Für einen Reisebegleiter, der Kapitän Robert FitzRoy während der Weltumsegelung bei Tisch standesgemäß Gesellschaft leisten soll, ist Charles Darwin in bemerkenswert schlechter Verfassung. Er leidet an der Seekrankheit. 533 Tage wird das Vermessungsschiff „MS Beagle“ auf See sein – und der junge Naturforscher wird das Übel während der gesamten Reise nicht mehr los. „Denk an mich und hab Mitleid“, schreibt Darwin am 27. Dezember 1835, von Neuseeland aus, an seine Schwester daheim. „Ich zähle jede Station der Heimreise, und einer verlorenen Stunde werden größere Folgen zugeschrieben als früher einer Woche.“ Genau vier Jahre zuvor war der junge Forscher an Bord des Vermessungsschiffs aus der britischen Heimat aufgebrochen.
Kapverden – Brasilien – Feuerland – Falklandinseln – Patagonien – die Westküste Südamerikas – die Galapagosinseln – Tahiti . . . und jetzt Neuseeland. Darwins Freude, Neues zu entdecken, ist ermattet. Er hat den Karneval in Rio besucht, war Zeuge der Revolutionen in Montevideo und Lima. Er hat auf der Insel Chiloé den Ausbruch des Vulkans Osorno beobachtet, hat bei Vadivia in Chile ein Erdbeben erlebt. Er hat Berge und Flüsse erforscht. Er hat in Patagonien die Fossilien riesiger ausgestorbener Landsäuger entdeckt und Schädel und Knochen eines pferdegroßen Riesenfaultiers freigelegt. Hatte – zur Verzweiflung des Ersten Offiziers – Unmengen Insekten, Pflanzen und brockenweise Gestein an Bord gebracht. Gerade hat er die zweimonatige Fahrt über den Pazifik hinter sich. Der Weltreisende fühlt sich nur noch schlecht.
„Ohne Zweifel waren unsere Vorfahren Baumtiere.“
Charles Darwin in „Die Abstammung des Menschen“
Und trotz der Übelkeit, trotz der Beschwerden denkt er in diesen Tagen darüber nach, was er auf den Galapagosinseln, 1000 Kilometer vor der Küste Südamerikas, beobachtet hat. Die Vögel, die Echse, die vulkanische Geologie haben ihn fasziniert. Dass die Finken auf den Inseln des Archipels sich leicht unterscheiden, war ihm zunächst gar nicht aufgefallen. Der Vizegouverneur von Charles Island hatte ihm zwar erzählt, dass er bei jeder Riesenschildkröte erkennen könne, von welcher Insel sie stammt. Wie seltsam, wie erklärungsbedürftig das ist, begreift Darwin erst kurz vor der Weiterfahrt: „Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass Inseln, die meist in Sichtweite voneinander liegen, aus genau demselben Gestein geformt, einem ganz ähnlichen Klima ausgesetzt, unterschiedlich bewohnt sind“, schreibt er in sein Bordtagebuch. Bis zu den Beobachtungen auf dem Galapagos-Archipel hat der junge Forscher nur über geologische und klimatische Barrieren nachgedacht. Warum etwa unterscheiden sich die Tiere und Pflanzen auf der Westseite der Anden von denen der Ostseite? Offenbar mussten sie geschaffen worden sein, bevor die Gebirgskette entstand.
Die Beziehungen zwischen den Arten auf den Galapagos-Inseln – sie sind ihm ein Rätsel. Immer stärker bewegt ihn auf der Rückfahrt nach England die Frage, ob Arten veränderlich sein können. Ob sie sich vielleicht langsam weiterentwickelten? Die Frage nach ihrem Ursprung lässt Darwin nicht mehr los.
Zurück in England stürzt sich der Naturforscher in die Arbeit. Er sortiert seine Sammlung, schreibt Fachartikel, stellt sein Reisetagebuch fertig, tritt in den Wissenschaftskreisen als Redner auf, hält Vorlesungen. Zu Beginn des Jahres 1837 hat er dem Museum der Zoological Society in London 80 konservierte Säugetiere und 450 Vögel überreicht. Der Ornithologe John Gould findet schnell heraus, dass es sich bei den Galapagos-Vögeln, die Darwin für eine bunte Mischung aus Finken, Zaunkönigen, Grasmücken und Drosseln gehalten hatte, in Wirklichkeit um eine nahe (und neue) Gruppe unterschiedlich angepasster Grundfinken handelt. Gould klassifiziert 13 verschiedene Arten. 13 Enden zählt schließlich auch der „Baum des Lebens“ in Darwins Notizbuch: Im Sommer 1837 skizziert er mit wenigen Strichen einen Stammbaum. Nach und nach, so seine Vorstellung, entwickelt sich aus kleinen Veränderungen ein großer Unterschied: Aus einer Art werden zwei – der Baum des Lebens hat einen neuen Zweig.
Der Forscher verwirft die Vorstellung einer spontanen Entstehung von Leben. Er verbannt in seinen Notizen den lenkenden Gott aus seiner reformierten Biologie. An göttliche Offenbarung glaubt der studierte Theologe nicht mehr. Im März 1838 sieht Darwin im Londoner Zoo zum ersten Mal einen Menschenaffen. Er macht sich Aufzeichnungen über die menschenähnlichen Gefühlsregungen des Orang-Utans und befasst sich mit dessen Verhalten. Er ist sich völlig klar, was seine Überlegungen bedeuten: „Das gesamte wunderbare Gebilde wankt und fällt.“
29 Jahre ist Darwin nun alt – und er macht sich auch privat systematische Gedanken: Soll er seine Cousine Emma Wedgwood heiraten? Als eingefleischter Kategorisierer macht er in seinen Notizbüchern eine Liste der Vor- und Nachteile. Kinder sind für ihn ein Argument für – aber auch eines gegen die Ehe. Darwins Ergebnis: Materiell überwiegen die Vorteile. Bald darauf macht er der Cousine den Antrag.
Als er 1839 heiratet, hat er die wesentlichen Elemente seiner Evolutionstheorie beisammen. Er hat Thomas Malthus Bevölkerungstheorie gelesen und kommt zu dem Schluss, dass Überbevölkerung der Auslöser von Konkurrenz und Selektion sein muss. Der Kampf ums Dasein wird ein Schlüssel: „Plötzlich kam mir in den Sinn, dass unter diesen Umständen vorteilhafte Variationen erhalten bleiben müssten, während unvorteilhafte zugrunde gehen“, schreibt er später in seiner Autobiografie.
„Absurd, ein Tier höher entwickelt einzustufen als ein anderes.“
Darwin in seinen Notizbüchern über Veränderlichkeit
1842 kehrt er – mitgenommen, überarbeitet, geplagt von ständigen Bauchschmerzen, Blähungen, Übelkeit – mit seiner Familie dem dreckigen London den Rücken. Er kauft sich in der Grafschaft Kent ein altes Pfarrhaus und zieht aufs Land. Seine Evolutionstheorie hat er auf 35 Seiten in einem vorläufigen Entwurf niedergeschrieben. Im Februar 1844 ist das 231 Seiten dicke Manuskript fertig. Aber Darwin zögert, die Abhandlung zu veröffentlichen. Er hat einen guten Ruf in der Gemeinschaft der Gelehrten. Tiere und Pflanzen sind inzwischen nach ihm benannt. Er will seinen Kindern ein hohes Ansehen vermachen. Und er experimentiert unermüdlich. Erforscht die Flugbahn von Hummeln. Züchtet Pflanzen auf der Fensterbank. Seziert und beschreibt Rankenfußkrebse, die er aus Chile mitgebracht hat. Sucht weiter nach verlässlichen Beweisen für seine Theorie. Feilt daran.
1856 bestärkt ihn der Freund und Kollege Charles Lyell, die Gedanken über natürliche Selektion endlich zu veröffentlichen. Darwin beginnt, an seiner Publikation zu schreiben. Im März 1858 hat er 250 000 Worte zu Papier gebracht und damit die „Natural Selection“ zu zwei Dritteln fertiggestellt. Drei Bände soll das gesamte Werk am Ende umfassen. Am 18. Juni hört Darwin abrupt auf zu schreiben. Er hat Post von den Molukken erhalten: Der britische Forschungsreisende Alfred Russel Wallace schickt ihm ein Manuskript, das Darwin schockiert. Wallace hat eine Evolutionstheorie entwickelt, die in stupender Weise seiner eigenen gleicht.
Jetzt muss es schnell gehen. Am 1. Juli 1858 werden Wallace' und Darwins Thesen von der natürlichen Selektion vor der ehrwürdigen Linnean Society in London erstmals öffentlich präsentiert. Am 24. November 1859 schließlich erscheint Darwins Buch „Von der Entstehung der Arten“. Es wird ein Bestseller: Die 1250 Exemplare der ersten Auflage sind sofort ausverkauft. Den größten Teil der Wissenschaftsgemeinde hat Darwin überzeugt.