Welche Gedanken Hartmut Bräuer durch den Kopf gehen, wenn er an diesem Mittwochnachmittag den Sitzungssaal im Schweinfurter Landratsamt betreten wird, wird wohl niemand erfahren. Auch der 78-Jährige muss sich überraschen lassen. Wird am Ende doch Wehmut aufkommen? Egal, was sein wird, für Bräuer steht bereits fest: Es wird das letzte Mal sein, dass er eine Sitzung des Schweinfurter Kreistags besucht.
Landrat Florian Töpper wird den SPD-Politiker aus Gerolzhofen an diesem 26. Juli 2023 als Mitglied des Kreistags verabschieden. 45 Jahre und drei Monate wird Bräuer dann dem Gremium angehört haben. Ohne Pause. Was sich im Berufsleben schon nach einer sehr langen Zeitspanne anhört, ist in der Politik eine halbe Ewigkeit. Bräuer ist das mit weitem Abstand dienstälteste Kreistagsmitglied.
Auf Anhieb die meisten Stimmen
Als er am 1. April 1978 seine erste Kreistagssitzung als gewähltes Mitglied besuchte, da hatte der Landkreis, der vergangenes Jahr 50. Geburtstag feierte, eben erst seine Kinderschuhe abgelegt. Auch Bräuer blickte damals noch auf keine lange politische Karriere zurück. Wie auch. Der damals 33-jährige Rechtspfleger am Amtsgericht Gerolzhofen war erst zwei Jahre zuvor als Nachrücker in den Gerolzhöfer Stadtrat eingezogen.
Dass er bei der Wahl des zweiten Schweinfurter Kreistags im Frühjahr 1978 kreisweit auf Anhieb die meisten Stimmen aller SPD-Kandidaten holte, das kann Bräuer sich bis heute nicht erklären. Dies wiederholte sich übrigens bei allen folgenden Kreistagswahlen, bis zur jüngsten vor drei Jahren, als Florian Töpper und Stefan Rottmann ihn überholten.
Gut erinnert sich Bräuer im Gespräch mit dieser Redaktion, weshalb es ihn als jungen Familienvater überhaupt in die Politik zog. Er habe die Diskussion um die Gebietsreform miterlebt, die dazu geführt hat, dass Gerolzhofen im Jahr 1972 seine Funktion als Kreisstadt eingebüßt hat. Die Furcht, brutal an Bedeutung zu verlieren, habe sich breitgemacht, erzählt Bräuer. Deshalb habe er in den Schweinfurter Kreistag gewollt, um dort für die einstige Kreisstadt Gerolzhofen "etwas zu bewegen".
Starker SPD-Block aus Gerolzhofen
Bis heute stellen SPD-Vertreter aus Gerolzhofen innerhalb des Kreistags einen bedeutenden Block. Vier von elf SPD-Vertreterinnen und -Vertreter kommen aus der einzigen Stadt im Landkreis. Nach Bräuers Ausscheiden sind's noch drei.
Was Bräuer, der in seiner Heimatstadt von 1989 bis 2007 Bürgermeister war und im Jahr 2014 zum Gerolzhöfer Ehrenbürger ernannt wurde, bei allem Lokalpatriotismus auszeichnet: Er betrieb nie nur Klientelpolitik zugunsten des südlichen Landkreises. Deshalb bezeichnet Landrat Florian Töpper seinen gut 30 Jahre älteren Parteigenossen Bräuer zum Abschied aus dem Kreistag gegenüber dieser Redaktion als "Glücksfall für die Kommunalpolitik im Landkreis Schweinfurt".
Bräuer sei niemals Selbstdarsteller gewesen, sondern habe "stets etwas dargestellt", stellt der Landrat fest. Er vereinige in seiner Person Bürgernähe mit fachlicher und politischer Substanz. Die Menschen hätten dem Gerolzhöfer über Jahrzehnte hinweg Sympathien und Vertrauen entgegen gebracht.
Zuhause noch näher an den Menschen
Bräuer dürften diese Worte gefallen. Nicht, weil er auf Lob aus wäre. Doch es war ihm immer wichtig, möglichst nahe bei den Menschen zu sein, sagt er rückblickend. Deshalb habe ihm auch die Arbeit im Gerolzhöfer Stadtrat und als Bürgermeister immer etwas mehr bedeutet als die Arbeit im Kreistag, wo der Draht zu den Menschen doch weniger direkt ist als zuhause, in Gerolzhofen.
Damit begründet Bräuer auch, weshalb er nie als Landrat kandidiert hat. Die Frage habe er sich "nie ernsthaft gestellt", sagt er. Und seitens seiner Partei habe man nie versucht, ihn zu einer Kandidatur zu drängen. "In diese Zwickmühle wurde ich nie gebracht", sagt er dankbar. Vielleicht ahnten die Genossinnen und Genossen aber auch, dass Bräuer wohl abgelehnt hätte. "Ich habe mich nie als Parteisoldat gefühlt", sagt er. Einer Sache pflichtschuldig zuzustimmen, ohne mit dem Herzen dabei zu sein, das lehnt er ab.
Austausch über Grenzen hinweg
Die vielen politischen Ämter, die Bräuer begleitete, hätten ihm immer Freude bereitet, sagt er. Dass Anträgen seiner Fraktion natürlich nicht immer zugstimmt wurde, nimmt er gelassen: "Das ist normal. Schwamm drüber." Wichtig sei ihm der persönliche Austausch gewesen im Kreistag – auch über Fraktionsgrenzen und thematische Differenzen hinweg.
Deshalb bezeichnet er die 18-jährige Amtszeit von CSU-Landrat Harald Leitherer (1995 bis 2013) auch als "schwere Zeit". Die Arbeit im Kreistag habe da "eher stagniert". Anders als bei Leitherers Vorgänger Karl Beck (CSU), mit dem er sehr vertrauensvoll zusammengearbeitet habe, und jetzt unter Töpper, habe es unter Leitherer an einer konstruktiven Zusammenarbeit mit den Kreistagsfraktionen gefehlt, meint Bräuer. "Da sind Gedanken und Ideen verloren gegangen."
Weshalb er ausgerechnet während der Landratsägide seines Parteigenossen Töpper aus dem Kreistag ausscheidet, begründet Bräuer mit seinem Alter: Wenn die Zahl seiner Lebensjahre mit einer Acht beginne, möchte er in keinem Amt mehr. Deshalb habe er bereits vor vier Jahren, als die Kandidatenlisten für die Kreistagswahl 2020 festgelegt wurden, innerhalb der SPD angekündigt, nach der Hälfte der laufenden Legislaturperiode aufhören zu wollen. Dieser Zeitpunkt ist jetzt gekommen.