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Lülsfeld
Psychodruck und sexualisierte Gewalt in ehemaligem Kloster?
Aussteiger erheben schwere Vorwürfe gegen eine Gemeinschaft namens "Go&Change". Die sieht sich selbst als Opfer von Diffamierung. Was geht in Lülsfeld (Lkr. Schweinfurt) vor sich?
In dem ehemaligen Kloster 'Maria Schnee' in Lülsfeld (Lkr. Schweinfurt) lebt eine Gemeinschaft namens 'Go&Change'.
Foto: Silvia Gralla | In dem ehemaligen Kloster "Maria Schnee" in Lülsfeld (Lkr. Schweinfurt) lebt eine Gemeinschaft namens "Go&Change".
Benjamin Stahl
 und  Christine Jeske
 |  aktualisiert: 08.02.2024 10:51 Uhr

Friedlich liegt es da, das ehemalige Kloster "Maria Schnee" am Ortsrand von Lülsfeld. Genauso friedlich wie der Rest der 826-Seelen-Gemeinde im Landkreis Schweinfurt. Gepflegte fränkische Landidylle. Die Zeit scheint hier still zu stehen wie die Uhr über dem Hauptportal des spätklassizistischen Klosterbaus: kurz nach zwölf. Auf dem Parkplatz stehen eine Handvoll Autos, sie tragen keine Kennzeichen mehr. Die Tore zur Zufahrt des Klosters sind geöffnet. Abschottung sieht anders aus. Und dennoch stellt sich die Frage, was hinter den Klostermauern geschieht, seitdem die Würzburger Erlöserschwestern den Komplex vor gut drei Jahren verkauft haben, die letzten Nonnen nach 129 Jahren aus- und eine Gemeinschaft namens "Go&Change" eingezogen ist. Eine Gemeinschaft ohne kirchlichen Hintergrund, die der Weltanschauungsbeauftragte der Diözese Würzburg als "Psychogruppe mit hohem Konfliktpotential" einstuft, die aber von sich selbst sagt, ihr "Leben der Ausrichtung auf Liebe verschrieben" zu haben.

In den vergangenen Monaten wenden sich mehrere Frauen und Männer an die Redaktion: ehemalige Mitglieder von "Go&Change". In der Gemeinschaft gebe es "Psychoterror" und "Gehirnwäsche", berichten sie unabhängig voneinander. Sie erzählen von alles kontrollierenden Anführern und sexualisierter Gewalt als "Therapie". Besuch von Angehörigen sei meist nicht gerne gesehen. Fast alle Aussteiger wollen anonym bleiben. Vor allem die Aussteigerinnen haben große Angst.

"Go&Change" sieht sich als Opfer

Gedemütigt und frustriert haben die Frauen und Männer "Go&Change" zu unterschiedlichen Zeitpunkten den Rücken gekehrt. Erst jetzt – teilweise mehr als ein Jahr später – können sie darüber reden, sagen sie. Seit sie ihr Leben wieder einigermaßen im Griff haben. Sie möchten, dass bekannt wird, was sich laut ihren Worten in der Gemeinschaft zugetragen hat – damit andere ihre Erfahrungen nicht machen müssten. Als Warnung. "Go&Change" spricht hingegen davon, dass man schon häufiger Opfer verschiedener "Diffamierungsversuche" gewesen sei. Man sieht sich als "Angriffs- und Projektionsfläche des Ungerechtigkeitsempfindens" einzelner hinausgeworfener Personen, heißt es in einer E-Mail an die Redaktion. Mit anderen ehemaligen Mitgliedern habe man "nach wie vor einen guten Kontakt". Laut Lülsfelds Bürgermeister Thomas Heinrichs leben von einst rund 40 Personen heute noch 20 Erwachsene und einige Kinder in dem Kloster.

"Sie haben sich sehr gut integriert und helfen, wo sie nur können."
Lülsfelds Ex-Bürgermeister Wolfgang Anger

Rückblick: 2017 legen die neuen Bewohner von "Maria Schnee" einen Bilderbuchstart in Lülsfeld hin. Im Februar gibt der damalige Bürgermeister Wolfgang Anger bekannt, dass das Kloster verkauft ist. Zuvor wurde es auf einer Immobilienplattform im Internet für 399 000 Euro angeboten. Wie die Gemeinschaft den Kauf finanzierte, teilt "Go&Change" auf Anfrage nicht mit. Im März stellen Vertreter der Gemeinschaft, deren Ursprung eine Wohngemeinschaft in Halle an der Saale ist, im Gemeinderat ihre Pläne vor. Im April präsentiert man sich den Dorfbewohnern im Amtsblatt. Man wolle im Kloster ein "Forschungs- und Begegnungszentrum" einrichten, in dem man "neue Arten des liebevollen Miteinanders" praktizieren könne. Man wolle "Teil des Dorfes" werden und dessen "Bewohner unterstützen, wo wir nur können".

Zu dem einstigen Klosterkomplex am Rande von Lülsfeld gehören mehrere Gebäude und Gärten.
Foto: Anand Anders | Zu dem einstigen Klosterkomplex am Rande von Lülsfeld gehören mehrere Gebäude und Gärten.

Fast wortgleich lobt heute Alt-Bürgermeister Anger "Go&Change": "Sie haben sich sehr gut integriert und helfen, wo sie nur können." Neu-Bürgermeister Heinrichs, auf dessen Kommunalwahlliste zwei "Go&Change"-Mitglieder standen, bestätigt: "Ich kann nichts Negatives sagen, sie haben sich nichts zu Schulden kommen lassen." Das Kloster, schreibt "Go&Change" in einem "Exposé" an "liebe Freunde", solle zu einer Art Pilgerort für alle kreativen und inspirierten Geister werden. Zu einer Begegnungsstätte, in der Kunst, Wissenschaft, Heilarbeit, Meditation, Innovation, Spiritualität und mehr ineinanderfließen.

Ein vermeintlicher "Guru" an der Spitze

Die Aussteiger zeichnen ein weniger positives Bild über ihr Leben innerhalb der Klostermauern. Nach idealistischem Beginn habe sich eine einschüchternde Atmosphäre der Angst entwickelt. Ein Gemeinschaftsmitglied – K.K. (Name der Redaktion bekannt) – rückt in den Schilderungen besonders in den Fokus. Er habe sich immer mehr zum "Guru" gewandelt und die Führung übernommen.

Die Frauen und Männer beschreiben unter anderem Gruppensitzungen im großen Saal des Klosters, die meist am Abend und ohne Vorankündigung stattgefunden hätten. Willkürlich habe K.K. dabei eine Person ausgewählt. Persönlichkeit und Charaktereigenschaften dieser Person würden dann von den anderen über Stunden hinweg "gespiegelt". Im Fokus dabei: die "Schatten", also die Eigenschaften, die noch im Dunkeln liegen würden, die man verdrängt habe und anschauen müsse. Dieses Anschauen durch die Gruppe wird von allen Aussteigern als "stark manipulativ" beschrieben. Eine Frau hat es als "gewaltsames Aufbrechen der Persönlichkeit" erlebt. Es sei ein großer Druck aufgebaut worden. "Unsere Persönlichkeit wurde instabiler, unser Ich löste sich immer mehr auf", formuliert es eine andere Betroffene.

Sexpraktiken als Therapie

Nach außen mache sich K.K., 38, rar. In der Gemeinschaft agiere er "von oben herab" und halte sich nicht an das, was für alle anderen gelte: veganes Essen, ökologisch ausgerichtetes Leben, einen durchstrukturierten Tag. Er lobe, kritisiere, manipuliere. Er bestimme, wer noch an seiner Persönlichkeit arbeiten müsse. Wer degradiert wird – oder in der Hierarchie aufsteigt wie Felix Krolle. Der 33-Jährige sei das Gesicht nach außen. Krolle ist Geschäftsführer der gemeinnützigen Unternehmergesellschaft, als die die Gemeinschaft inzwischen eingetragenen ist. Sie genießt somit Steuervorteile.

Nach und nach tritt bei allen Gesprächen mit den Aussteigerinnen noch ein weiterer Aspekt zutage: "Sadomaso-Sex" sei ebenfalls Teil einer "Therapie" von K.K., der sich laut Aussteigern selbst als "Heiler" bezeichnet. Dabei soll die Persönlichkeit von ihren "Schatten" kuriert werden. Diese Art der "Behandlung" finde in einem "Sex-Raum" im oberen Stockwerk von "Maria Schnee" statt. Die Frauen erzählen, dass einige dabei Verletzungen erlitten hätten, eine Frau sogar sehr schwere körperliche Verwundungen. Auf die Anfrage der Redaktion, was es mit den beschriebenen Sex-Therapien auf sich habe, antwortet "Go&Change" nicht. Das sei "unsere Privatsache", so Krolle. Dementiert wird der Vorwurf nicht.

Warum wurden keine Anzeigen erstattet?

Die Männer meinen, niemand sei zum Sex gezwungen worden. Dem entgegnet eine Aussteigerin, dass keine Frau genau gewusst habe, was sie dort erwartet hätte. Wenn jemand nicht mit wollte, sei sofort wieder "ein riesiger Druck" aufgebaut worden. Es sei unterstellt worden, dass dies als Weigerung zu verstehen sei, seine Entwicklung voranzubringen. Warum ließen sich die Frauen "diese Therapie" dann doch gefallen? "Wir haben uns ja alle danach gesehnt, glücklich und innerlich frei von Schatten zu sein", erklärt eine der Betroffenen. Und warum haben sie keine Anzeige erstattet? Schulterzucken und ein erschrockener Gesichtsausdruck. "Wir wollen unser Leben weiterleben", sagen sie, "ohne Stress." Und weil es "uns aussichtslos erscheint. Wir haben Angst, dass wir das, was wir uns jetzt wieder aufgebaut haben, verlieren – dass wir verfolgt werden."

Ein solches Verhalten scheint keine Seltenheit zu sein. "Für Aussteiger ist es erfahrungsgemäß sehr schwierig, sich nach dem Erlebten zu öffnen und Hilfe in Anspruch zu nehmen", sagt Stefan Nickels vom Polizeipräsidium München. Er ist bayernweit der einzige Polizist, der sich mit solchen Gemeinschaften befasst. "Oft spielen hier auch die Sorge und Angst vor einer Verfolgung durch die Gruppe eine wesentliche Rolle."

Von Gewalt im Kloster habe er "nie was mitbekommen", sagt Ex-Bürgermeister Anger. "Ich kann es mir auch nicht vorstellen." Es gebe zwar eine Hierarchie im Kloster, "aber wenn man 40 Personen unter einen Hut bringen will, da braucht es Regeln, um eine solche Gruppe zu führen", sagt er. Und: Alle im Kloster "haben diese Lebensform freiwillig gewählt". Sein Nachfolger Heinrichs sagt: Keiner der Ausgezogenen "ist zu uns gekommen und hat sich über 'Go&Change' beschwert".

Was ein betroffenes Ehepaar über "Go&Change" erzählt

Ralf B. ist der einzige Zeuge, der aus der völligen Anonymität heraustritt – "weil ich keine Angst habe". Der pensionierte Justizvollzugsbeamte und seine Frau, eine Grafikerin, waren nach einem sogenannten Kennenlernwochenende für Interessierte (aktuelle Teilnahmegebühr 350 Euro) zunächst begeistert von "Go&Change". Das war im Winter 2018. Sie traten der Gemeinschaft bei und verlegten ihren Lebensmittelpunkt vom Rheinland nach Unterfranken, nur wenige Kilometer von Lülsfeld entfernt. Ins Kloster zogen sie zunächst jedoch nicht. Sie waren externe Mitglieder. Er suchte eher eine Alters-WG, sagt der 62-Jährige. Aber er hat die Gemeinschaft voll unterstützt. Auch finanziell.

Ralf B. und seine Frau waren Mitglieder der Gemeinschaft 'Go&Change' in Lülsfeld (Lkr. Schweinfurt).
Foto: Thomas Obermeier | Ralf B. und seine Frau waren Mitglieder der Gemeinschaft "Go&Change" in Lülsfeld (Lkr. Schweinfurt).

Auch Ralf B. ist heute nicht mehr von "Go&Change" begeistert. "Ich bin wütend!" Er redet, weil er möchte, dass "Menschen, die genauso unbedarft da hingehen, erspart bleibt, was uns passiert ist". Für ihn ist "Go&Change" eine "Sekte". Keine Gemeinschaft, sondern eine gefährliche "Kommune".

Frau ist in therapeutischer Behandlung

Der Sinneswandel begann nach dem Einzug seiner Frau ins Kloster im April 2019. Als die heute 45-Jährige aufgrund familiärer Schicksalsschläge psychische Probleme entwickelt, habe sie die "Ruhe und Geborgenheit" innerhalb der Gemeinschaft gesucht. "Wir kümmern uns um deine Frau", hätten K.K. und andere ihm versprochen. Für Kost und Logis zahlte sie monatlich rund 600 Euro – laut anderen Aussteigern der übliche Satz.

Heute bedauert Ralf B. sein Vertrauen, das er "Go&Change" entgegengebracht hat. Erholt habe sich seine Frau dort nicht. Im Gegenteil. "Sie ist durch die Hölle gegangen", sagt Ralf B.; er hat es mitverfolgt. Er traf seine Frau während ihres Aufenthalts regelmäßig. Bis heute habe sie die Erfahrungen innerhalb der Klostermauern nicht verarbeitet. Momentan befindet sich die 45-Jährige in therapeutischer Behandlung.

Werden im Kloster Drogen genommen?

Ralf B. erzählt von Schlafentzug durch "Prozess-Nächte" mit Gruppensitzungen und von massiven verbalen Beleidigungen seiner Frau gegenüber. Sie habe ihrem Mann von einer Strichliste berichtet, in der vermeintliche Verfehlungen einer Person gezählt worden seien. Von ihrer Isolierung in einer speziellen Gruppe für "narzisstische Frauen" – als Strafmaßnahme. Und von finanzieller Kontrolle der Mitglieder.

Drogen sollen zudem im Spiel gewesen sein: LSD und Ecstasy. "Weil man durch sie mehr von sich preis gibt", meint Ralf B. Die anderen Aussteigerinnen und Aussteiger bestätigen das. Ralf B. habe zudem bei einem Besuch beobachtet, dass Drogen bewusst eingesetzt und gezielt an Einzelne ausgegeben worden seien.

Ralf B. beschreibt, dass seine Frau die Gruppensitzungen als Folter empfunden habe. "Danach ist man fertig", sagt er. Manchmal habe die Runde die ganze Nacht gedauert. Ohne Schlaf hätten alle wieder an die Arbeit gemusst, in der sie fest eingeteilt seien: in Küche oder Garten, zum Spüldienst, zum Kochen, zum Putzen. Andere konnten ihr handwerkliches Geschick einbringen.

Das ehemalige Kloster 'Maria Schnee' beherrsch das Dorfbild. In dem Gebäudekomplex sollen nur noch wenige Mitglieder der Gemeinschaft 'Go&Change' leben, sagen Aussteiger.
Foto: Archivbild | Das ehemalige Kloster "Maria Schnee" beherrsch das Dorfbild. In dem Gebäudekomplex sollen nur noch wenige Mitglieder der Gemeinschaft "Go&Change" leben, sagen Aussteiger.

K.K. will nicht mit der Redaktion sprechen

Kann das alles tatsächlich wahr sein? Mitten in der fränkischen Idylle und nur durch die Klostermauern vor den Augen der Lülsfelder verborgen? "Go&Change" selbst geht auf die Vorwürfe, mit der die Redaktion die Gemeinschaft in E-Mails konfrontiert, nicht konkret ein. Auf entsprechende Fragen unter anderem zu den Gruppensitzungen, dem mutmaßlichen Drogenkonsum und dem Stellenwert von Frauen im Kloster, antwortet Geschäftsführer Krolle zweideutig: "Ja, solche Sachen würden wir nie tun; Nein, wir machen noch viel Schlimmeres; Wir haben gegen keine Gesetze verstoßen und fordern unsere ehemaligen Mitglieder auf uns anzuzeigen, wenn sie es anders sehen."

Versuche der Redaktion, mit dem vermeintlichen Guru "K.K." ins Gespräch zu kommen, laufen ins Leere. K.K., schreibt Krolle, sei wie alle im Kloster "bereit im Rahmen polizeilicher oder gerichtlicher Vernehmungen auszusagen" – so es denn dazu käme.

Wie der Weltanschauungsbeauftragte des Bistums die Gemeinschaft einschätzt

Der Weltanschauungsbeauftragte der Diözese Würzburg, Jürgen Lohmayer, reiht "Go&Change" ein in die vielen "sozial-utopischen Lebensgemeinschaften", die sich in den letzten Jahren gegründet hätten. Matthias Pöhlmann, Lohmayers Kollege in der evangelischen Kirche und dort Sektenbeauftragter für ganz Bayern, warnt auf Nachfrage eindringlich vor der Gruppe. Beide waren im März 2019 zusammen mit sechs weiteren bayerischen Weltanschauungsbeauftragten in Lülsfeld, haben sich ein Bild gemacht. "Alle waren freundlich und höflich", war Lohmayers Eindruck. Wen die Besucher allerdings nicht zu Gesicht bekamen, war K.K., und das, obwohl Lohmayer und Pöhlmann mehrfach nach ihm gefragt hätten.

Der Weltanschauungsbeauftragte der Diözese Würzburg, Jürgen Lohmayer.
Foto: Thomas Obermeier | Der Weltanschauungsbeauftragte der Diözese Würzburg, Jürgen Lohmayer.

Laut Lohmayer würden in der Gemeinschaft methodische Instrumente aus dem Feld der Psychologie wie zum Beispiel "Integrale Strukturaufstellungen mit Tiefenanalyse" eingesetzt, die hier jedoch ohne anerkannte psychotherapeutische Qualifikation angewandt würden. Für ihn ist "Go&Change" eine "Psychogruppe mit hohem Konfliktpotential". Er sagt: "Gruppendynamische Prozesse, Leitungs- und Machtstrukturen, Sozialkontrolle, totales Engagement, Trennung vom bisherigen sozialen Umfeld" seien immer wieder Thema in den Beratungsgesprächen, die er mit Aussteigern und Angehörigen geführt habe. "Man muss sich den gruppendynamischen Zusammenhang so vorstellen", erläutert Lohmayer: "Je mehr ich von einer Person weiß – gerade auch in sexueller und partnerschaftlicher Hinsicht – umso mehr Macht gewinne ich über sie, desto steuerbarer wird sie und desto verletzlicher wird sie letztendlich."

Nicht jede und nicht jeder soll diese Lebensweise laut den Schilderungen der Aussteiger ausgehalten haben. Manche hätten massive psychische Belastungen entwickelt.

"Da werden Menschen kaputtgemacht, gleichgeschaltet und traumatisiert."
Sebastian Stark, ehemaliger Weggefährte von Felix Krolle

Sebastian Stark ist seit Jahren in der sogenannten "Integralen Bewegung" aktiv, eine Szene, zu der sich auch "Go&Change" rechnet. Er kennt auch K.K. und Krolle schon lange, sei mehrfach in Lülsfeld gewesen. Er bestätigt im Gespräch mit der Redaktion die Schilderungen der Aussteiger: Sex als "Behandlung", Drogenmissbrauch und eine psychische und finanzielle Abhängigkeit der Gemeinschaftsmitglieder. Er spricht von einer "permanenten totalitären psychotherapieartigen Arbeit" im Kloster. Starks Einschätzung: "Da werden Menschen kaputtgemacht, gleichgeschaltet und traumatisiert."

In Lülsfeld ist die Stimmung schwer greifbar

Jenseits der Klostermauern ist davon offenbar nichts zu spüren. Im Dorf ist die Meinung zu "Go&Change" schwer greifbar. Zwar sprechen einige nebulös von einem "heiklen Thema". Der Tenor lautet aber: "Das sind nette Leute." Alt-Bürgermeister Anger lobt, die Mitglieder seien im Fußballverein, der Musikkapelle und bei der Feuerwehr aktiv, hätten den Chor wiederbelebt. Wie groß das Engagement tatsächlich ist, ist allerdings fraglich: Hört man sich in Lülsfeld um, stößt man auf geteilte Meinungen. Pfarrer Stefan Mai, Leiter der Pfarreiengemeinschaft "St. Franziskus am Steigerwald", zu der auch Lülsfeld gehört, will sich nicht zu "Go&Change" äußern. Auf Nachfrage sagt er, er befasse sich nicht damit. "Kein Kommentar!" Zu den ehemaligen Bewohnerinnen, den Erlöserschwestern, pflegt "Go&Change" laut eigener Aussage noch sehr gute Kontakte; Bürgermeister Heinrichs bestätigt das. Eine Anfrage der Redaktion lassen die Schwestern unbeantwortet.

Die jetzigen Klosterbewohner "mischen sich unter die Leute", sagt Rathauschef Heinrichs. Tatsächlich wurde sogar mehrmals zum "Tag der offenen Tür" ins Kloster geladen. Zuletzt hätten sie in der Corona-Krise unter anderem angeboten, für Ältere einkaufen zu gehen, so Heinrichs weiter. Für Polizist Nickels keine Überraschung. Es sei "keine Seltenheit, sondern gängige Praxis", dass sich solche Gemeinschaften über Vereine, Nachbarschaftshilfen oder Feste in das Dorfleben integrieren. Dabei könne "häufig festgestellt werden, dass selbst sehr kritischen und gefährlichen Gruppierungen der Einzug und die Akzeptanz in kleinen Ortschaften gelingt".

Zwei Todesfälle erschüttern die Gemeinschaft – und führen zu einem Strafbefehl

Im Juni 2018 feiert "Go&Change" in Lülsfeld eine Hochzeit. Alt-Bürgermeister Anger traut das Paar und schickt der Redaktion einen kleinen Bericht samt Foto. Das Paar lächelt in die Kamera. Beide sind heute nicht mehr bei "Go&Change", heißt es. Monate später bekommt das Bild der heilen Welt, das "Go&Change" zumindest nach außen abgibt, tiefe Kratzer.

Im März 2019 fällt ein Einjähriger in einen Löschteich in der Nähe des Klosters und stirbt später in einem Krankenhaus in München. Wie sich herausstellt, war das Kind zu Besuch bei "Go&Change" und wurde von Mitgliedern der Gemeinschaft beaufsichtigt. Wie die Staatsanwaltschaft Schweinfurt auf Nachfrage mitteilt, sei "gegen drei Personen wegen fahrlässiger Tötung ermittelt" worden. Inzwischen wurden gegen die Beschuldigten Geldstrafen von 120 Tagessätzen verhängt, "die Strafbefehle sind rechtskräftig". Bereits vier Wochen zuvor war ein Säugling aus dem Umfeld von "Go&Change" bei einem Spaziergang gestorben. Hier lag laut Staatsanwaltschaft "eine natürliche Todesursache" vor, ein Verfahren wurde eingestellt.

Jugendamt sieht keine Kindeswohlgefährdung

Das zuständige Jugendamt in Schweinfurt hat sich seit März 2019 bei drei angemeldeten und unangemeldeten Hausbesuchen ein Bild von der Kinderbetreuung bei "Go&Change" gemacht. Man habe dabei "die Gemeinschaft nochmals ausdrücklich" auf die Aufsichtspflichten hingewiesen, die "den für die Kinderbetreuung verantwortlichen Personen obliegen", heißt es auf Nachfrage. Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung habe man keine gefunden. Beim letzten Besuch des Jugendamts in Lülsfeld, im November 2019, lebten laut der Behörde neun Kinder im Kloster, eines davon im schulpflichtigen Alter. Es besuche eine Waldorfschule.

"Das Betreuungskonzept für unsere Kinder wurde vom Jugendamt begutachtet und gelobt."
Felix Krolle, Geschäftsführer von "Go&Change"

Krolles einstiger Weggefährte Stark hat bei seinen Besuchen bei "Go&Change" einen anderen Eindruck gewonnen. Er habe eine "mangelhafte Form der Kinderaufsicht" und eine fragwürdige Pädagogik beobachtet: So sollen Mütter angehalten worden sein, ihre Kinder nicht zu umarmen; Kinder, die Aufmerksamkeit einfordern, sollen von den Klosterbewohnern nicht angeschaut werden dürfen; man sehe nicht nach Kindern, die nachts weinen. Das deckt sich mit den Aussagen mehrerer Aussteiger. Felix Krolle fragt dagegen, warum "weder Polizei noch Jugendamt" tätig geworden und keine Anzeige erstattet worden sei, "sollten wir rechtswidrig oder kindeswohlgefährdend gehandelt haben". Vielmehr habe das Jugendamt das Betreuungskonzept von "Go&Change" gelobt.

Für die Gemeinschaft seien die Todesfälle "schwere Schicksalsschläge" gewesen, "die fast zum Bruch geführt hätten", sagt Bürgermeister Heinrichs heute. Sein Vorgänger Anger spricht von einer "Zerreißprobe". Einige seien damals ausgezogen. "Die Spitze ist aber geblieben."

Anders die Frau von Ralf B.: Drei Monate nach ihrem Einzug hat sie kapituliert. "Auf ihren Anruf, dass sie sofort raus will, habe ich wochenlang gewartet", sagt Ralf B. Er sei sofort losgefahren.

So lief die Recherche

Es begann vor einigen Monaten mit einem Hintergrundgespräch bei Jürgen Lohmayer, dem Weltanschauungsbeauftragten der Diözese Würzburg. Thema waren angebliche Vorkommnisse in einer Gemeinschaft, die in der Nähe von Gerolzhofen in einem ehemaligen Kloster lebt. Schnell war klar: Die Redaktion wird tiefer in die Recherche einsteigen. Es folgten mehrere Treffen mit Aussteigerinnen und Aussteigern. Die Gespräche dauerten jeweils mehrere Stunden. Das Bedürfnis, über ihre Erfahrungen zu berichten, war sehr groß. Wir fuhren nach Lülsfeld, um einen Eindruck von dem gewaltigen Klosterkomplex zu gewinnen, hörten uns im Dorf um. Wir erkundigten uns bei Staatsanwaltschaft, Polizei und Jugendamt, im Rathaus, beim Pfarrer – und schließlich bei "Go & Change" direkt. Dennoch bleiben Fragen offen. Klar ist daher: Die Recherchen sind mit diesem Bericht noch nicht zu Ende.
cj/ben
 
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