
In jener Nacht hat Sonja Zweifel, will erst einmal darüber schlafen. Vielleicht in einer Woche zur Polizei gehen, auch wenn sie ganz genau begreift, was da vorhin im Haus ihrer Eltern passiert ist. Doch es passt nicht ins Gesamtbild. Der Mann, der sich als Lehrer vorgestellt hatte, der mit Kindern arbeitet. Und jetzt soll sie ihn anzeigen? Ihm die Zukunft verbauen?
Alles egal, sagt ihre Freundin, die sie in jener Nacht im März 2018 anruft und die direkt zu ihr kommt. "Der hat das gemacht, was du mir gerade erzählt hast, und das ist eindeutig eine Vergewaltigung."
Viereinhalb Jahre später sitzt Sonja, die eigentlich anders heißt, an einem kalten Novembernachmittag im Büro ihres Anwalts in Schweinfurt. Wenige Stunden zuvor hat sie vor Gericht gegen den mutmaßlichen Täter ausgesagt. Wie es ihr geht, fragt ihr Verteidiger Jürgen Scholl. "Ich bin einfach nur fertig", antwortet die junge Frau aus dem Landkreis Rhön-Grabfeld, und klingt gleichzeitig erleichtert.
Die Anzeigenquote bei Vergewaltigungen liegt bei knapp zehn Prozent
Heute weiß Sonja, dass es der richtige Schritt war, gleich zur Polizei zu gehen. Auch wenn es viel Überwindung kostete – und auch wenn für sie die wahre Odyssee erst dann begann. Nur wenige Überlebende sexueller Gewalt zeigen die Täter an. Aktuellen Zahlen des Bundeskriminalamtes zufolge liegt die Anzeigenquote bei schweren Vergehen wie sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung nur bei knapp zehn Prozent.
Die Gründe sind vielfältig. Für Sonja war es die Angst vor der Reaktion bei der Polizei und dass man ihr nicht glauben könnte. "Es ist ja nicht so, als würde man nicht wissen, dass es einem als Opfer so einer Straftat bei der Polizei auch anders ergehen kann", sagt die junge Frau. Sie habe Glück gehabt, sei auf zwei Polizeibeamte getroffen, von denen sie sich ernst genommen fühlte.
Sonja erinnert sich, wie sie den Namen des Mannes nannte und der Polizist ein Bild von ihm im System fand. "Beruhigen Sie sich", habe er gesagt. "Gute Menschen haben keine Bilder bei der Polizei."
Der mutmaßliche Täter ist kein Unbekannter bei den unterfränkischen Strafverfolgungsbehörden –und Sonja nicht die erste und letzte Frau, die er vergewaltigt haben soll. Doch es dauert bis Sommer 2018, bis die Polizei ihn festnimmt. Im Würzburger Ringpark war eine der Frauen nur knapp mit dem Leben davongekommen.
2020 begann der Prozess in Würzburg – aber Sonja musste weiterhin warten
Da lag Sonjas Anzeige schon ein paar Monate zurück. "Der war die ganze Zeit frei, ich wusste nie, ob ich gleich in ihn hineinlaufe irgendwo", sagt sie heute. "Ich hatte auch zu Hause Angst, weil er wusste ja, wo ich wohne."
Die Stimme von Jürgen Scholl bebt vor Empörung. Den Anwalt macht es sauer, dass seine Mandantin so lange auf einen Prozess warten musste. Und, dass ihr Verfahren nicht in den Würzburger Prozess, der bereits 2020 gegen den Mann gestartet war, integriert werden konnte. Scholl sagt: "Ich wollte, dass sie nicht noch länger warten muss. Es hätte ja ein Gesamtbild abgegeben. Es hat eine Tat in dem Verfahren in Würzburg gefehlt, nämlich die Ihrige."
Woran es lag? "Das Amtsgericht Schweinfurt hat im Dezember 2020 das Verfahren dem Landgericht Würzburg zur Prüfung vorgelegt", teilt der Leitende Oberstaatsanwalt Axel Weihprecht dazu mit. "Es wurde jedoch entschieden, dass das ohnehin bereits sehr umfangreiche Würzburger Verfahren nicht durch einen weiteren Tatvorwurf noch weiter ausgedehnt werden soll."

Sonja hatte sich schon vor jener Nacht im März 2018 mit dem Mann getroffen, sie hatten einvernehmlichen Sex. Auch in der Tatnacht schliefen sie zuerst einvernehmlich miteinander. Dann aber habe er von ihr Analsex verlangt, den sie strikt nicht wollte, erzählt Sonja. Nachdem sie sich weggerissen und im Bad eingesperrt hatte, habe sie aus "Angst vor Schlimmerem unter Tränen erneut mit ihm geschlafen", sagt die junge Frau. Anschließend habe er sie, als sie ihre Hunde zur Hilfe rufen wollte, eine halbe Minute lang gewürgt.
Für Sonja und ihren Anwalt sind das zwei Vergewaltigungen und eine Körperverletzung. Sie sagt heute: "Ich habe das Gefühl als Frau, wenn man einmal zu etwas 'Nein' gesagt hat, dann muss man dabei bleiben, sonst wird man nicht mehr ernst genommen."
Sonja: "Wäre es auch so langwierig gewesen, wenn er mir ins Gesicht geschlagen hätte?"
Die Polizei befragte den mutmaßlichen Täter und seine Aussage deckte sich mit der von Sonja – nur, dass er sagte, sie habe das alles gewollt. Wie in vielen solcher Fälle ohne Zeuginnen und Zeugen oder Videos stand: Aussage gegen Aussage.
Sonja sei körperlich nicht entstellt gewesen, sagt Sonja. "Ich hatte blaue Flecken und rote Adern in den Augen." Vom Würgen. Sie sprach ihre Bedenken, man könnte ihr nicht glauben, bei der Ärztin in der Rechtsmedizin an. "Sie hat mir erklärt: Man muss nicht komplett Blut überströmt sein, damit das bewiesen ist." Doch manchmal, das gibt die junge Frau zu, während sie sich im selben Moment dafür schämt, hätte sie sich gewünscht, man hätte es ihr äußerlich mehr angesehen. "Ich habe mich oft gefragt: Wäre es auch so langwierig gewesen, wenn er mir ins Gesicht geschlagen hätte?"
Sonja musste ihre Glaubwürdigkeit beweisen, immer und immer wieder. "Ich dachte, es reicht, wenn ich zur Polizei gehe und die mich glaubhaft finden", sagt sie. Stattdessen musste sie sich einem mehrstündigen psychologischen Gutachten, das die Staatsanwaltschaft angeordnet hatte, unterziehen.
Sonja wurde als glaubhaft eingestuft – gereicht hat es zunächst trotzdem nicht
Dass dabei immer erst einmal davon ausgegangen wird, dass die Überlebende sexueller Gewalt sich das alles nur ausgedacht hat, sei für Sonja besonders hart zu akzeptieren gewesen. "Man macht einen Seelenstriptease, von der Kindheit an", sagt die junge Frau. "Es stellt sich im Gutachten die Frage: Wo könnte irgendwas beim Opfer schiefgegangen sein?" Ohne überhaupt beim mutmaßlichen Täter zu schauen.
Sonja wurde von der Psychologin als glaubhaft eingestuft. Und doch reichte es erst einmal nicht zur Anklage wegen Vergewaltigung. Immer wieder flatterten die Briefe der Staatsanwaltschaft Schweinfurt bei Sonja ins Haus, das erste Mal im Dezember 2018, kurz vor Weihnachten. Darin stand: Das Verfahren wird hinsichtlich der Vergewaltigungen mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt.
"Die Staatsanwaltschaft hat dann die völlig falschen rechtlichen Schlussfolgerungen gezogen und hat statt mehrfacher Vergewaltigung nur eine einfache Körperverletzung angeklagt", sagt Jürgen Scholl. Und so kam es später wegen des bereits laufenden Ermittlungsverfahrens in Würzburg zu einer Einstellung des Verfahrens wegen Körperverletzung nach Paragraf 154 StPO.
In Juristendeutsch heißt das: "Die Staatsanwaltschaft kann von der Verfolgung einer Tat absehen, wenn die Strafe (...), zu der die Verfolgung führen kann, neben einer Strafe (...), die gegen den Beschuldigten wegen einer anderen Tat rechtskräftig verhängt worden ist oder die er wegen einer anderen Tat zu erwarten hat, nicht beträchtlich ins Gewicht fällt."
In Sonjas Fall war zunächst nur von einer Körperverletzung ausgegangen worden
Das Problem also: Im Fall von Sonja war die Staatsanwaltschaft Schweinfurt nur von einer Körperverletzung ausgegangen, während in Würzburg bereits die Ermittlungen wegen mehrfacher Vergewaltigung liefen. "Somit hat die Staatsanwaltschaft wegen der Vergewaltigungen mehrerer Frauen in Würzburg die Körperverletzung meiner Mandantin als dagegen letztendlich geringfügig angesehen", erklärt Jürgen Scholl.
Eine weitere Schwierigkeit: Sonja hatte bei der Polizei nicht von einem expliziten Eindringen gesprochen, sondern dass sie Schmerzen im Analbereich empfunden habe. Man sei davon ausgegangen, "dass dem Beschuldigten ein entgegenstehender Wille der Geschädigten erst zu diesem Zeitpunkt sicher erkennbar war und darüber hinaus ein strafbefreiender Rücktritt vom Versuch (der Vergewaltigung, Anm. d. Red.) in Betracht kommt", erklärt die Staatsanwaltschaft auf Nachfrage die Entscheidung.
Jürgen Scholl sieht das anders: "Nicht er hat aufgehört, sondern sie hat ihren Peiniger abgeschüttelt."
Scholl legte Beschwerde bei der Staatsanwaltschaft Schweinfurt ein, über die anschließend auch die Generalstaatsanwaltschaft Bamberg negativ entschied. Dagegen holte Scholl dann die Entscheidung des Oberlandesgerichts Bamberg (OLG) ein. Es empfahl der Staatsanwaltschaft in Schweinfurt durch Hinweise wegen Vergewaltigungen zu ermitteln. Dabei bestätigte das OLG insbesondere die Argumentation von Sonja und ihrem Anwalt, dass "Frauen, die weinen, keinen Sex wollen".
Staatsanwalt Christian Spruß entschuldigte sich bei Sonja
Die Staatsanwaltschaft Schweinfurt nahm die Ermittlungen im Sommer 2019 wieder auf und erhob im Februar 2020 Anklage wegen einer Vergewaltigung zum Amtsgericht Schweinfurt. Eine Entscheidung, die Anwalt Jürgen Scholl stutzig machte: "Beim Amtsgericht werden derart schwere Straftaten wie Vergewaltigungen mit einem Strafrahmen zwischen zwei bis 15 Jahren Freiheitsstrafe grundsätzlich nicht verhandelt."
Schließlich wurde das Verfahren zum Landgericht Schweinfurt verwiesen. Im Sommer 2022 und zuletzt am ersten Verhandlungstag gab es nochmals den Ansatz, Sonjas Verfahren wegen Geringfügigkeit nach Paragraf 154 StPO einzustellen, weil der Mann im Juni 2021 vom Landgericht Würzburg zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Diesem Ansinnen erteilten die Staatsanwaltschaft, die Nebenklage und auch das letztlich entscheidungsbefugte Landgericht eine klare Absage.
Als der Prozess schließlich im November 2022 begann, entschuldigte sich Staatsanwalt Christian Spruß bei Sonja für die lange Verfahrensdauer: "Es gab eine Fehleinschätzung, die wollen wir korrigieren."
Sonja ist sich heute sicher: "Wenn ich mich nicht an Herrn Scholl gewandt hätte, wäre es nicht zur Anklage gekommen." Etwa zwei Monate nach der Tat konsultierte sie den Anwalt. Jürgen Scholl will darauf aufmerksam machen, dass Verletzten bei bestimmten schweren Delikten, beispielsweise in Fällen sexualisierter Gewalt, ein anwaltlicher Beistand auf Staatskosten zur Verfügung stehen kann.
"Das ist für die meisten Frauen Neuland", sagt Scholl. "Die Details, Formalitäten und Auswirkungen von Aussagen kann das Opfer einer Straftat vor allem aufgrund der Traumatisierung unmittelbar nach der Tat überhaupt nicht einschätzen." Deshalb sei es notwendig, die verletzte Person auf ihre Rechte hinzuweisen – schon bei der Polizei.
Eine psychosoziale Prozessbegleitung hilft, wo der Anwalt es nicht kann
"Viele Frauen bekommen den Bescheid, dass das Verfahren eingestellt ist. Für die meisten ist damit ein Haken dran", berichtet Scholl. "Mit anwaltlichem Beistand kann man seine Rechte adäquat wahrnehmen lassen und ist in dem Verfahren letztlich rechtlich so vertreten, wie es auch die Staatsanwaltschaft und der Beschuldigte sind."
Jürgen Scholl machte Sonja auch auf die Möglichkeit einer psychosozialen Prozessbegleitung aufmerksam. Sprich einer Person, die den Verletzten in Strafverfahren zur Seite steht. "Diesen emotionalen Beistand können Anwältinnen und Anwälte regelmäßig nicht leisten." Solch ein Verfahren dauere unter Umständen sehr lange. "Deshalb ist es wichtig, dass die Verletzten in der Zeit auch in dieser Hinsicht nicht alleine gelassen werden."
Auch das nähere Umfeld der betroffenen Person könne all das nicht auffangen, sagt Scholl. "Man möchte nicht dauernd innerhalb der Familie über sowas reden", sagt Sonja.
Sonjas Glück war am Ende vor allem das Geständnis des Mannes vor dem Schweinfurter Gericht. Er wurde zu einer Gesamtfreiheitsstrafe – darin sind auch die Würzburger Taten berücksichtigt – von neun Jahren verurteilt. "Das Prozedere hat sich gelohnt, auch wenn es lang und schwer war", sagt sie jetzt. Mit dem Ende des Prozesses könne die junge Frau auch ein Stück weit mit dem Geschehenen abschließen.
Besonders schwer sei für sie allerdings nach wie vor, dass die Tat im Haus ihrer Eltern stattfand. "Man kommt ins Elternhaus, man kommt aber auch zum Tatort", sagt die junge Frau. "Und zwar jedes Mal."
Sehr belastend, dass das Opfer so lange warten musste.