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Schweinfurt/Bielefeld
Im Klinikum Bethel betäubt, vergewaltigt und gefilmt: Eine Betroffene aus dem Raum Schweinfurt kämpft um Gerechtigkeit
Ein Assistenzarzt vergeht sich an Frauen. Die Staatsanwaltschaft stellt die Ermittlungen ein, die Betroffenen erfahren erst drei Jahre später, was mit ihnen passierte. Auch Anna.
Eine Frau aus dem Raum Schweinfurt wurde im Klinikum Bethel in Bielefeld von einem Assistenzarzt betäubt, vergewaltigt und gefilmt. Obwohl ihr lange klar war, dass etwas nicht stimmt, hat sie erst fast drei Jahre später die Gewissheit. 
Foto: Ivana Biscan | Eine Frau aus dem Raum Schweinfurt wurde im Klinikum Bethel in Bielefeld von einem Assistenzarzt betäubt, vergewaltigt und gefilmt.
Lisa Marie Waschbusch
 |  aktualisiert: 31.08.2023 05:38 Uhr

Es war nur noch das eine Puzzleteil, das ihr fehlte. Da waren die Flashbacks, diese eine Szene. Das Krankenbett, der Arzt, eine Krankenschwester. Wie sie wach wurde, hochschreckte und sich den Zugang aus dem Handrücken zog. Wie die Personen neben dem Bett sie wieder hinunterdrückten, sie festhielten, als sie sich wehrte. Wie sie schließlich erneut narkotisiert wurde. 

Und dann waren da noch die Unterleibsschmerzen, die veränderte Persönlichkeit, die nächtlichen Schreianfälle. Und dass sie plötzlich keine Nähe mehr zulassen konnte.

Was mit ihr passiert war, weiß Anna fast drei Jahre lang nicht. Sie glaubt, dass es vielleicht nur ein böser Traum ist, der immer wieder hochkommt.

Bis im Januar 2022 die Kriminalpolizei mit einer Seelsorgerin an der Haustür der jungen Frau klingelt.

In ihrer Wohnung im Raum Schweinfurt, in der sie mit ihrem Mann wohnt, fragen die Beamten Anna zuerst, ob sie sich noch an ihren Aufenthalt im Evangelischen Klinikum Bethel in Bielefeld im Jahr 2019 erinnern könne. An den Assistenzarzt, der ihr damals ein Medikament verabreicht habe.

Und da ist es dann: das fehlende Puzzlestück, das sie all ihr Leiden plötzlich verstehen lässt. "Ne, oder?", platzt es aus ihr heraus.

Die Polizei offenbart Anna, die heute Mitte 20 ist und ihren vollen Namen nicht öffentlich machen will, an jenem Januarabend, dass Assistenzarzt Philipp G. ihr damals im Klinikum Bethel statt eines Schmerzmittels das Narkosemittel Propofol spritzte, sie vergewaltigte und die Tat auf sieben Videos festhielt.

Mindestens 30 Frauen soll Philipp G. im Bielefelder Klinikum vergewaltigt haben

Und, dass Anna nicht die Einzige ist. Die Staatsanwaltschaft Duisburg geht von 30 Geschädigten von Sexualstraftaten im Klinikum aus. Bei vier Frauen sieht die Ermittlungsbehörde zumindest eine gefährliche Körperverletzung durch die Gabe eines nicht indizierten Medikaments. Auch außerhalb der Klinik soll sich der Assistenzarzt an zahlreichen Frauen vergangen haben. Hier geht die Staatsanwaltschaft aktuell von 13 Sexualdelikten aus. 

Der Fall kam an die Öffentlichkeit, als eine der Frauen im Sommer 2019 ein Fläschchen Propofol in ihrem Krankenbett fand – und später zur Polizei ging. Monate später erst durchsuchten die Beamten Philipp G.s Wohnung, fanden Propofol und zahlreiche Videos, die die Taten zeigen. Hunderte Dateien, beschriftet mit den Namen der Frauen. So lange arbeitete der Assistenzarzt noch im Krankenhaus.

Im September 2020, als die Dateien ausgewertet waren, nahmen die Beamten Philipp G. fest. Er beging zwei Tage später in der Untersuchungshaft Suizid. Die Ermittlungen stellte die Staatsanwaltschaft Bielefeld ein. Die Begründung: Gegen Tote ermittelt man nicht.

Den übrigen Frauen auf den Videos sagten die Bielefelder Behörden nichts. Erst drei Jahre später, als das nordrhein-westfälische Justizministerium im September 2021 den Fall der Staatsanwaltschaft Duisburg übertrug, schickte diese Polizisten zu den Frauen. Und die Staatsanwaltschaft Duisburg nahm das Verfahren gegen den Chefarzt, einen Oberarzt und die Klinikleitung wegen Beihilfe zur Vergewaltigung durch Unterlassen auf. Der Kölner Stadt-Anzeiger und das ARD-Magazin Kontraste hatten zuerst darüber berichtet.

Anna hatte damals ständig Kopfschmerzen – und ging in die Klinik

Die Erinnerung an den Tag im Mai 2019 ist bei Anna, die damals in der Nähe von Bielefeld lebt, so präsent, als sei es erst gestern gewesen. Bei einem Treffen mit dieser Redaktion schildert die junge Frau ihre Geschichte: Sie hat damals ständig Kopfschmerzen, wird mehrmals bewusstlos. Zusammen mit ihrer Mutter und einer Nachbarin fährt sie ins Evangelische Klinikum Bethel, bekannt für eine "Top-Neurologie-Station", wie sie erzählt.

Im Krankenhaus warten die Frauen stundenlang. Irgendwann fahren Annas Mutter und die Nachbarin nach Hause, eine Freundin kommt. Um kurz vor Mitternacht, erinnert sich Anna heute, habe ein Assistenzarzt sie endlich aufgerufen. Es ist Philipp G.

"Er war total nett", sagt Anna heute. Sie soll ein paar Übungen machen, um die Motorik zu untersuchen. Der junge Arzt meint, sie solle über Nacht bleiben und am nächsten Tag ins MRT. Die Krankenschwester werde ihr einen Zugang legen. Er werde später vorbeikommen und Anna ein Medikament spritzen, damit sie besser schlafe und keine Schmerzen habe.

Gegen halb eins etwa kommt Anna auf die Station. Das dunkle Krankenhaus mitten in der Nacht, die flackernden Lichter. "Irgendwie ist das hier alles sehr gruselig", habe sie zu ihrer Freundin gesagt. Die beruhigte – Anna solle nicht so viele Horrorfilme schauen, sie sei doch hier in den besten Händen. Und ja, das habe sie sich immer wieder eingeredet: Sie ist doch in den besten Händen.

Nichts ahnend, dass der wahre Horror gerade erst beginnt.

Kaum ist die Freundin gegangen, kommen Philipp G. und eine Krankenschwester ins Zimmer. Anna erinnert sich, dass sie kein Licht anmachen, nur das Licht aus dem Flur dringt in das dunkle Zimmer. Der Arzt zieht eine Spritze aus seinem Kittel, gibt Anna das Medikament und dann – innerhalb von Sekunden, sagt die junge Frau – "war es eine Achterbahn der Gefühle, es hat sich gedreht und ich war weg".

Anna bekam angeblich Schmerzmittel, in Wirklichkeit war es Propofol

Am nächsten Morgen sei das Bett voller Blut gewesen, erzählt Anna. Sie fragt eine Krankenschwester, warum es hier aussehe "wie auf einem Schlachtfeld" und was man ihr gespritzt habe. Ein Schmerzmittel, habe die Schwester gesagt. Anna habe sich den Zugang gezogen, der Assistenzarzt habe ihn neu legen müssen.

Die junge Frau soll noch eine Nacht bleiben, bekommt dieses Mal tatsächlich ein Schmerzmittel. Am nächsten Morgen sagt sie zu den Schwestern: "Das war nicht dasselbe Medikament, das ich letzte Nacht bekommen habe."

Ein paar Tage später geht Anna zur Frauenärztin, sie hat Unterleibsschmerzen. "Da wurden dann Chlamydien festgestellt", berichtet die junge Frau. Bakterien, die bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr übertragen werden können. Doch Anna hatte in den Wochen vorher keinen Sex.

Ihre Stimme zittert, ihr kommen die Tränen, als sie davon erzählt. Erst drei Jahre später wird sie wissen, dass Philipp G. sie angesteckt hat. Mit mehreren Geschlechtskrankheiten, die bei der Obduktion seiner Leiche festgestellt worden waren.

Im Januar 2022 raten die Polizeibeamten Anna, sich "untersuchen zu lassen". Als hätte die junge Frau das in den fast drei Jahren nicht schon längst gemacht - ohne wirklich herauszufinden, woher ihre Beschwerden kommen. Die Krankheiten wüten mehr als zwei Jahre in ihrem Körper, mehrere Antibiotika-Therapien sind nötig. Anna sagt: "Und es kann mir keiner sagen, ob ich jemals Mama werden kann."

Doch sich in einer gynäkologischen Klinik untersuchen zu lassen – für Anna undenkbar: "Mit meiner Vorgeschichte werde ich mich wahrscheinlich niemals trauen, wieder in eine Klinik zu gehen."

Annas Anwältin ist sich sicher, dass das Klinikum Bescheid wusste

Die Bielefelder Rechtsanwältin Stefanie Höke vertritt Anna und weitere betroffene Frauen. Auch die Patientin, die damals den Fall erst ins Rollen gebracht hatte. Höke setzte sich dafür ein, dass die Frauen von der Staatsanwaltschaft informiert wurden. "Sie haben da ein Recht drauf", sagt die Anwältin. "Und es ist auch eine moralische Verpflichtung gegenüber den Frauen. Es sind Bilder, Filme gemacht worden, die Dritte gesehen haben."

"Weil sie angeblich Opferschutz betreiben wollten. Ein Scheiß! Das war Täterschutz und Klinikumsschutz."
Anna

Anna erstattete Anzeige – gegen die Staatsanwaltschaft Bielefeld und die Polizei. Der Vorwurf: Körperverletzung im Amt durch Unterlassen. Dass die Behörden "das drei Jahre wussten und uns nicht Bescheid geben wollten", macht die junge Frau fassungslos. Ihre Stimme bebt: "Weil sie angeblich Opferschutz betreiben wollten. Ein Scheiß! Das war Täterschutz und Klinikumsschutz."

Zivilrechtlich geht es für die junge Frau aus Schweinfurt deshalb auch um Schmerzensgeld vom Land Nordrhein-Westfalen, weil man sie so lange nicht über die Taten und die Geschlechtskrankheiten informiert hatte. Doch die Beweislast liegt bei den Frauen. Ein weiterer Schlag ins Gesicht, findet Anwältin Stefanie Höke. "Sie müssen nachweisen, dass die Geschlechtskrankheiten tatsächlich von dem Assistenzarzt herrühren und sie diese nicht schon vorher hatten." Das sei unmöglich.

Ein Fahrzeug der Polizei steht an einem Gebäude der Geschäftsführung des Evangelischen Klinikums Bethel. Polizisten durchsuchten das Krankenhaus im Zusammenhang mit Vergewaltigungsvorwürfen gegen einen Arzt.
Foto: Friso Gentsch, dpa | Ein Fahrzeug der Polizei steht an einem Gebäude der Geschäftsführung des Evangelischen Klinikums Bethel. Polizisten durchsuchten das Krankenhaus im Zusammenhang mit Vergewaltigungsvorwürfen gegen einen Arzt.

Sie sei sicher, dass das Klinikum von Philipp G.s Tun wusste, sagt die Anwältin. "Alleine von meinen Mandantinnen gab es mindestens vier Meldungen gegenüber Ärzten." Auch Recherchen des Westfalen-Blatts deuten darauf hin: Im Januar 2020 sei dem Assistenzarzt untersagt worden, Zugänge zu legen und Propofol zu benutzen. Doch noch im April 2020 habe er eine Frau vergewaltigt. 

Die mutmaßlichen Taten, erklärt die Staatsanwaltschaft Duisburg auf Anfrage, fanden im Zeitraum zwischen September 2018 und April 2020 statt.

Das Klinikum will erst im April 2020 von den Vorwürfen erfahren haben

Im Klinikum Bethel will man von dem, was Philipp G. gemacht hat, nichts mitbekommen haben. In einer Stellungnahme heißt es auf Anfrage: Erst im April 2020 habe man von der Anzeige der Patientin gehört, die eine Propofol-Flasche in ihrem Bett gefunden hatte. Dabei sei es jedoch "ausschließlich um den Tatverdacht der Körperverletzung in Bezug auf eine nicht sachgerechte Medikamentengabe" gegangen. Erst im September 2020 sei "überhaupt erst die tatsächliche Dimension der Taten des früheren Assistenzarztes deutlich" geworden.

In seiner Stellungnahme schreibt das Klinikum: "Die Taten des Assistenzarztes, (...), erschüttern uns tief." Diesen Frauen, die sich "vertrauensvoll auf der Suche nach medizinischer Hilfe an uns gewandt haben, ist ein Verbrechen widerfahren". Und weiter: "Es tut uns von Herzen leid."

Das Klinikum stehe den Frauen mit therapeutischer und medizinischer Hilfe zur Seite, zudem habe es einen Anerkennungsfond eingerichtet. "Der Fonds kann erlittenes Leid nicht ungeschehen machen, möchte aber Hilfe zur Verarbeitung der Verbrechen geben." Jede der Frauen bekam 20.000 Euro.

Anna sagt: "Was sind 20.000 Euro für das, was dieser Mann uns angetan hat?" Sie wolle, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Und sie wolle gemeinsam mit den anderen Frauen kämpfen. Und "mal ehrlich", fragt Anna: "Wer von uns Betroffenen nimmt diese Hilfsleistungen in Anspruch von einer Klinik, in der man sediert, vergewaltigt und gefilmt wurde?"

Dass Philipp G. tot ist – "das ist für mich ganz schrecklich", sagt die junge Frau. Lieber hätte sie ihn vor Gericht gesehen. "Das ist feige, er hat sich einfach aus dem Leben geholt."

Anna ist seit Januar 2022 arbeitsunfähig und sorgt sich um ihre Existenz

Wiltrud Werner vom Weißen Ring in Schweinfurt unterstützt Anna - seelisch und auch bei der Bürokratie. Annas Antrag auf Entschädigung nach dem Opferschutzgesetz ist bisher erfolglos geblieben. Und auch bei der Opferhilfe Bayern hat Anna keine Chance, da die Taten nicht hier stattgefunden haben.

"Sie hat Existenzängste, sie weiß nicht, wie es weitergeht", sagt die Leiterin der Außenstelle des Weißen Rings, die bei dem Gespräch neben ihr sitzt und ihr immer wieder die Hand auf den Arm legt. Seit Januar 2022 ist Anna arbeitsunfähig. Wer für ihren Verdienstausfall aufkommt, weiß die junge Frau bis heute nicht.

Eine posttraumatische Belastungsstörung, Depressionen – selbst einfachsten Alltagstätigkeiten könne sie nicht mehr nachgehen, berichtet die junge Frau. Zu groß ist ihre Angst, jemand wolle ihr etwas Böses. Wenn sie einmal drin sei in dieser Gefühlswelt, habe sie Furcht, ohnmächtig zu werden.

"Ich bin nicht mehr die, die ich einmal war", sagt Anna. Eine selbstbewusste, starke Frau, mit Spaß am Leben. Jetzt sei sie die, die immer Angst hat. Die keinem Menschen mehr vertrauen kann. Sie sagt: "So habe ich mir mein Leben nicht vorgestellt."

Hinzu kommen verletzende Kommentare aus dem Umfeld. Sowas wie: Du warst doch sediert und hast das doch nicht mitbekommen. Oder: Wann kommst du wieder zurück ins Leben, es ist doch schon so lange her. "In unserer Gesellschaft noch immer nicht anerkannt, dass es psychische Erkrankungen gibt, auch wenn sie nicht sichtbar sind", sagt die junge Frau.

Annas Mutter machte sich Vorwürfe – weil sie nach Hause fuhr

Anna fragt sich heute: Was, wenn sie in ein anderes Krankenhaus gefahren wären? Wenn sie sich woanders hätte untersuchen lassen? Ihre Mutter, die an jenem Abend mit ihr ins Klinikum gefahren war, gebe sich die Schuld, weil sie heimgegangen war. "Sie konnte ihr eigenes Kind nicht schützen", sagt Anna und versicherte der Mutter: "Mama, du brauchst dir keine Schuld zu geben. Schuld hat dieser Arzt und die, die mit im Boot waren. Das wusste doch keiner, was in dieser Nacht passieren wird. Man denkt ja, dass man sicher ist."

Sie selbst habe sich auch lange Vorwürfe gemacht. "Man geht davon aus, dass man selbst schuld ist." Mittlerweile weiß Anna: "Es wurde uns was angetan. Uns hat man außer Gefecht gesetzt. Uns hat man quasi den Körper genommen ohne unsere Einwilligung."

 
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