Josy habe zwei Leben mit der Anzeige kaputt gemacht.

"Stimmt, zwei Leben sind kaputt", sagt Josys Anwalt Jürgen Scholl. Er ist beim Gespräch mit der jungen Frau dabei. Und er schaut zu seiner Mandantin: "Ihres, als Sie noch minderjährig waren. Und Ihres, als sie volljährig waren."

Wildwasser Würzburg hilft Betroffenen durch Prozessbegleitung

Im Januar 2023 sitzt Josy in Schweinfurt vor Gericht und muss gegen die Mutter und den Ziehvater aussagen. "Gerade vor der Reaktion der Mutter hatte ich am meisten Angst", sagt sie heute. Deren Mimik, die Gestik. Man habe sie einschüchtern wollen. Anwalt Jürgen Scholl sagt: "Man hat es meiner Mandantin wirklich schwer gemacht."

Anfangs habe sie es nicht geschafft, die beiden Angeklagten anzuschauen. "Als ich mir sicher war, ich schaffe es, habe ich es auch gemacht. Um zu signalisieren: Ihr könnt mir nicht mehr sagen, was ich zu tun habe."

Josy wird vor Gericht nicht nur von ihrem Anwalt unterstützt. Neben ihr sitzt Katharina Amon. Die Sozialpädagogin arbeitet für Wildwasser Würzburg, eine Fachberatungsstelle für von sexualisierter oder anderer Gewalt betroffene Mädchen und Frauen. Amon und eine Kollegin bieten auch psychosoziale Prozessbegleitung an, eine zusätzliche Art der Unterstützung für Betroffene, eine Ergänzung zum anwaltlichen Beistand.

Die Sozialpädagogin Katharina Amon begleitet für den Würzburger Verein Wildwasser Betroffene von schweren Straftaten als psychosoziale Prozessbegleiterin ins Gericht.
Foto: Lisa Marie Waschbusch | Die Sozialpädagogin Katharina Amon begleitet für den Würzburger Verein Wildwasser Betroffene von schweren Straftaten als psychosoziale Prozessbegleiterin ins Gericht.

Der Unterschied ist: Die Betroffenen sollen der Prozessbegleiterin nicht über das Geschehene reden. Es geht lediglich um den Gang zur Polizei oder die Vorbereitung auf das Gerichtsverfahren, sagt Amon. Der Grund: "Wir können auch als Zeugen vor Gericht vernommen werden."

Josy hat in ihrem Fall als Betroffene von sexualisierter Gewalt einen Anspruch auf die Prozessbegleitung. Aber auch bei anderen schutzbedürftigen Verletzten wie etwa Kindern und Jugendlichen kann vom Gericht eine Hilfsperson beigeordnet werden.

"Es ist kein Zeichen von Schwäche, wenn man nach Hilfe fragt."
Josy, Betroffene

Das Gute an der psychosozialen Prozessbegleitung sei, dass sie im Saal bleiben dürfe, auch wenn die Öffentlichkeit ausgeschlossen werde, erklärt Amon. "Man ist Prozessbeteiligter, wie ein Verteidiger oder ein Schöffe." So kann Amon während der Vernehmung neben Josy sitzen, zu ihr hinüberschauen, sie "im Hier und Jetzt halten".

Josy ist es wichtig, darauf aufmerksam zu machen, "dass es solche Hilfe gibt". Und sie sagt: "Es ist kein Zeichen von Schwäche, wenn man nach Hilfe fragt. Ich habe lange Zeit gedacht, Augen zu und durch. Ich mache das alles mit mir allein aus."

Anwalt: Eine Therapie darf die Aussage der Geschädigten nicht behindern

Zusätzlich zur Prozessbegleitung hat Josy eine Therapie begonnen. "Dadurch, dass sich alles hingezogen hat, habe ich mit meiner Psychologin angefangen, mich ein stückweit so zu stabilisieren, dass ich die Flashbacks und Trigger ein wenig kontrollieren und verarbeiten kann", sagt sie. Bei der Vernehmung sei alles wieder hochgekommen. "Aber auch das habe ich geschafft."

Anwalt Scholl betont, wie wichtig frühzeitige psychologische Hilfe sei. Aber er warnt davor, zu früh mit Traumatherapie zu beginnen. "Dafür ist aus meiner strafrechtlichen Sicht erst Platz, wenn die Geschädigte ihre abschließende Aussage vor Gericht gemacht hat."

Die Mandantin und ihre Zeugenaussage seien in solchen Fallkonstellationen das zentrale Beweismittel. "Wenn ich die Interessen einer Verletzten vertrete, muss ich die Aufklärung der Straftat im Fokus haben", sagt Scholl. "Dann muss ich leider sagen, Sie dürfen nicht verarbeiten, vergessen, verdrängen, sondern müssen Ihre Erinnerungen vor Gericht schildern."

Josy darf endlich ein selbstbestimmtes Leben führen

Ende Februar 2023 verurteilt das Landgericht Schweinfurt Josys Mutter zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten. Der Lebensgefährte wird zu einer Haftstraße von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, die Angeklagten legten Revision ein.

Heute gehe es ihr gut, sagt Josy. Mit dem Urteil könne sie leben, auch wenn sie nicht wisse, " was passiert, wenn er aus dem Gefängnis kommt und wir uns über den Weg laufen". Es liege noch viel Arbeit vor ihr, jetzt gehe die Traumatherapie erst richtig los. "Einfach so tun, als wäre nichts gewesen, ist nicht."

Doch sie habe jetzt "ein eigenes Leben, in dem ich entscheiden kann, was ich machen möchte", erklärt Josy. Sie betont jedes "ich" in diesem Satz ganz besonders. "Ich habe mich wieder und ich habe die Möglichkeit, mich selbst zu entdecken." Ein toller Freundeskreis stütze sie. Und sie habe einen Partner, der sie liebt, wie sie ist. Und der ihr helfe, das alles zu bewältigen.

Schließlich sagt die junge Frau: "Endlich kann ich leben."

 
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  • gebsch.albrecht@web.de
    Tapfere, starke Frau.
    Alles Gute und viel Liebe, Kraft und Freude auf Ihrem Lebensweg.
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  • Lebenhan1965
    Man kann es kaum fassen,

    dass es Mütter gibt, die ihre Kinder verraten und verkaufen, um einen brutalen und windigen Liebhaber an sich zu binden.

    Unglaublich traurig, dass Kinder in unserem Land so etwas erdulden müssen und die Öffentlichkeit manchmal gezielt weg schaut.
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