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Wie Paul Maar von null auf Abtauen kam
Das Gespräch führte Christine Jeske
 |  aktualisiert: 07.09.2017 17:53 Uhr

Ihm sei ein wenig bange, sagt Paul Maar kurz vor seinem 70. Geburtstag. Der beliebte Kinderbuchautor steht nicht gerne im Mittelpunkt. Deshalb wird es am morgigen Donnerstag nur eine kleine Feier mit 15 Gästen geben. Die Familie wird da sein und die beiden ihm liebsten Leute vom Hamburger Hausverlag Oetinger: die Chefin und ihr Sohn. Der am 13. Dezember 1937 in Schweinfurt geborene Paul Maar schreibt seit 40 Jahren für junge Leser. Im Gespräch erinnert er sich auch an seine Wurzeln.

Frage: Eigentlich begann alles mit Opa Schorsch, oder?

Paul Maar: Opa Schorsch war sehr wichtig für mich. Nach den Kriegsjahren in Schweinfurt, in denen ich wegen der vielen Bombenangriffe häufig Todesangst hatte, kam ich zu ihm nach Obertheres. Damals war ich sehr autistisch. Opa Schorsch hat es geschafft, meinen innerlichen Kühlschrank von null auf Abtauen zu drehen, so dass ich wieder etwas wärmer wurde. Darüber hinaus war er ein großartiger Geschichtenerzähler.

Ein Vorbild?

Maar: Opa Schorsch hatte eine Gastwirtschaft. Abends saß er bei seinen Gästen und erzählte kleine Episoden aus dem Dorf. Die waren allerdings zum Teil erfunden. An meinem Blick merkte er, dass ich ihm auf die Schliche kam. Da sagte er mir: „Weißt Du, bei einer Geschichte ist es nicht wichtig, dass sie unbedingt ganz wahr ist, sondern dass sie gut erzählt wird.“ Das stimmt.

Heute ist die Tradition des Geschichtenerzählens kaum noch vorhanden.

Maar: Dabei ist es der Königsweg für Kinder, das Lesen zu entdecken. Sie müssen ja erst lernen, was das ist: eine Geschichte. Sie müssen im Gehirn ein Muster bilden, dass eine Geschichte einen Anfang hat, einen Höhepunkt, einen Schluss. Und wenn es gute Geschichten sind, dann sind sie süchtig danach, mehr zu hören. Wenn sie dann älter sind und Eltern ihnen ein Buch mit einer guten Geschichte zum Selbstlesen geben, werden Kinder das gerne tun.

Geschichten erzählen braucht Zeit.

Maar: Ja, wenn ein Erwachsener einem Kind eine Geschichte erzählt, dann kann er das nicht nebenbei machen und Zeitung lesen, sondern er widmet sich ganz dem Kind. Das weiß es sehr zu schätzen. Gerade in der heutigen Zeit, in der Eltern wenig Zeit haben. Wenn sich ein Erwachsener zum Kind setzt und sagt, so, jetzt erzähle ich Dir eine Geschichte, und wenn das Kind sich dabei noch ankuscheln darf, dann wird Geschichtenerzählen immer mit einem ganz warmen Gefühl verbunden sein, das sich später aufs Lesen überträgt.

Wie war das in Ihrer Kindheit?

Maar: Mein Vater und ich hatten ein eher schwieriges Verhältnis. Er war vier Jahre weg, erst in der Kriegszeit bei der Marine, danach in amerikanischer Gefangenschaft. Als er nach der langen Zeit wiederkam und mich sah, hat er sich einen ganz anderen Sohn vorgestellt. Er war ein großer Sportler, ich ein Brillenträger mit schlechter Haltung. Ich habe gerne gelesen. Für ihn war das Zeitverschwendung. Meist hat er mich in den Hof zum Kehren geschickt, wenn er mich mit einem Buch im Sessel sitzen sah. Erst später haben wir uns wieder angenähert.

Dennoch konnten Sie Ihrer Leidenschaft fürs Lesen frönen.

Maar: Ein Freund gab mir den Tipp, dass man im Amerikahaus, das im Ernst-Sachs-Bad in Schweinfurt untergebracht war, kostenlos Bücher ausleihen konnte. Dort gab es nur Erwachsenenliteratur, deutsche Übersetzungen von amerikanischen Autoren wie William Faulkner oder Ernest Hemingway oder Krimis von Raymond Chandler oder Dashiell Hammett. Als 14-Jähriger versteht man natürlich nicht alles, beispielsweise sexuelle Anspielungen. Aber es waren spannende Geschichten für mich.

Wie sind Sie letztlich Autor geworden?

Maar: Zuerst habe ich fürs ,Pulverblättchen‘, unser Schülerzeitung am Schweinfurter Gymnasium, geschrieben. Später, während meines Kunststudiums in Stuttgart, habe ich eine Funkerzählung für den „Süddeutschen Rundfunk“ verfasst. Deshalb hieß ich in der Kunstakademie nur „Der Dichter“. Entscheidend war jedoch, dass mir die Bücher, die ich meinen drei Kindern vorlesen wollte, nicht gefallen haben. Damals beschloss ich, selbst zu schreiben. So entstand mein erstes Buch, „Der tätowierte Hund“.

Und viele weitere Bücher. Verleger Friedrich Oetinger musste jedoch zuerst ein Machtwort sprechen.

Maar: Ich hatte mir, als ich mit dem Manuskript zu ihm nach Hamburg fuhr, eine völlig falsche Strategie zurecht gelegt. Ich wollte seriös auftreten, zeigen, dass ich nicht irgendein Kunststudent war, der auch schreibt, sondern jemand, der bereits den Anfang eines Romans für Erwachsene in der Schublade liegen hatte. Als er das hörte, schaute er mich von der Seite an und sagte: „Heißt das, dass für Sie Kinderliteratur nur Literatur zweiter Klasse ist? Wenn ja, dann nehmen Sie Ihr Manuskript wieder mit nach Hause.“ Da bin ich erschrocken, eigentlich war ich sehr stolz, dass mein erstes Werk gleich einen Verlag gefunden hatte. Ich versicherte ihm, dass ich weitere Kinderbücher schreiben werde. Später habe ich gemerkt, dass das meine Begabung ist.

Sie haben mal gesagt, dass es nur zwei Kindheiten gibt, eine gute und eine extreme. Und dass ein Kinderbuchautor nie seine Verbindung zu seiner Kindheit abgeschnitten hat.

Maar: Diese Aussage war ein wenig auf den Gipfel getrieben. Was ich damit meine, ist, dass beispielsweise Astrid Lindgren eine sonnige, behütete Kindheit hatte. Als sie als junge Frau mit ihrem unehelichen Sohn und ihren finanziellen Sorgen anfing zu schreiben, versuchte sie, ihre glückliche Kindheit heraufzubeschwören. Wenn man eine schwierige Kindheit hatte wie ich, dann versucht man später als Autor, sich eine Kindheit zu erfinden, die man so nicht erlebt hat.

Egal ob Sams oder Herr Bello, Ihre Geschichten sind häufig eine Mischung aus Realität und Fantasie.

Maar: Ich beschreibe immer erst eine reale Umgebung, die jeder nachvollziehen kann. Beim Sams ist es Herr Taschenbier, der alleine wohnt und sich nichts traut. Dann kommt ein fantastisches Wesen und verändert sein Leben. Und am Ende ist alles in Ordnung. Herr Taschenbier findet sogar eine Frau, die zu ihm passt.

Dennoch gibt es bei Ihnen einen Unterschied zwischen Fantasie und Fantasy.

Maar: Darauf lege ich auch großen Wert. Ich bin, ehrlich gesagt, kein großer Freund von Fantasy-Literatur. Fantasy-Autoren machen es sich leicht. Sie erfinden einfach alles, während ich mir die Aufgabe stelle, immer von der Realität auszugehen, von einer Jetzt-Zeit, die Leser wiedererkennen und die durch ein kleines Wunder verändert wird. Das ist näher an der Welt der Kinder als reine Fantasy-Geschichten mit fliegenden Menschen, Mittelalter und High-Tech-Laser-Pistolen.

Trotz Ihrer vielen erfolgreichen Kinderbücher haben Sie den Deutschen Literaturpreis ausgerechnet für ein Sachbuch erhalten: 1988 für „Türme“.

Maar: Damals dachte ich mir, da schreibe ich schon seit über 20 Jahren Geschichten für Kinder, und dann bekomme ich einen Preis für ein Sachbuch. Es ist ein erzählendes Sachbuch, in dem es nicht nur um Fakten geht. Türme ziehen Geschichten magisch an. Früher bin ich selbst gerne auf Türme gestiegen. Aber jetzt, mit 70, kommt man doch ein bisschen ins Schnaufen.

Werden Sie nun beim Schreiben eine Verschnaufpause einlegen?

Maar: Nein. Demnächst wird eines meiner Lieblingsbücher, „Lippels Traum“, verfilmt. Das Drehbuch ist bereits fertig. Momentan schreibe ich den dritten Teil über Herrn Bello. Ich bin gerade auf Seite 36, wobei ich mit dem ersten Kapitel erst nach dreimaligem Umschreiben zufrieden war.

Wer darf Ihre Bücher zuerst lesen?

Maar: Meine Frau Nele. Allerdings darf sie mein Manuskript erst lesen, wenn es abgeschlossen ist. Wenn ich es vorher aus der Hand gebe, dann lösen Kritiken bei mir eine Schreibblockade aus. Ich würde viel zu lange darüber nachdenken und letztlich die Lust verlieren weiterzumachen. Während ich schreibe, versetze ich mich in eine künstliche Euphorie. Ich rede mir ein – natürlich übertreibe ich jetzt ein wenig –, dass ich der beste Schriftsteller der Welt bin. Wenn ich jedoch die letzte Zeile geschrieben habe, bin ich ganz begierig auf harte, ehrliche, faire Kritik.

 
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