Ihm sei immer etwas bange vor runden Geburtstagen, sagt Paul Maar. Daran habe sich nichts geändert. Jetzt ist es wieder soweit: Der beliebte und berühmte Kinderbuchautor, der eine riesige Fangemeinde weltweit hat, wird an diesem Dienstag 85 Jahre alt. Seinen Ehrentag will der gebürtige Schweinfurter "im ganz intimen, kleinsten Kreis" feiern. Und in einigen Tagen dann mit "vielen alten Bekannten und Musikern".
Etwas bange könnte es auch Lesern bei einigen von Paul Maars neuen Geschichten werden. Nicht etwa, weil sie nicht gefallen oder langweilig sind. Im Gegenteil. Die Kurzgeschichte "Spitznase" beispielsweise beginnt harmlos am Frühstückstisch und entwickelt sich zu einem Krimi – für Erwachsene. Eine Entführung wird minutiös durchgeplant. Der Autor malt die möglichen Reaktionen des Entführten genussvoll aus. Es ist eine Rache in Gedanken. Weshalb? Nur wegen einer spitzen Nase, die nicht gefällt? Und wird der Plan ausgeführt? Das alles bleibt offen.
Paul Maar lacht. Die Episoden im Buch "Hund mit Flügeln. Erfundenes und Erlebtes" (S. Fischer) zeigen eine andere Seite von ihm. "Ich stöbere in meinen Tagebüchern und lasse mich anregen, daraus eine Geschichte zu machen." Einiges habe sich tatsächlich so ereignet. "Es ist viel Biografisches dabei. Aber ich schmücke es aus, damit es runder wird."
Als Paul Maar einen Brief erhielt, der mit "Lieber Boris" beginnt
Er ist auch, wie in der Geschichte "Robinson", einer gewissen Ludmilla begegnet, die im wahren Leben anders hieß. "Ich habe sie tatsächlich in der Nähe eines Friedhofs aufgesammelt", sagt Maar im Plauderton. Den Brief, den Ludmilla ihm schreibt, "den habe ich heute noch in meiner Schublade liegen". Maar bezeichnet ihn als "originelles Stück aus meiner Vergangenheit".
Die fantasievoll verarbeiteten Tagebucheinträge stammen teilweise aus den 1970er Jahren. Damals stand Maar am Anfang seiner Karriere – nicht als freischaffender Maler, wie es ihm vorschwebte, sondern als Autor von Kinderbüchern, die er meistens selbst illustrierte.
1968 ist erschien das erste Buch: "Der tätowierte Hund". Anstoß war, dass Paul Maar die Bücher, die er seinen Kindern vorlesen wollte, nicht gefielen. Also beschloss er, selbst zu schreiben.
Als Paul Maars erstes Kinderbuch beinahe nicht erschienen wäre
Beinahe wäre "Der tätowierte Hund" gar nicht veröffentlicht worden. Denn als Maar mit dem Manuskript zum Verleger Friedrich Oetinger nach Hamburg fuhr, hatte er sich die falsche Strategie ausgedacht. "Ich wollte seriös auftreten", erzählte Maar später einmal. "Wollte zeigen, dass ich nicht irgendein Kunststudent war, der auch schreibt, sondern jemand, der bereits den Anfang eines Romans für Erwachsene in der Schublade liegen hatte."
Das habe der Kinderbuch-Verleger ganz und gar nicht gerne gesehen. Paul Maar solle sein Manuskript wieder mit nach Hause nehmen, Geschichten für Kinder sei keine Literatur zweite Klasse. Er sei erschrocken, sagt Maar. Fortan dachte er sich viele Geschichten für Kinder aus: "Später habe ich gemerkt, dass das meine Begabung ist."
Und nun schreibt er doch auch für erwachsene Leser. Warum? "Vor drei Jahren bekam ich eine neue Herzklappe und war auf Reha in Süddeutschland." Sohn Michael, ebenfalls Schriftsteller, sei zufällig in der Nähe gewesen, zusammen mit seinem Agenten Matthias Landwehr. Dieser habe zu ihm gesagt: "Wenn ich ihr Agent wäre, dann wüsste ich, was ich Ihnen raten würde: Sie sollten endlich mal ein Buch für Erwachsene schreiben." Viele Leser in aller Welt würden gerne wissen: "Was ist das für ein Typ, dieser Kinderbuchautor? Etwa ein lustiger Clown und zu Hause ein Melancholiker?"
Paul Maar war inspiriert und legte sofort los. Zuerst, vor zwei Jahren, erschien der biografische Roman seiner Kindheit - "Wie alles kam". Und jüngst eben "Hund mit Flügeln".
Ganz auf Erwachsenenbücher hat der Autor jedoch nicht umgesattelt. Sein x-tes Sams-Buch kam im Oetinger Verlag ebenfalls in diesem Herbst auf den Markt. Obwohl Maar selbst vor Jahren gesagt hatte, keines mehr schreiben zu wollen. Jetzt ist der Star wieder da: "Das Sams und die große Weihnachtssuche".
Die wievielte Sams-Geschichte dies ist? "Das weiß ich nicht, ich zähle nicht mehr mit", sagt der 85-Jährige. "Das ist keine Koketterie." Er erfüllt damit den Wunsch vieler jungen Leser, die, kaum ist ein Buch über das selbstbewusste und freche Wesen mit roten Haaren, Schweinnase und den blauen Wunschpunkte im runden Gesicht erschienen, bereits nach dem nächsten fragen.
Warum er das Sams erfand, das verrät Maar in "Wie alles kam.". Er berichtet darin auch vom schwierigen Verhältnis zu seinem Vater, der verändert aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause gekommen war und sich einen ganz anderen Sohn vorgestellt hatte. Keinen Brillenträger, der gerne las. Für seinen Vater sei dies Zeitverschwendung gewesen.
Auch geschlagen habe der Vater ihn. Offen erzählt Paul Maar darüber in der aktuellen und sehenswerten Dokumentation "Lebenslinien" des BR Fernsehens. Sein Bedauern, dass er dies nie mit seinem Vater aufgearbeitet habe, ist groß.
Vielleicht kann sich Paul Maar wegen seiner Kindheitserlebnisse gut in die Sorgen und Nöte seiner jungen Leser einfühlen. Immer wieder würden ihm Kinder auch Briefe zu "ganz existentielle Fragen" schreiben. Er überlege lange, "wie ich antworte". Paul Maar holt einen Brief hervor und zitiert: "Hallo Paul Maar, ich stelle mir vor, wenn ich nachts im Bett liege, dass das Sams zu mir kommt und sagt, du hast einen Wunsch frei, und dann weiß ich, was ich sage. Ich wünsche, dass der Papa von dieser doofen anderen Frau weggeht und wieder zu uns in die Familie kommt."
Paul Maar will Kindern keine falschen Hoffnungen machen, vielmehr etwas trösten
Maars Antwort? Er habe dem Kind keine falschen Hoffnungen machen, vielmehr etwas trösten wollen. Wenn es tief in sich hineinfühle, den festen Kern in sich spüren würde, der ihm Kraft gebe. "Schau, ich hatte auch eine schwierige Kindheit, so wie du vielleicht jetzt. Aber immerhin habe ich es geschafft, ich bin Autor geworden …"
Autor - und Illustrator. Seine Werke nennt Maar "meine Kinder". Die Würzburger Galeristin Gabriele Müller konnte ihn vor einigen Jahren dazu überreden, sich von etlichen Aquarellen, Zeichnungen, Buchcoverentwürfen zu trennen. Darunter viele Sams-Bilder. Seine Zeichenschränke seien übergequollen, erzählte er damals.
Auch wenn Paul Maar selbst nicht mitzählt: Es gibt inzwischen insgesamt elf Sams-Bücher. Und auch das Sams feiert wie sein Schöpfer runden Geburtstag, aber erst in ein paar Wochen. Vor 50 Jahren, im Februar 1973, erschien die erste Geschichte. Und eigentlich ist das Sams seiner Zeit weit voraus gewesen: "Es ist divers, kein Junge, kein Mädchen, sondern eben ein Sams."
Sollte in Kinderbüchern gegendert werden? Der Autor glaube nicht, dass sich das in nächster Zeit durchsetzen wird. "Es stört den Lesefluss, wenn man aus jedem Räuber gleichzeitig eine Räuberin mit einem Stern in der Mitte machen würde." Als Schriftsteller sei er für das Gendern "auf sanfte Art". Etwa "indem ich von Studierenden schreibe oder von vornherein die weibliche Form wähle, dann ist die männliche in gewisser Weise schon mit drin."
Wird der 85-Jährige sich wieder überreden lassen und sich die zwölfte Sams-Geschichte ausdenken? "Ich schreibe gerade daran", sagt Maar lachend. Und verrät, welchen Wunsch er zum runden Geburtstag selbst hat: "In erster Linie körperliche Gesundheit, und dass mir meine Fantasie und mein Geist erhalten bleibt."
Er sehe am Schicksal seiner Frau, der Familientherapeutin Nele Maar, was passieren könne: "Dass man seine Persönlichkeit verliert und nicht mehr der Mensch ist, der man einmal war". Nele Maar, Tochter der Schauspieler Lena Hutter und Oskar Ballhaus, die das Fränkische Theater Schloss Maßbach (wie es damals noch hieß) gegründet hatten, war viele Jahre die erste Leserin und Kritikerin seiner Bücher. Seit sechs Jahren, sagt Paul Maar, ist sie an Alzheimer erkrankt.
Seiner Frau hat er das berührende Gedicht "Nele" am Ende des Buches "Hund mit Flügeln" gewidmet: "Deinen Namen / kennst du nicht mehr. / Sprache ist für dich / ein Geräusch ohne Sinn. / Doch wenn ich deine Nase / zwischen meine Finger nehme / und sanft daran rüttle, / lächelst du / wie früher."