
Sophies Mutter ist von weither angereist. Sie wollte unbedingt beim Prozess gegen Kai K. dabei sein. Sie wollte im Schweinfurter Landgericht den Mann auf der Anklagebank sitzen sehen, den sie für den Tod ihrer Tochter verantwortlich macht: Kai K., den Kopf der Gemeinschaft "Go&Change", die im ehemaligen Kloster Maria Schnee in Lülsfeld (Lkr. Schweinfurt) lebt.
Kai K. ist in Schweinfurt nicht wegen des Suizids von Sophie im August 2022 angeklagt. Kai K. steht seit Montag vor Gericht, weil die Staatsanwaltschaft Schweinfurt ihm vorwirft, im Mai 2023 eine junge Frau vergewaltigt zu haben – in vier Fällen. Die 30-Jährige tritt in der Verhandlung als Nebenklägerin auf. Zudem werden Kai K. drei Fälle von gefährlicher Körperverletzung und 33 vorsätzliche Körperverletzungen zur Last gelegt.
Großer Andrang beim "Go&Change"-Prozess vor dem Sitzungssaal in Schweinfurt
Am späten Montagnachmittag gelang es Sophies Mutter, in den Sitzungssaal in Schweinfurt zu kommen. Für die rund 50 Menschen, die dabei sein wollten, standen nur etwa 15 Sitzplätze zur Verfügung. Am Nachmittag hörte sie dann der Aussage einer Zeugin aus der Schweiz zu.
Nach zirka einer Viertelstunde ging Sophies Mutter zu einem der im Saal sitzenden Polizisten, er begleitete sie nach draußen. Später erzählt sie, dass sie es nicht ausgehalten habe. Ihre Gefühle hätten sie überwältigt. "Ich habe mir zu viel zugemutet." Sie sei so aufgeregt gewesen, dass sie nicht einmal den Angeklagten richtig wahrgenommen habe.
Christa Dregger-Barthels: Nervöse Stimmung vor dem Gerichtssaal in Schweinfurt
Weit angereist war auch Christa Dregger-Barthels. Die 64-Jährige lebt seit über 40 Jahren in mehreren Gemeinschaften. Für eine kurze Zeit lebte die Journalistin in Lülsfeld (Lkr. Schweinfurt) bei "Go&Change". Im August 2022 verließ sie das ehemalige Kloster – nachts, mit einem schnell gepackten Koffer.
Ihr Eindruck: "Es war eine recht nervöse Stimmung, schon vor dem Gerichtssaal. Da standen sich Menschengruppen gegenüber, die früher einmal befreundet waren und sich jetzt auf entgegengesetzten Seiten wiederfanden." Jede Seite sei überzeugt, recht zu haben. "Ich natürlich auch."
Den Angeklagten Kai K. beschreibt sie differenziert: Sie habe ihn einerseits als liebevollen und begabten Gruppenleiter kennengelernt, der ein tiefes und schönes Zusammensein ausrichten konnte, in dem sich alle gesehen und respektiert fühlten. "Ich habe ihm tatsächlich auch viel in meinem persönlichen Leben zu verdanken."
Dregger-Barthels geht auch auf die "andere Seite" von Kai K. ein, "wo er in wahnhafte Zustände verfiel, absurde Dinge behauptete und von anderen forderte, dem zuzustimmen". Rückblickend meint sie: "Weder er selbst noch sein Umfeld – auch ich damals nicht – konnten diese beiden Seiten voneinander differenzieren." So sei eine Gruppendynamik entstanden, in der viel zu lange unkritisiert blieb: eine Machtfülle und ein Größenwahn, der jeden Menschen am Ende korrumpiert. "Das musste irgendwann eskalieren", so Christa Dregger-Barthels.
Weitere ehemalige Mitglieder von "Go&Change" beobachten den Prozess gegen Kai K.
Zwei weitere ehemalige Gemeinschaftsmitglieder, die anonym bleiben möchten (die Namen sind der Redaktion bekannt), schilderten, was der Prozess in Schweinfurt in ihnen auslöst. Bei ihnen wurden Erinnerungen wach, etwa an das Leid, das in ganze Familiensysteme und Freundschaften hineingewirkt habe.
"Ich habe nie Grausameres erlebt", sagt ein ehemaliges Mitglied. Die vermeintliche "Übergröße" von Kai K. komme nach Meinung des ehemaligen Mitglieds von einem grenzenlosen Narzissmus und wohl von seinem Drogenkonsum. "Wer davon nichts weiß, ist anfällig für eine vordergründige Liebenswürdigkeit." Die Menschen müssten davor geschützt werden.
Das andere ehemalige Mitglied ist der Meinung, dass die noch in der Gemeinschaft verstrickten Menschen Wahrheit von Lüge nicht mehr unterscheiden können. Sie seien in dem von den "Go&Change"-Gründern erschaffenen Narrativ verfangen, die ganze Welt sei verdreht und gegen sie gerichtet. "Es ist traurig mitanzusehen, dass diese Menschen sich womöglich als Zeugen unbewusst vor Gericht strafbar machen, weil sie die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge anhand ihrer manipulierten Wahrnehmung nicht mehr vollziehen können."
Prozess-Beobachterin glaubt, dass Verteidigung dem Angeklagten eher schadet
Zum Auftreten der Mitglieder von "Go&Change" sowie des Anwalts von Kai K. am zweiten Verhandlungstag sagt Christa Dregger-Barthels: "Es scheint mir, dass die Verteidigung und die Gruppe in ihrem Eifer, Kai zu entlasten, ihm mehr schaden als nutzen." Die Auswahl der Zeugen, die Strategie der Verteidigung: "Das ging alles nach hinten los."
Dieser Meinung ist auch Sophies Mutter. Sie blieb am zweiten Prozesstag im Sitzungssaal. Zur Zeugenaussage eines "Go&Change"-Anhängers sagt sie: "Er skizzierte ein unglaubliches, krudes Frauenbild, das Frauen als lebensuntüchtig, selbstsüchtig und auf Männer angewiesen darstellte." Sie fand "furchtbar", dass von Dämonen die Rede war und Heilung durch den inhaftierten Anführer möglich sei. "Fantasien wie aus einer anderen Welt, die mich an Methoden des Mittelalters denken ließen."
Sophies Mutter ist noch immer voller Trauer und Schmerz wegen des Tods ihrer Tochter
Trotz dieser Eindrücke und Emotionen, die wieder in ihr geweckt wurden, war Sophies Mutter froh, den Weg nach Schweinfurt gemacht zu haben. "Es war wichtig für mich den Mann zu sehen, der meine Tochter erniedrigt hatte, worüber sie sich das Leben genommen hat", sagt sie noch voller Trauer und Schmerz.
Christa Dregger-Barthels saß an beiden Tagen im Gerichtssaal in unmittelbarer Nähe der Männer und Frauen, die ebenfalls wegen Kai K. gekommen waren - als Unterstützung. Viele schrieben mit, verfolgten aufmerksam die Verhandlung. Als Kai K. am Ende des Prozesstages gefesselt an Händen und Füßen aus dem Saal geführt wurde, lächelte er kurz in ihre Richtung. Eine der Frauen brach in Tränen aus.