
Der Strafprozess gegen Kai K. zerrt die kleine Ortschaft Lülsfeld erneut ins Rampenlicht. Immer wieder wird seit Beginn der Verhandlungen Mitte Februar der Name des 450-Seelen-Ortes im Landkreis Schweinfurt in einem Atemzug mit mutmaßlichen Taten genannt, die die Staatsanwaltschaft dem "Guru" der Gemeinschaft "Go&Change" vorwirft: Vergewaltigungen und Körperverletzungen. Vor dem Landgericht Schweinfurt kommt ein System aus Machtmissbrauch, Erniedrigung und Psychoterror, gepaart mit Drogen- und Sex-Exzessen, ans Licht, das der 42-Jährige in der ihm hörigen Gemeinschaft im frühen Kloster "Maria Schnee" etabliert haben soll.
Das große Areal des 2017 von den Erlöserschwestern an "Go&Change" verkauften Klosters ist in Lülsfeld unübersehbar. Doch das Geschehen dort, von dem Betroffene berichten, spielt in der Öffentlichkeit vor Ort bis heute kaum eine Rolle. Zumindest vermittelt Bürgermeister Thomas Heinrichs auf Nachfragen diesen Eindruck. Zwar berichtet die Gemeinde auf ihrer offiziellen Webseite unter "Aktuelles" rudimentär vom Prozess in Schweinfurt, inklusive Bilder, die Wartende vor dem Gerichtsgebäude zeigen. Doch im Ort selbst sei auch nach den ersten Verhandlungstagen vom Geschehen im Kloster nichts wahrzunehmen, sagt der Bürgermeister. Er selbst sei entspannt und werde das Urteil abwarten.
Gesprächspartner in Lülsfeld berichten über ein gestörtes Verhältnis
Fristen das frühere Kloster und dessen Bewohnerinnen und Bewohner also weiter ein Schattendasein im Ort, außerhalb jeglichen Interesses?
Mitnichten. Die Menschen, mit denen diese Redaktion gesprochen hat, berichten bereitwillig von ihren Erfahrungen und Eindrücken. Jedoch möchte – mit Ausnahme früherer politischer Mandatsträger – niemand seinen Namen öffentlich genannt sehen. Das Bild, das die Befragten schildern, zeugt von einem seit Jahren gestörten Verhältnis zu "Go&Change" – das nie groß in der Öffentlichkeit thematisiert wurde. Nicht einmal nach der Verhaftung von Kai K. im Mai 2023, durch die die mutmaßlichen Straftaten ans Licht kamen.
Sich ein Bild vom wahren Leben hinter den alten Mauern zu verschaffen, fiel offenbar auch denen schwer, die anfangs engeren Kontakt zur Gemeinschaft hatten. Wie die drei örtlichen Vereine, in denen Frauen und Männer der Gemeinschaft aktiv waren: die Lülsfelder Musikkapelle, die Freiwillige Feuerwehr und der Sportverein (SV) Germania Lülsfeld.

Von allen drei Vereinen heißt es: In den ersten drei Jahren, bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020, hätten "Klosteraner", wie die Anhänger der Gemeinschaft in Lülsfeld oft genannt werden, gezielt den Kontakt zu den Menschen vor Ort gesucht. Sie luden zu sich ein, halfen in den Vereinen mit.
Musikkapelle spielte bei Hochzeiten im Kloster
In der Musikkapelle spielten zwei Frauen und drei Männer. Bis 2019 kam die Kapelle an Silvester wie zu Zeiten der Erlöserschwestern in die Kloster-Aula - zum Neujahrsanblasen bei Tee, Punsch und Plätzchen. Die Kapelle spielte den Berichten zufolge bei drei Hochzeiten im früheren Kloster. Und beim SV Lülsfeld spielten zwei Mitglieder von "Go&Change" Fußball. Andere kamen als Zuschauer.
Versuche der "Klosteraner", Lülsfelder von "Go&Change" zu überzeugen, oder gar übergriffiges Verhalten habe es nie gegeben, bestätigen die Vereinsvertreter. "Die haben sich ganz normal verhalten", sagt einer. Aufgefallen sei nur gewesen, dass niemand aus der Gemeinschaft Interna aus dem Kloster und dem Leben dort erzählte: "Die haben aufeinander aufgepasst, dass keiner zu viel verrät", sagt einer aus der Musikkapelle.
Als Anfang 2019 innerhalb weniger Wochen zwei Kleinkinder im unmittelbaren Umfeld von "Go&Change" ums Leben kamen, sei "die Stimmung umgeschlagen", berichtet ein Vereinsvertreter. Die Skepsis "Go&Change" gegenüber sei gewachsen. Die Feuerwehr nahm den Tod der Kinder zum Anlass, beide "Klosteraner" aus dem Verein auszuschließen. Keiner der Betroffenen habe darauf reagiert, ist vom Feuerwehrverein zu hören.

Während der Corona-Pandemie rissen die Kontakte weitgehend ab. Nur bei der Musikkapelle spielten zwei Männer weiter. Laut Verein soll einer von ihnen vor einiger Zeit in seine Heimat zurückgezogen sein. Ein ehemaliger Anhänger von "Go&Change", der jetzt in der Region lebt, spiele ab und zu noch mit, zuletzt an Fasching.
Zwischen "von Anfang an sehr suspekt" und "sehr gutes Verhältnis mit denen"
Ein Lülsfelder Ehepaar erzählt, die Menschen, die ins frühere Kloster einzogen, seien ihm "von Anfang an sehr suspekt" vorgekommen. Mitglieder von "Go&Change" seien, so die Beobachtung, nachts barfuß und spärlichst bekleidet durch den Ort gelaufen. Und offenbar sei den Bewohnern dort "auch das Geld aus der Tasche gezogen" worden.
Von einem "sehr guten Verhältnis mit denen" berichtet indes jemand aus der direkten Nachbarschaft der Gemeinschaft. "Das war immer ein Geben und Nehmen."
Früherer Bürgermeister: "Guru" saß regelmäßig in Gerolzhofen im Café
Der Verkauf des Klosters war in Wolfgang Angers Amtszeit als Lülsfelder Bürgermeister von 2008 bis 2020 gefallen. Er habe damals noch jemanden ins Spiel gebracht, der im Kloster einen Künstlerhof errichten wollte, sagt Anger. Doch dafür sei es zu spät gewesen.
In Lülsfeld habe er Kai K. nur einmal bei einem Grundstückstermin zu Gesicht bekommen, sagt der damalige Bürgermeister. Allerdings habe er den Mann, der jetzt vor Gericht steht, regelmäßig im benachbarten Gerolzhofen in einem Bäckerei-Café sitzen sehen. Mit wechselnden Frauen.
Und jetzt? Allzu lange, vermutet Anger, werde "Go&Change" das frühere Kloster wohl nicht mehr halten können. Dort arbeite seines Wissens nach niemand mehr. Offenbar fehle auch Geld für Heizöl, sagt Anger, die Bewohner hätten wohl den Winter hauptsächlich in zwei Tipi-Zelten neben dem Gebäude verbracht.

Angers Amtsvorgänger Robert Schemmel, der gegenüber des früheren Klosters wohnt, sagt, aktuell lebten dort wohl nur sieben oder acht Menschen. Er sehe nur ab und zu Licht brennen. Die Gebäude und das Anwesen samt großem Obstgarten würden verwahrlosen.
Wunsch der Menschen in Lülsfeld: Gerechtes Urteil
Anderen Aussagen zufolge sind indes seit Prozessbeginn wieder mehr Anhängerinnen und Anhänger von "Go&Change" in Lülsfeld zu sehen. Und zur öffentlichen Vorsilvesterfeier des Sportvereins Ende Dezember sind den Informationen der Redaktion zufolge rund 20 "Klosteraner" erschienen.
Einen Wunsch bringen in Lülsfeld fast alle Befragten vor: ein gerechtes Urteil im Prozess. Dem Angeklagten solle es nicht gelingen, sich dank juristischer Lücken und Tricks aus der Verantwortung herauszuwinden, sagt Altbürgermeister Anger.
Damit wohl verbunden: die Hoffnung, den Ortsnamen nicht mehr so oft im Zusammenhang mit mutmaßlichen Verbrechen lesen zu müssen. Denn auch deshalb werde in Lülsfeld vieles im Zusammenhang mit "Go&Change" totgeschwiegen, meint Altbürgermeister Schemmel. "Viele Leute genieren sich."
Da der Prozess aus meiner Sicht quasi der Kulminationspunkt dieser jahrelangen Geschichte ist, finde ich das wirklich fehlend.
der Prozess wird am kommenden Montag fortgesetzt. Eine gesonderte Vorschau dazu wird noch vor dem Wochenende erscheinen.
Viele Grüße,
Benjamin Stahl, Reporterchef