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WÜRZBURG
Sind wir zum Laufen geboren?
Auf dem Weg vom Vier- zum Zweibeiner – und zum perfekten Langstreckenläufer.
Foto: getty images/ Montage Biscan | Auf dem Weg vom Vier- zum Zweibeiner – und zum perfekten Langstreckenläufer.
Alice Natter
 |  aktualisiert: 15.07.2024 08:54 Uhr

Der Erste, der nicht mehr wie seine Vorfahren im dichten Urwald lebte und stattdessen auf zwei Beinen durch die Welt ging, war Homo erectus. Ausgestattet ohne Schwanz, dafür mit langen Beinen, einem aufrechten Körper, schmalen Hüften und kurzen schlanken Armen war Homo erectus als Läufer unterwegs. Seine Heimat Ostafrika hatte sich vor drei bis zwei Millionen Jahren durch das veränderte Klima zu einer Grassavanne entwickelt. Und Homo erectus war die erste hominide Art, die – ohne Waffen – auf Jagd ging. Die Entwicklungsgeschichte ging weiter, aus Homo erectus wurde vor 300.000 bis 200.000 Jahren Homo sapiens, der moderne Mensch. Die Gehirne wurden größer, die Jagdtechniken verfeinerten sich – eine entscheidende Fähigkeit blieb: ohne zu überhitzen ausdauernd weite Strecken gehen und laufen zu können.

Steckt in uns noch der Jäger und Dauerläufer der afrikanischen Savanne, auch wenn wir heute zum (Über-)Leben nicht mehr rennen müssen? Und weshalb ist unser Körper fürs Laufen so gut geeignet? Der Würzburger Orthopäde und Sportmediziner Professor Maximilian Rudert, Direktor der Orthopädischen Klinik König-Ludwig-Haus, kann es erklären.

Frage: Herr Professor Rudert, laufen Sie selbst? So als normaler Gelegenheitsjogger oder vielleicht sogar Marathon?

Prof. Maximilian Rudert: Nein, nein, für Marathon bin ich zu schwer und in zu schlechter Form. Ich jogge ab und zu, leider schaffe ich es nicht regelmäßig. Joggen halte ich für die effizienteste Form des Energieverbrauchs, ohne seinen Bewegungsapparat nur schwer kalkulierbaren Risiken auszusetzen. Man kommt schnell auf ein Niveau, das einen Trainingseffekt bedeutet, aber nicht immer gleichzeitig eine Überlastung mit sich bringt.

Sind wir Menschen zum Laufen geboren?

Rudert: Richtig, eigentlich sind wir das. Wir sind ein Ergebnis der Evolution. Die Anatomie des Menschen, die Entwicklung zum aufrechten Gang geht auf die Lebensform mit den größten Überlebenschancen zurück. Wir haben den aufrechten Gang, damit wir laufen und weil das eine besonders effiziente Form der Fortbewegung ist. Ja, wir sind zum Laufen geboren.

Warum ist unser Körper genau dafür geeignet? Was macht uns anatomisch zum Läufer?

Rudert: Der aufrechte Gang ist die Voraussetzung, dass wir so laufen können wie wir jetzt laufen. Wenn man sich die Entwicklung vom Vierbeiner zum Zweibeiner anschaut: was sich hauptsächlich verändert hat, ist die Wirbelsäulenkrümmung. Oder einfach gesagt: Der Mensch versucht immer, den Kopf im Lot über dem Becken und den Beinen zu halten. Das tut er sowohl beim Gehen als auch beim Laufen. Das können wir nur, weil wir im Vergleich zu Tieren eine doppelt geschwungene Wirbelsäule haben. Vierbeiner haben gebogene Rücken, eine C-förmige Wirbelsäule. Durch die doppelte S-Form sind wir in der Lage, uns so auszubalancieren, dass wir den Kopf immer über dem Lot, immer zentral halten.

Das doppelte S macht uns vom Affen zum Menschen . . .

Rudert: Was uns vom Affen auch unterscheidet, der ja auch auf zwei Beinen laufen kann: Er streckt die Hüft- und Kniegelenke nicht vollständig. Wenn Sie selber leicht in die Hocke gehen und versuchen, eine Zeitlang zu laufen – dann merken Sie, wie anstrengend das wird.

Das sind schlechte Erinnerungen an den Sportunterricht . . .

Rudert: Genau! Und selbst, wenn man nur leicht in die Hocke geht, ist das unheimlich kräftezehrend. Man muss andauernd die Muskulatur benutzen, um nicht hinunterzusacken. Wir Menschen können das Knie- und Hüftgelenk komplett strecken, das ist ein besonderer Faktor, der das Laufen viel einfacher und effektiver macht. Wir sind ja nicht die schnellsten Läufer unter den Tieren. Aber wir laufen extrem energiesparend. Und dazu kommen unsere Füße.

Weil sie kein Greifwerkzeug mehr sind?

Rudert: Wir haben 26 Fußknochen, die alle sehr pfiffig miteinander verbunden sind. Zusätzlich verspannt die Muskulatur, die vom Unterschenkel kommt, kräftig die Gewölbestrukturen des Fußes, unterstützt von den kleinen, kurzen Fußmuskeln. Das ermöglicht es uns, das Gewicht, das wir tragen und das immer wieder auf den Fuß kommt, stark zu dämpfen. Gleichzeitig können wir aus der Dämpfung heraus aber auch wieder Beschleunigungsenergie entwickeln.

Also ist er eine Feder?

Rudert: Eine Art Sprungfeder, ja. Und alle Zehen gehen in eine Richtung – einen Ast oder eine Flasche können wir mit dem Fuß nicht mehr greifen.

Sehen Sie an einem Fuß eigentlich, ob jemand viel – und sportlich – läuft oder nicht?

Rudert: Nein. Das kann man auch nicht am Röntgenbild ablesen. Das liegt aber wahrscheinlich daran, dass unsere Füße alle in konfektioniertem Schuhwerk stecken. Läufer haben die gleichen Fußverformungen wie andere auch, die oft auch genetisch festgelegt sind. Usain Bolt, zum Beispiel, hat einen Ballenfuß, einen Hallux valgus, eigentlich ungünstig für einen Läufer. Trotzdem ist er der schnellste Mann der Welt. Unsere Schuhe sind der Belastung angepasst, Sportschuhe haben in der Regel eine super Fußbettung – damit fangen wir viel auf. Interessant wäre mal die Frage, was jemand, der heute drei, vier Mal in der Woche eine Stunde joggt, später im Alter für Füße hat. Ob man das dann sieht?

Usain Bolt ist Sprinter – aber eigentlich sind wir Menschen doch eher zum Dauerlaufen gemacht?

Rudert: Man sagt, der Vorteil des Menschen in der Steppe war, dass er Tiere bis zum Kollaps jagen konnte mit seinem System, auch Flüssigkeit abzugeben, also schwitzen zu können. Ob diese Theorie wirklich stimmt, weiß ich nicht. Der Mensch hat sich ja auch durch die Verwendung von Werkzeugen und Waffen einen Vorteil verschafft und musste einem Tier nicht hinterherlaufen, bis es irgendwann umfällt.

Wobei die Funktion des Schwitzens schon wichtig ist, oder?

Rudert: Für das lange Laufen ist das anscheinend ein echter Vorteil, nicht zu überhitzen.

Was man immer wieder hört: Aufrechter Gang, lange Wirbelsäule, deshalb bekommen wir Rückenschmerzen. Stimmt das? Was sagt der Orthopäde?

Rudert: Glaube ich nicht. Wobei ich diese Frage nicht beantworten kann. Man müsste den Hund nach Rückenschmerzen fragen können. Es gibt viele Gründe für Rückenschmerzen. Und natürlich hängt die Belastungsform, die wir haben und die über die Bandscheiben gepuffert wird, auch mit dem aufrechten Gang zusammen. Aber es gibt in der Medizin nichts, das sich über so lange Zeit entwickelt hat, was für uns primär von Nachteil wäre. Die Frage ist immer, wie sehr wir selbst in die Evolution eingreifen und dadurch Schwächen fördern. Beispiel Kurzsichtigkeit, die sich heute problemlos durch Brillen ausgleichen lässt. Man kann sich vorstellen, dass früher nur die überlebten, die gut sehen konnten.

Empfehlen Sie eigentlich, barfuß zu laufen?

Rudert: Ja, barfußlaufen empfehlen wir. Zum Beispiel bei Kindern, bei denen die Muskulatur im Fuß noch nicht so richtig gut ausgebildet ist, damit sie ein gutes Längsgewölbe entwickeln. So viel wie möglich barfuß laufen, definitiv. Aber wenn es geht, auf unebenem Boden. Ein Teil unserer Schuhe macht durchaus auch Sinn. Denn wenn Sie immer nur auf Steinplatten gehen, ist das für die Fußmuskulatur auch nicht besonders angenehm. Die Fußbettung bei den Laufschuhen ist sinnvoll, weil viele so lange laufen, bis die Fußmuskulatur ermüdet ist. Dann fängt der Fuß an, sich durchzubiegen und platt zu werden oder sich auseinanderzuspreizen.

Kommen Läufer in die Klinik, weil sie jahrelang nur auf Asphalt gejoggt sind?

Rudert: Heutzutage ist das Schuhwerk so gut und hat so stark dämpfende Eigenschaften – das ist kein Problem mehr so wie früher.

Was sind dann orthopädisch unsere Schwachstellen? Oder ist unsere Anatomie wirklich so perfektioniert?

Rudert: Das Knorpelgewebe in den Gelenken zum Beispiel ist eigentlich eine verschleißfreie Kombination aus Werkstoffen. Das heißt, durch unsere Gelenke und Muskeln haben wir angeborenerweise ein System, das fantastisch funktioniert und keine wirklichen Nachteile bietet. Das einzige Problem ist aus orthopädischer Sicht: Wenn Sie einmal einen Schaden im Gelenk haben, durch eine Verletzung von außen, eine Entzündung oder permanente Überlastung, repariert er sich nicht – wie in vielen anderen Geweben – selber. Das ist ein definitiver Nachteil. Der Defekt führt mechanisch zu einer langfristigen Zerstörung. Das macht unsere sekundären Therapien nötig.

Wann beginnt die Überlastung?

Rudert: Wenn Sie zum Beispiel stetig zu viel trainieren. Nehmen Sie einen Hochleistungssportler, der natürlich immer wieder versucht, an seine Grenzen zu kommen. Wenn er seine Grenzen überschreitet, die ihm sein Bewegungsapparat mitgegeben hat, dann wird das zum Problem. Unser Schmerzempfinden ist ein guter Regulator, was wir unserem Körper zumuten können.

Also lieber nicht bei Schmerzen laufen?

Rudert: Ja. Es kann auch zu viel werden. Es gibt ja viele Gründe, warum man läuft. Ich persönlich nicht, weil ich Laufen besonders mag. Sondern nur, weil ich meinen Kreislauf so hochpushen kann, dass ich mir davon erhoffe, das kardiovaskuläre Leistungsniveau zu steigern oder zu halten. Belastung braucht auch der Knorpel. Er wird ja nicht von Blutgefäßen versorgt, sondern dadurch ernährt, dass die Gelenkflüssigkeit in den Knorpel geht und wieder rausgepresst wird. Das funktioniert nur, wenn Sie die Gelenke bewegen. Wir brauchen Training und Bewegung – für die Gelenke und um das Herzkreislaufsystem zu erhalten. Da muss jeder seine persönlichen Grenzen herausfinden.

Würden Sie dann jedem empfehlen, laufen zu gehen?

Rudert: Ich würde Laufen denen nicht empfehlen, die übergewichtig sind. Denen nicht empfehlen, die schon Gelenkschäden haben und beim Laufen Beschwerden bekommen. Das war?s aber schon.

Unsere moderne Lebensform als Büromenschen, Autofahrer, Sofasitzer ist dann aber eigentlich nichts für unseren perfektionierten Körper?

Rudert: Stimmt. Aber es gibt ja aktuelle Gegenbewegungen. Allein, wenn Sie schauen, was E-Bikes bewirken. Es bewegen sich wieder viel mehr Leute als vor fünf oder zehn Jahren.

Wie alt kann aus orthopädischer Sicht ein Körper werden?

Rudert: Der orthopädische Faktor? Bei manchen schränkt er natürlich extrem ein. Aber vom Bewegungsapparat selber können wir sagen: Wir haben praktisch einen verschleißfreien Apparat. Er bekommt ein Problem im Alter dann, wenn die Muskelmasse abnimmt. Unser Skelett ist nicht der limitierende Faktor. Das sind das Herzkreislaufsystem und der Muskelschwund.

Klingt nach gutem Schlusswort: Unbedingt laufen und was für die Muskeln tun auch im hohen Alter?

Rudert: Die Erhaltung der Muskulatur, die dann wiederum auch die Gelenke beweglich hält, für eine höhere Lebensqualität auch im Alter sorgt und letztendlich Leben verlängert, ist ein erstrebenswertes Ziel für uns alle. Insofern sollten wir alle versuchen, uns möglichst fröhlich und gesund und lange zu bewegen.

Prof. Dr. Maximilian Rudert, Jahrgang 1965, ist Orthopäde, Sportmediziner und seit 2009 Ärztlicher Direktor der Orthopädischen Klinik König-Ludwig-Haus in Würzburg. Rudert studierte in München, Würzburg, Oxford und Ann Arbor (USA) Medizin und war, bevor er an die Uni Würzburg berufen wurde, Leitender Oberarzt und stellvertretender Direktor der Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Sportorthopädie des Klinikums Rechts der Isar in München. Seine Spezialgebiete sind Tumororthopädie, Fußchirurgie, Hüft- und Kniegelenkchirurgie und Knorpelzelltransplantationen aller Gelenke.

Läuft, wenn er es zeitlich schafft: Professor Dr. Maximilian Rudert, Inhaber des Lehrstuhls für Orthopädie an der Uni Würzburg, hält Joggen für die effizienteste Form des Energieverbrauchs, ohne seinen Bewegungsapparat größeren Risiken auszusetzen.
Foto: Rudert/Orthopädische Klinik König-Ludwig-Haus | Läuft, wenn er es zeitlich schafft: Professor Dr. Maximilian Rudert, Inhaber des Lehrstuhls für Orthopädie an der Uni Würzburg, hält Joggen für die effizienteste Form des Energieverbrauchs, ohne seinen ...
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