Auch im zweiten Jahr der Corona-Pandemie ist die Arbeit von Wildwasser e.V. nicht weniger geworden; gleichzeitig konnte die unterfränkische Fachberatungsstelle für Opfer von sexueller, körperlicher oder seelischer Gewalt ihr Aufgabengebiet weiter ausbauen: Dank einer Förderung aus dem Bundesinnovationsprogramm "Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen" konnte bis Ende dieses Jahres eine weitere Vollzeitstelle besetzt werden.
"Wir sind eine von wenigen Fachberatungsstellen, die für eineinhalb Jahre die Stelle und die notwendigen Sachkosten finanziert bekommen", erläutert Wildwasser-Geschäftsführerin Antje Sinn im Gespräch mit der Redaktion. "Wir können dadurch die Beratungsangebote für Frauen und Mädchen mit komplexer Traumatisierung erweitern und streben eine bessere Vernetzung der Strukturen an."
Auch Opfer organisierter oder ritualisierter Gewalt suchen bei Wildwasser Hilfe
Mit dem Begriff "komplexe Traumatisierung" sind die Folgen unterschiedlicher Gewalterfahrungen verschiedener Art und durch verschiedene Täter oder Tätergruppen gemeint. Zu den Klientinnen von Wildwasser gehören auch Frauen und Mädchen, die Opfer organisierter oder ritualisierter Gewalt geworden sind. Auf eine vom Verein erstellten Liste wurden alleine im Jahr 2021 die Namen von 38 Betroffenen aufgenommen. Das seien Patientinnen, "mit denen sich auch viele Therapeutinnen und Therapeuten sehr schwer tun. Da stecken Gewalterfahrungen dahinter, die kaum aussprechbar sind", fügt Sozialpädagogin Susanne Porzelt hinzu.
Deswegen hilft die Beratungsstelle jetzt auch den Therapeuten mit Gesprächs- und Fortbildungsangeboten. Diese Kapazitäten hatte der Verein bisher nicht: "Wir haben den Bedarf gesehen und einen Antrag für dieses innovative Projekt gestellt", sagt Sinn. Staatliche Förderung gibt es außerdem für Umbauarbeiten der Beratungsstelle, die im Herbst 2020 in die Theresienstraße umgezogen ist. "Was brauchen Betroffene?" ist die Kernfrage einer Fachtagung zum Thema "Komplexe Gewalterfahrung", die am 21. Oktober im Matthias-Ehrenfried-Haus in Würzburg stattfindet.
Sexueller Missbrauch findet meist durch Familienangehörige statt
Insgesamt war Wildwasser Würzburg e.V. im vergangenen Jahr für 515 Menschen mit Gewalterfahrungen die erste Anlaufstelle, das waren über zehn Prozent mehr als 2020 (464) – der deutliche Anstieg bei allen Angeboten aus den vergangenen Jahren hat sich damit fortgesetzt. Hauptthema der Klientinnen bleibt mit fast einem Drittel weiterhin sexueller Missbrauch, gefolgt von psychischer Gewalt (19 Prozent), körperlicher Gewalt (18 Prozent) und Vergewaltigungen (13 Prozent). In 77 Prozent der Fälle war beim sexuellen Missbrauch ein Familienangehöriger der Täter, in 28 Prozent war es der leibliche Vater.
Um sexuellem Missbrauch vorzubeugen, "müssen Kinder frühzeitig geschützt und informiert werden", betont Susanne Porzelt. Dafür gibt es das Präventionsprogramm "Starke Kinder Kiste" für Kindertagesstätten, das im vergangenen Jahr wegen der Corona-Beschränkungen nur in zwei Kitas stattfinden konnte. Das Programm besteht aus einer Fortbildung der Kita-Mitarbeiter und -Mitarbeiterinnen, einem Elternabend und einem sechswöchigen Programm, bei dem die Kinder lernen, "dass sie sich wehren und Hilfe holen dürfen", so Porzelt weiter: "Starke Kinder sind schlechter als Opfer für Missbrauch geeignet."
Pandemie führte dazu, dass Opfer den Tätern nicht entkommen konnten
Lockdowns, Kurzarbeit und Homeoffice während der Pandemie haben dazu geführt, dass Opfer von sexueller, körperlicher oder psychischer Gewalt den Tätern wochen- und monatelang überhaupt nicht mehr entkommen konnten: "Er war immer da", war ein Satz, den die Beraterinnen im letzten Jahr häufig gehört haben. "Je belasteter eine Klientin vorher schon war, desto stärker hat sich Corona ausgewirkt", sagt Porzelt.
In der Beratungsstelle steht auch eine qualifizierte Fachkraft zur Verfügung, die Opfer bei der komplizierten Antragsstellung für finanzielle Unterstützung aus dem "Fonds Sexueller Missbrauch" des Bundesfamilienministeriums unterstützt.