
Die Frau am Telefon weint. "Was haben sie unseren Kinderseelen nur angetan!" Anna, wie wir die Anruferin hier nennen, erzählt von ihrer Zeit vor fast 60 Jahren in einem evangelischen Kinderheim. Sie berichtet von grober Distanzlosigkeit, Schlägen, von sexuellen Übergriffen und sexualisierter Gewalt im Nicolhaus in Willmars in der Rhön.
Anna bestätigt die Anschuldigungen gegen den damaligen Leiter, einen Diakon, und gegen den früheren Pfarrer des kleinen Ortes: Zwei Männer haben sie erhoben. Seit die beiden Betroffenen, Hermann Ammon und Klaus Spyra, an die Öffentlichkeit gegangen sind, grummelt es in Willmars – und nicht nur dort. Es grummle auch in ihrem Inneren, sagt Anna. Denn Ammon und Spyra werden beide ob ihrer Schilderungen der Lüge bezichtigt.
Anna wendet sich an diese Redaktion, als sie von den Lügenvorwürfen gegen Ammon und Spyra hört. Geäußert hat sie der ehemalige Lehrer und frühere Bürgermeister von Willmars, Gerhard Schätzlein. Er bestreitet vor allem vehement die Anschuldigungen gegen den Pfarrer, der ab 1963 bis 1979 in der Gemeinde eingesetzt gewesen war. Die Missbrauchsvorwürfe gegen den Diakon, Heimleiter von 1969 bis 1971, werden von Schätzlein dagegen weniger angezweifelt.
Lange hat Anna ihre Geschichte für sich behalten. Doch die Ausführungen des früheren Bürgermeisters haben sie empört. Sie will ebenfalls von ihren Erfahrungen berichten, die ihr Leben massiv beeinträchtigt haben. So höre sie auf einem Ohr nichts, weil sie vom Pfarrer derart fest geohrfeigt worden sei, dass ihr Trommelfell platzte, sagt Anna. Es sei nicht die einzige "Erinnerung" an ihn.
Anna war acht Jahre lang Heimkind im Nicolhaus, von 1967 bis 1975. Hermann Ammon war als Kleinkind 1962 nach Willmars gekommen, Klaus Spyra 1969. Im selben Jahr wurde der Diakon Leiter des Heims. Und in diesem Jahr begann für Klaus Spyra der Missbrauch, so wie für Anna. Beide waren damals zehn Jahre alt, als der Diakon und der frühere Pfarrer von Willmars, der damals auch die Heimaufsicht hatte, ihnen unsägliches Leid angetan haben.
Waltraud Niklaus fühlt sich zurückversetzt in ihre Zeit im Kinderheim
Nicht nur Anna nimmt Kontakt zur Redaktion auf. Auch Waltraud Niklaus meldet sich nach dem Bericht über Gerhard Schätzleins Lügenvorwürfe.
Die 68-Jährige will mit ihrem richtigen Namen berichten. Sie klingt entschlossen, spricht mit fester Stimme. Was sie erzählt, lässt einen zutiefst verletzten Menschen erkennen.
"Ich habe mich geschämt, ein Heimkind zu sein", sagt Waltraud Niklaus. Was sie im Nicolhaus erlebt habe, "habe ich alles lange vergraben". Seit einigen Wochen aber fühle sie sich zurückversetzt in ihre Zeit im evangelischen Kinderheim.
Knapp vier Jahre war sie dort, von 1964 bis Anfang 1969. Sie kann somit aus der Zeit erzählen, bevor der Diakon Heimleiter wurde. Niklaus beschuldigt deshalb ausschließlich den Pfarrer. Und die Frau, die vor dem Diakon die Heimleitung innehatte, beschuldigt sie der Mitwisserschaft: "Wir mussten sie Hausmutter nennen."
Beide Frauen erzählen unabhängig voneinander Missbrauch durch Pfarrer
Anna und auch Waltraud Niklaus beschreiben unabhängig voneinander das Vorgehen des Pfarrers, den Missbrauch. Sie ergänzen einander, ohne miteinander in Kontakt zu stehen. Sie eint dasselbe Schicksal.
Der Pfarrer soll oft im Heim an den Wochenenden die Aufsicht übernommen haben. "Er hat uns geweckt und beim Waschen zugesehen." Manchmal sei auch der Diakon danebengestanden. Als sie alleine im Zimmer war, habe der Pfarrer ihren Rücken gestreichelt, sagt Anna. Er habe an ihre Brust gefasst und gesagt: "Du riechst so gut." Mit der anderen Hand habe er sich selbst befriedigt, und öfter zu ihr gesagt, sein Penis "könnte dein Freund werden".
Waltraud Niklaus sagt, der Pfarrer habe ihr an die Brust gefasst
Waltraud Niklaus erinnert sich an folgende Szene: "Immer am Jahresende wurde geprüft, welche Kleider wir benötigten." Die Kontrolle habe der Pfarrer durchgeführt: "Ich musste meinen Kittel hochziehen, dann hat er an meine Brust gefasst und gesagt, ich bräuchte noch keinen BH." Die Hausmutter habe daneben gesessen, geschwiegen und die Anträge ausgefüllt.
Bei diesen Übergriffen blieb es nicht. Niklaus berichtet von brutalen Schlägen mit dem Lineal – als Strafe für schlechte Noten im Zeugnis. Wer vor dem Büro im Heim antreten musste, habe gewusst, was drinnen passiert. "Ich musste mich über den Tisch beugen, den Rock hochnehmen und die Unterhose runterziehen. In der einen Hand hielt er das Lineal und schlug damit auf den nackten Po", erzählt sie. "Seine andere Hand war an meiner Hüfte. Nach und nach ist er mit dieser Hand weiter runtergerutscht und hat mir zwischen die Beine gelangt."
Nach jedem Schulzeugnis sei es so gewesen. Und ein Mal in der Woche, wenn Hausmutter und Betreuer dem Pfarrer berichteten, was die Heimkinder angestellt hätten.
Betroffene berichtet: Hausmutter kam ins Zimmer und unternahm nichts
Auch daran erinnert sich Waltraud Niklaus: "Einmal ging die Türe auf, während er mich schlug. Der Pfarrer hat wohl vergessen, zuzuschließen." Die Hausmutter sei ins Büro gekommen. Der Pfarrer habe das Mädchen erschrocken angeschrien: "Zieh sofort die Hose wieder hoch. Was fällt Dir ein!" Und wieder habe die Hausmutter nichts unternommen.
Wenn die Kinder im Heim krank waren, habe der Pfarrer die Untersuchungen durchgeführt. "Wir haben uns vor ihm, vor seinen großen Händen geekelt", sagt Niklaus. Sie hat deshalb ihre starken Schmerzen in der Bauchgegend ausgehalten, bis es nicht mehr ging. "Ich hatte einen Blinddarmdurchbruch und kam damals gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus."
Erst nach und nach kommt in dem Gespräch mit Waltraud Niklaus noch ein weiterer Fall ans Licht, den sie beobachtet hat. Die Szene hat sich in ihr Gedächtnis gebrannt.
Waltraud Niklaus beobachtet Vergewaltigung durchs Schlüsselloch
Die 68-Jährige berichtet: Ein Junge, sie weiß noch heute seinen Vornamen, sei ins Büro zum Pfarrer zitiert worden. Sie habe einige Minuten später durchs Schlüsselloch geschaut und gesehen, was der Pfarrer mit dem Jungen machte: Beide Hosen seien heruntergezogen gewesen, der Pfarrer habe sich über den Jungen gebeugt …
Waltraud Niklaus nennt weitere Details. Sie beschreibt eine brutale Vergewaltigung eines Kindes. Sie erzählt von ihrem Schock. Und dass sie beim Schlüssellochgucken erwischt worden sei. Dafür bekam sie dann wieder Schläge auf den nackten Po.
Hausmutter soll Briefe an die Mutter zensiert haben
Sie erinnert sich auch, dass Jungen öfter ins Pfarrhaus gerufen wurden. "An ihnen hat er sich bevorzugt vergangen."
Laut Niklaus hat die Hausmutter nie eingegriffen. Im Gegenteil. Sie habe Briefe an die Mutter zensiert, zudem gelogen und vertuscht. Denn als sie ihrer Mutter nach ihrer Zeit im Nicolhaus erzählte, was der Pfarrer ihr angetan hatte, habe die Mutter mit einer Anzeige gedroht. Die Hausmutter sei gekommen, habe ihre Mutter davon abgehalten: Sie brauche nichts unternehmen, der Pfarrer habe bereits vor Gericht gestanden.
Waltraud Niklaus zweifelt das heute an. Sie will zur Gewissheit Einsicht in die Personalakte des Pfarrers erhalten. Zumindest will sie eine konkrete Auskunft von der evangelischen Landeskirche.
Die beiden Frauen sind sich sicher: "Die Hausmutter hat alles gewusst. Sie hat uns und die Jungen ja zum Pfarrer geführt." Aber auch andere Betreuerinnen beziehungsweise "Heimtanten" hätten mitgemacht. Eine sei "besonders schlimm" gewesen, sagt Anna. Sie sei 1969 kurz nach dem Diakon gekommen und mit ihm 1971 wieder gegangen.
Anna hat auch noch das Bild von weinenden Jungen vor Augen, die aus dem Büro im Nicolhaus kamen. Und die Bilder von Buben, die nur im Stehen essen konnten. "Wir dachten damals, das liegt an den Schlägen", sagt Anna.
Beide Frauen waren als Kinder sehr unterschiedlich. Das lässt sich aus ihren Erzählungen schließen. Anna sagt, sie sei klein und schmächtig gewesen. Als sie zehn Jahre alt war, habe der Pfarrer sie "angefasst" und "belästigt". Der Diakon auch. Erst als sie 14 oder 15 Jahre alt war, habe die Übergriffigkeit aufgehört.
Bei Waltraud dagegen hörte der sexuelle Missbrauch auf, als sie zehn Jahre alt war. "Ich war früh entwickelt, hatte bald meine Periode und war dann wohl zu 'reif' für ihn", vermutet sie. "Er bevorzugte Kinder."
Anna hatte Geschwister im Nicolhaus, der Kontakt zu ihnen sei dort jedoch meist unterbunden worden. Ebenso zu den Eltern, die extra nach Willmars gezogen seien.
Anna: Erst mit dem neuen Heimleiter wurde es besser
Anna sagt: "Einer meiner Brüder hat die Zeit im Heim nicht verkraftet. Er war psychisch krank." Einmal sei er so schlimm geschlagen worden, dass seine Hoden blau gewesen seien, sagt Anna. Erst ab 1971 sei es unter dem neuen Heimleiter besser geworden. Der Pfarrer sei danach nicht mehr an den Wochenenden oder zur Begutachtung der Zeugnisse ins Nicolhaus gekommen. "Ein Tiergarten wurde aufgebaut, mit Eseln, Hasen, Hühnern."
Bei einem Ehemaligentreffen in Willmars vor einigen Jahren habe sie den Pfarrer "konfrontieren" wollen, sagt Waltraud Niklaus. Aber sie kam zu spät. "Er war schon tot."
Anfang Dezember wollen beide Frauen jetzt erstmals an den Aufarbeitungsgesprächen in Willmars teilnehmen. Zwei dieser Treffen haben bereits stattgefunden. Auch Waltraud Niklaus und Anna erhoffen sich - wie Hermann Ammon, Klaus Spyra und ein weiterer Betroffener, der anonym bleiben möchte - umfassende Informationen von den Vertreterinnen von Diakonie und der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.
Hat er mal mit den Frauen gesprochen?
Was für ein ekligen und perverser Mensch sein Freund und Pfarrer doch war. Ich erwähnte in einem anderen Kommentar, man kann einen Menschen anschauen, aber seine geistigen Schweineteien im Kopf kann niemand sehen.
Es ist einfach schrecklich, was man hier erfährt und lesen muss.