Ein heißer Tag im Sommer 2008. Ministerpräsident Günther Beckstein läuft ein wenig gehetzt über die Kreismülldeponie Rothmühle. Der eng gezurrte Terminplan mahnt zur Eile. Dennoch hat er genug gesehen und nimmt sich Zeit für Komplimente: „Ihr seid gut“, sagt er zu Landrat Harald Leitherer. Jener hört's mit sichtlicher Genugtuung. Diese Termine liebt der Chef des Landratsamts. Dabei kann Leitherer vorzeigen, was aus dem Schweinfurter Landkreis in den 18 Jahren seiner Amtszeit geworden ist. Die Deponie, auf der Strom erzeugt wird und unter anderem dadurch die Gebühren für die Bürger Jahr für Jahr sinken, zählt zu den Lieblingsprojekten des Landrats. „Das Armenhaus Bayerns“, wie Leitherer gerne einen seiner Vorgänger zitiert, hat sich in einen vorzeigbaren Landstrich verwandelt: zwar nicht mit Laptop und Lederhose, aber zumindest mit Gigaliner und Gurkenflieger.
Gerne wäre Leitherer Rekord-Landrat geworden. 25 Jahre bis 2020. Doch die Wähler lassen ihn nicht, obwohl der Erfolg an ihm so helle Freude gefunden und Leitherer sich so sehr an ihn gewöhnt hat. Nach 18 Jahren muss er an diesem Donnerstag seinen Schreibtisch im Landratsamt räumen. Dabei hat er sich noch lange nicht am Ziel seines politischen Weges gefühlt. Er wollte noch mehr schaffen: der Abzug der US-Army, das Ende des Kernkraftwerks und die demographischen Veränderungen – zu alldem hat Leitherer Antworten parat. Als Querdenker, der oft auf die Parteilinie der CSU gepfiffen hat und seinem eigenen Instinkt gefolgt ist. Als Querkopf, der sich emotionsgeladen mit Parteifreunden und (vermeintlichen) Gegnern angelegt und bei der Wahl der Mittel nur mäßige Zurückhaltung geübt hat. Die Macht ist lange Zeit seine enge Vertraute. „Es macht Spaß, Landrat zu sein“, hat er selbst bei seiner zweiten Nominierung 2000 gesagt.
Schon bei seinem Amtsantritt 1995 hat er sich als Reformer verstanden. In der Premierenrede spricht er über festgefahrene Strukturen in der Republik und geringe Freiräume im Dschungel von Verordnungen. Verwaltung müsse sich als Dienstleister verstehen, gibt Leitherer die Marschrichtung vor, der er selbst im organisatorischen Umbau seiner Behörde folgt. Er setzt die Reform im Landratsamt durch, legt Sachgebiete zusammen, schwört die Mitarbeiter auf Bürgernähe ein. Ein eigenes Referat für Kreisentwicklung und Regionalmanagement kommt hinzu. Die Ansiedlung von Firmen und die Steigerung der Jobzahlen stehen auf der Agenda ganz oben. Unternehmen wie FIS in Grafenrheinfeld, InnoSenT in Donnersdorf und Belectric in Kolitzheim fallen jedes Mal, wenn Leitherer über lokale Wirtschaftspolitik spricht. 22 000 sozialversicherungspflichtige Jobs werden heute im Landkreis gezählt, 6000 mehr als 1990. Diese Zahlen macht Leitherer auch zu seinen eigenen: Stolz ist er darauf, dass ansiedlungswillige Firmen binnen kürzester Zeit Antwort aus dem Amt bekommen.
Unter den Dienstleistungsgedanken rechnet Leitherer ein Projekt, das öffentlich kaum wahrgenommen worden ist. Die Pauschalisierung der Sozialhilfe. Damit sind für die Empfänger lästige Einzelanträge weggefallen, die Verwaltungsakte entlastet worden. Deutschlandweit wird der Versuch beachtet. Die Hartz-IV-Reform setzt dem Modell ein Ende.
Die politisch heikelste Phase übersteht Harald Leitherer 2001: In der ohnehin angeschlagenen Kreissparkasse greift ein Angestellter tief in die Kasse. Es geht um einen siebenstelligen Betrag. Und es geht ausgerechnet um den Sohn des Direktors; mit Letzterem ist Leitherer eng befreundet. Gleichzeitig ist der Landrat aber auch Chef des Verwaltungsrats, dem Aufsichtsgremium. Geschickt manövriert sich Leitherer an den Donnerschlägen vorbei, die die Opposition abfeuert. Dauerhaft beschädigt wird Leitherer nicht. 2003 befindet sich das Institut wirtschaftlich wieder auf Kurs. Wenige Jahre danach fusioniert es mit der Städtischen Sparkasse. Vom Schleudersitz zum Thron: Die Sparkasse gilt auch für Leitherer fortan als Paradebeispiel für die gute Zusammenarbeit mit der Stadt Schweinfurt. Die gemeinsame Tourismus-Stelle ist das zweite Aushängeschild.
Ansonsten ist mächtig Sand im Getriebe der Kooperation zwischen den Nachbarn. Was vor allem am Charakter der Protagonisten liegt: Oberbürgermeisterin Gudrun Grieser und Landrat Leitherer sind zwar Parteifreunde und jeder für sich ist bestens nach München vernetzt. Doch die beiden können nicht miteinander, lieben das Scheinwerferlicht viel zu sehr, als den Schatten des anderen ertragen zu können. Und so geht es etwa bei der notwendigen Verbesserung des Öffentlichen Nahverkehrs kaum voran. Sie bleibt als Aufgabe für Leitherers Nachfolger Florian Töpper zurück. Als man mit der Stadt übereinkommt, eine Filiale der FOS/BOS ins Land zu verlegen, hat schon Sebastian Remelé den Staffelstab von Grieser übernommen.
Wertvoll werden Leitherers Kontakte in die Landeshauptstadt, als Schonungen unter der Sattler-Altlast ächzt. Öffentlichen Druck erzeugt die dortige Bürgerinitiative, der Landrat zieht an den Strippen des Machtapparats. Im Einklang gelingt die „Lex Schonungen“. Entgegen der gesetzlichen Vorgaben zahlen die Steuerzahler den Löwenanteil der im vergangenen Jahr angelaufenen Sanierung: 13,33 Euro je Quadratmeter bleiben an den privaten Grundstücksbesitzern hängen. Dieses der Staatsregierung abgerungene Modell rettet viele vor dem Ruin.
Bei Landkreis-Projekten schlägt Leitherer oft ein strammes Tempo an. Auf vielen der 1200 Fotos im elektronischen Bildarchiv dieser Zeitung, auf denen Leitherer zu sehen ist, durchschneidet er Bänder von Radwegen. Der Tourismus wird immer festeres Standbein des Kreises. Der Landrat macht das Varieté-Festival in Sennfeld zur Chefsache. Die letzten Jahre seiner Amtszeit widmet er sich der Sanierung der Landkreis-Schulen.
Nicht alles gelingt. Die Ansiedlung von BMW scheitert im Jahr 2000 ebenso wie der Bau einer Freilichtbühne in Werneck. Das gemeinsame Standesamt der Landkreisgemeinden stirbt an mangelndem Interesse. Durch die Kreispolitik ziehen sich die Auseinandersetzungen über die Finanzierung des Frauenhauses, der Protest gegen die Kernkraft (von SPD und Grünen) und das Zwischenlager (von Leitherer selbst) wie rote Fäden. Sie bleiben ständige Reibungspunkte.
Seine selbstbewusste und gelegentlich aufbrausende Art ist für Leitherer von Beginn seiner Amtszeit an ein Problem, das immer größer wird. Es hat den Anschein, dass er vieles, was er mit der rechten Hand aufbaut, mit der linken ins Wanken bringt. Unvergessen die Mikrofonaffäre, als er Kreisrätin Elisabeth Bieber (SPD) das Mikro wegnehmen lässt, weil sie unbequeme Fragen zur Kreissparkasse stellen will. Unvergessen der wütende Verriss eines Grünen-Antrags, der Birgid Röder die Tränen in die Augen trieb. Auch in der CSU-Fraktion ist so mancher barsch gemaßregelt worden. Viele sagen: Leitherer habe das eigentlich gar nicht nötig.
In Fraktion und Partei bröckelt der Rückhalt. Erste Anzeichen sind das magere Wahlergebnis für den CSU-Kreisvorstand 2007. Der Stern Leitherers strahlt nicht mehr ganz so hell. Er ahnt noch nicht, dass seine politische Karriere ebenso schnell und spektakulär verglühen wird wie eine Supernova. Im Vorfeld der Landratswahl 2012 hat sich die Zahl der politischen Freunde reduziert. Seine private Neuorientierung, der öffentlich wahrnehmbare Bruch mit der Familie haben nicht nur Parteikollegen irritiert, sondern auch in der Bevölkerung für kontroversen Gesprächsstoff gesorgt. Die Zeichen erkennt der Landrat nicht. Als die CSU ihn auf eine Nichtnominierung vorbereiten will, so ist aus Parteikreisen zu hören, kontert er mit der Ankündigung, dann auf eigene Faust anzutreten. Zur zunehmenden Isolation hat sich eine Beratungsresistenz gesellt, wie aus seinem Umfeld geschildert wird. Keine gute Kombination für einen Politiker.
Der Wahltag am 23. September 2012 bildet die Zäsur. Seine Wähler ignorieren Leitherers politische Erfolgsbilanz: Sie bleiben scharenweise zu Hause. Das ist einer der Faktoren, warum es dem rot-grünen Kandidaten Florian Töpper gelingt, einen der bekanntesten bayerischen CSU-Landräte zu kippen: Er ist jung, sympathisch, kompetent, entfacht Wechselstimmung im eigenen Lager und kann im direkten Duell mit dem Amtsinhaber bestehen.
Harald Leitherer hat die lange Übergangszeit mit Anstand zu Ende gebracht. Wer näher mit ihm zu tun hatte, erkannte, wie schwer er an der Niederlage trägt. Eine offizielle Verabschiedung hat er kategorisch abgelehnt. Über seine persönliche Zukunft macht der 59-Jährige nur Andeutungen. Am 31. Januar 2013 geht eine Ära zu Ende. Ganz still.
Stationen einer Landratskarriere
16. Oktober 1994: Harald Leitherer (CSU) wird gegen drei Mitbewerber mit 54,9 Prozent zum Landrat gewählt; innerparteilich hatte er sich zuvor gegen Peter Heusinger durchgesetzt.
5. Oktober 1999: Spatenstich für den Erweiterungsbau des Landratsamtes. Das 4,3-Millionen-Euro-Projekt wird im Mai 2001 fertig.
1. Januar 2000: Die damals umstrittene Müllverwiegung tritt in Kraft. Es folgen Jahre später die Biomüllvergärung und die Anlieferung von organischem Abfall anderer Landkreise. Die Deponie Rothmühle wird zu einem guten Geschäft. Die Gebühren für die Bürger sinken kontinuierlich.
14. Mai 2004: Das erste Varieté-Festival in Sennfeld steigt. Der Kreis zahlt 25 000 Euro.
14. Oktober 2005: Die Autobahn 71 wird eröffnet. 1998 schwang sich die Kreis-CSU auf die Seite der Befürworter. Die Magistrale trägt mit der A 7 und A 70 dazu bei, dass sich der Landkreis als wichtiger Logistik-Standort etabliert.
18. April 2009: Die Sanierung des Richtberg-Geländes in Bergrheinfeld geht zu Ende: 164 000 Tonnen kontaminiertes Erdreich sind weggeschafft worden. Kosten: 17,9 Millionen Euro.
24. März 2010: Die Tourismusstelle 360 Grad zieht als Gemeinschaftsprojekt von Stadt und Landkreis ins Schweinfurter Rathaus ein.
13. September 2011: Die Realschule in Schonungen nimmt mit 120 Schülern den Betrieb auf.
4. Oktober 2011: Die Sanierung der Sattler-Altlast in Schonungen beginnt. Sie ist 2000 bekannt geworden. Als Leiter der staatlichen Behörde ist Leitherer für die Sanierung zuständig und muss sich zum Teil heftiger Kritik erwehren.
1. November 2011: Die Arbeitslosenquote liegt auf dem Rekordtiefstand von 2,4 Prozent und zählt damit zu den niedrigsten in Bayern.
23. September 2012: Leitherer holt bei der Landratswahl nur 42,3 Prozent und verliert gegen Florian Töpper (SPD/Grüne).
31. Januar 2013: Letzter Tag der Amtszeit Leitherers. Er hat sofortigen Anspruch auf Ruhegehalt.