Was weiß der Mensch über seinen Körper? Was verbirgt sich "zwischen Locke und Socke", wie es Jens Waschke formuliert? Der 47-jährige Mediziner, der in Bad Neustadt in der Rhön aufgewachsen ist, will, dass wir unseren eigenen Organismus besser verstehen. Denn wenn man weiß, wo Niere und Leber sitzen, kann man eher nachvollziehen, warum es wo gerade zwickt. Mit seinem Anatomiebuch für jedermann - Titel: "Mensch - einfach genial" - gibt der Professor der LMU München einen lehrreichen wie unterhaltsamen Überblick über den Körper.
Was aber macht ein Anatom genau? Und warum stehen Anatomen weniger im Mittelpunkt als Virologen oder Rechtsmediziner? Fragen an einen Wissenschaftler, der nicht nur Leichen seziert.
Prof. Jens Waschke: Es gibt zwei große Missverständnisse. Zum einen herrscht eine ganz große Unsicherheit, was unser Fach ausmacht und was die Anatomie von der Pathologie und der Rechtsmedizin unterscheidet. Wenn man erzählt, dass man Anatom ist, wird man nach irgendwelchen Todesursachen oder Erkrankungen gefragt. Aber wir beschäftigen uns eigentlich nur mit dem Bau des normalen menschlichen Körpers.
Waschke: Natürlich stoßen wir im Präparierkurs schon auch auf Krankheitszeichen, aber wir untersuchen sie nicht systematisch. Während Pathologen herausfinden wollen, woran jemand gestorben ist, und Rechtsmediziner vor allem, ob eine unnatürliche Todesursache vorliegt, geht es bei uns gar nicht darum. Das verstehen viele nicht, die drei Fächer werden in einen Topf geschmissen.
Waschke: Die allgemeine Vorstellung, dass in der Anatomie alles erforscht ist und man gar nichts mehr Spannendes entdecken kann. Das hat damit zu tun, dass man die Anatomie immer noch gleichsetzt mit der makroskopischen Anatomie, mit dem, was man mit dem bloßen Auge sehen kann. Auf dieser Ebene ist tatsächlich das allermeiste schon entdeckt. Aber es gibt neue Erkenntnisse auf Zellebene. Alles ist Anatomie – bis zum Molekül runter geht es um den Bau und die Struktur von Dingen in unserem Körper.
Waschke: Auf jeden Fall sitzen wir nicht die ganze Zeit an unseren Leichen. Mehr als die Hälfte ist Forschung. Wir verwenden hochauflösende Aufnahmen, biochemische und genetische Techniken – das volle Spektrum. Wobei wir tatsächlich vielleicht mehr am Mikroskop sitzen als andere, weil uns immer auch die Morphologie, die äußere Gestalt, interessiert. Die ersten, die das Mikroskop nach der Entdeckung im 17. Jahrhundert nicht nur bei Pflanzen angewandt haben, waren ja Anatomen. Um Dinge, die man anhand der Sektion nicht hat feststellen können wie den Blutfluss in der Lunge, zu beweisen. Das war ja das Spannendste, was man mit dem Mikroskop untersuchen konnte: Wie ist der menschliche Körper aufgebaut? Über lange Zeit waren die Anatomen die Speerspitze der Medizin und der Forschung – weil sie Zugang zum menschlichen Gewebe hatte.
Waschke: Ich nenne mal ein paar, da werden Sie verwundert sein. Der berühmteste: Leonardo da Vinci! Einer der drei größten Anatomen aller Zeiten. Ein Multigenie und nicht nur Ingenieur und Künstler. Er hat zeitlebens anatomische Studien gemacht. Leonardo da Vinci hat ganz systematisch den gesamten Körper untersucht und circa 240 anatomische Zeichnungen gemacht.
Waschke: Galen von Pergamon im zweiten Jahrhundert nach Christus. Er hat zum ersten Mal das ganze anatomische Wissen zusammengetragen und mit Medizin verbunden. Seine Werke waren über 1300 Jahre die wichtigsten Anatomie-Schriften. Rein perspektivisch, wenn man die Halbwertszeit seines Wissens betrachtet, wird Galen immer der größte Anatom aller Zeiten sein. Und der dritte: Andreas Vesal. Sein großes Buch von 1543 hat zum ersten Mal die ganze Anatomie basierend auf Sektionen beschrieben. Bis heute eine der wichtigsten Medizinveröffentlichungen aller Zeiten. Aber in Würzburg ist natürlich Albert von Koelliker zu nennen, Zeitgenosse von Virchow und Röntgen und 50 Jahre lang Institutsleiter. Er wird als einer der Begründer des Mikroskopierkurses im Studium gesehen und hat ganz viele Forschungserkenntnisse hinterlassen.
Waschke: Also er ist sicher nicht perfekt. Aber er ist in ganz vielen Dingen verblüffend, dass er überhaupt so funktioniert. Also einfach genial. Den Körper muss man natürlich als Produkt der Evolution sehen. Und nicht alles ist Ergebnis einer göttlichen Schöpfung. Galen meinte ja, alles am menschlichen Körper ist perfekt – ein Beweis, dass er ein göttliches Geschöpf sein muss. Wir wissen heute natürlich, dass er sich zu dem entwickelt hat, was er ist. Es ist wirklich nicht alles genial.
Waschke: Nein, das ist der Körper wirklich nicht. Das Interessante ist, dass er immer komplexer wird, je weiter man ins Detail geht.
Waschke: Die größte? Also ein Problem ist, dass sich der Körper im Laufe der Evolution zwar daran angepasst hat, dass wir jetzt auf zwei Beinen gehen. Deswegen sehen die Bänder im Knie anders aus als in der Schulter. Trotzdem ist er an den zweibeinigen Gang nicht optimal angepasst. Dadurch gibt es Verschleißerscheinungen, Arthrose stärker in den Beinen, weil sie das Körpergewicht tragen müssen. Und der Körper ist immer noch nicht dafür gemacht, dass sich die Menschen heute mit irrsinnigen Geschwindigkeiten fortbewegen. Allein wenn man nur vom Fahrrad stürzt . . .
Waschke: Da könnte man sich fragen: Wieso ist der Mensch nicht mit Helm geboren? Das ist, glaube ich, unsere Schwachstelle: Dass sich der Mensch in seinem Verhalten so schnell weiterentwickelt, dass der Körper in seiner Evolution sich gar nicht anpassen kann.
Waschke: Da geben wohl besser Philosophen Einschätzungen ab als Anatomen. Die Frage ist ja, was den Menschen ausmacht. Manche meinen, dass die Evolution jetzt so schnell läuft wie noch nie. Und dass vielleicht bei Homo sapiens schon nicht mehr alle vergleichbar sind, weil sich manche schon so an das moderne digitale Leben angepasst haben. Aber in gewisser Weise ist die Evolution außer Kraft gesetzt . . .
Waschke: Die Triebfeder ist nach Darwin ja die Selektion. Nur wenn eine Variation oder bessere Anpassung zu mehr Nachkommen führt, entwickelt sich der Körper weiter. Und wir bekommen die Kinder ja relativ früh. Was an degenerativen Veränderungen im Alter passiert, hat ja keinen Einfluss auf die Kinderzahl. Die Frage ist also, ob sich der Körper tatsächlich noch verändert. Wahrscheinlich werden wir wesentliche Entwicklungsschritte gar nicht mehr erleben, weil sich der Mensch vorher ausrottet.
Waschke: Es gibt Organsysteme, die funktionieren auch im hohen Alter noch vorzüglich – wie das Verdauungssystem. Während das Nervensystem dagegen sehr häufig von Erkrankungen betroffen ist oder das Herz-Kreislauf-System. Ist es denn wirklich eine geniale Konstruktion, dass sich die Blutgefäße immer so weit verästeln, dass eine Region am Ende nur von einem Gefäß versorgt wird?
Waschke: Deswegen bin ich nicht so sicher, ob dieses Streben, das Alter immer weiter zu verlängern, tatsächlich das richtig ist. Die Frage ist, ob man dann wirklich ein glückliches Leben führt. Oder am Ende nur siech all die Gebrechen akkumuliert, die man eben nicht behandeln kann. Ein limitierender Faktor ist eben die Anatomie: Weil man es nicht schaffen wird, alle Organsysteme auf dem gleichen Funktionsstand zu halten.
Waschke: Sicherlich, dass wir unheimlich gut angepasst sind auf die Interaktion mit unserer Umwelt.
Waschke: Naja. Wenn wir die verschiedenen Sinne, die wir haben, kombinieren – Sehen, Hören, Tasten, Riechen – sind wir für das Leben im zweidimensionalen Raum ziemlich gut angepasst, auf Reize zu reagieren. Wenn man überlegt, wie viele Informationen wir aufnehmen und dann mit dem Gehirn verarbeiten können . . . Tiere können sicher sehr viel besser sehen, hören, riechen als wir. Aber geistig verarbeiten kann diese Sinneseindrücke kein Tier so gut wie wir. Und umgekehrt: Wir können die Umwelt auch so gut manipulieren wie kein anderes Lebewesen. Auch wenn unsere Motorik Schwachstellen hat. Und dann sind die ganzen Kommunikationssysteme unseres Körpers immer wieder absolut beeindruckend.
Waschke: Genau. Und dazu das Immunsystem, wir sehen es jetzt ja gerade wieder in der Pandemie …
Waschke: Dass das Immunsystem überhaupt funktionieren kann – das hat mich früher schon immer begeistert. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Abwehrzellen im Körper auf den Erreger, auf den sie spezialisiert sind, treffen, damit sie sich erst mal vermehren können – das ist fast schon unvorstellbar. Der Körper kann einen Organismus, den er noch nie gesehen hat, in den meisten Fällen ja abwehren. Entweder weil er gute Barrieren nach außen hat wie die Haut oder Darmschleimhaut. Oder er hat, wenn der Erreger doch hinein kommt, weil man ihn wie das Coronavirus einatmet, schon Zellen vorbereitet zur Abwehr. Und dass es sogar möglich ist, jemanden zu impfen, damit er schon einen Schutz aufbauen kann, bevor er infiziert ist – das ist ja ein absolut geniales System.
Waschke: Sagen wir mal so . . . ich bin bei uns an der Uni dafür – ich will jetzt nicht sagen verschrien, aber dafür berüchtigt, dass ich das Lymphsystem so wichtig finde. Und diese Begeisterung hat gar nichts mit Corona zu tun. Die Lymphknoten der einzelnen Organe sind für die Tumordiagnostik und –Therapie von sehr großer Bedeutung.
ein spannendes Thema...