
Klaus Spyra und Hermann Ammon mussten in ihrer Kindheit Schreckliches erfahren. Sie wurden vor über 50 Jahren auf Veranlassung des Jugendamtes im evangelischen Kinderheim Nicolhaus in Willmars (Lkr. Rhön-Grabfeld) betreut – eine Einrichtung der Diakonie. Beide ehemaligen Heimkinder beschuldigen den damaligen Leiter des Nicolhauses, ein Diakon aus Niedersachsen, der sexuellen und körperlichen Gewalt. Und sie beschuldigen jetzt auch den für die Heimaufsicht zuständigen Pfarrer der Rhön-Gemeinde.
Es geht um den Zeitraum von Ende 1960er Jahre bis 1973. Die Anschuldigung gegen den Diakon ist seit längerem bekannt. Dass auch der frühere Ortspfarrer von Willmars geprügelt und brutal missbraucht haben soll, kam erst jüngst ans Licht.
Aufgrund der föderalen Struktur von evangelischer Kirche und Diakonie stellt sich die Frage, wer die Fälle untersucht - und wer Verantwortung übernimmt. Ein Überblick.
Wer ist für die Aufarbeitung der sexualisierten und körperlichen Gewalt zuständig?
"Die primäre Verantwortung für das, was vor Ort passiert, liegt beim Träger", teilt Daniel Wagner, Sprecher der Diakonie Bayern, mit. Das habe rechtliche Gründe. Wenn die Diakonie gefragt werde, dann "unterstützt, berät, begleitet und entlastet sie, wo es geht".
"Grundsätzlich ist für die Aufarbeitung der jeweilige Rechtsträger der Institution verantwortlich, bei der die Übergriffe stattgefunden haben", bestätigt Johannes Minkus, Sprecher der Evangelischen Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB).
Wer arbeitet die Vorwürfe gegen den Pfarrer von Willmars auf?
Was den früheren Ortspfarrer von Willmars betrifft "stehen wir auch als ELKB in der Pflicht, bei der Aufarbeitung mitzuwirken", sagt Sprecher Minkus. Für die Aufarbeitung sei in diesem Fall die ELKB-Fachstelle für den Umgang mit sexualisierter Gewalt zuständig.
Was unternimmt der Trägerverein der Diakonie in Willmars?
Dagmar Herda, die Vorsitzende des kleinen Trägervereins der Diakonie in Willmars, ist mit dem Landesverband und mit der Landeskirche in Kontakt. "Wir übernehmen Verantwortung", sagt Herda. Es gehe aktuell "vor allem darum zu definieren, was der Begriff 'Aufarbeitung' überhaupt alles beinhaltet". Man sei sich aber einig: "Wir wollen vor allem die Bedürfnisse der Betroffenen in den Blick nehmen: Was brauchen sie? Was wünschen sie sich von uns?"
In einer Ausschusssitzung seien die weiteren Schritte besprochen worden, sagt die Vereinsvorsitzende. Eine Arbeitsgruppe von acht Ehrenamtlichen versuche an mehr Informationen zum Diakon, der von 1969 bis 1971 Heimleiter war, sowie zum Ortspfarrer zu kommen. Und auch zu den beiden Betreuerinnen, den "Tanten", die ebenfalls gegenüber den Kindern gewalttätig gewesen sein sollen.

Wie sind die Reaktionen in Willmars und gibt es in dem Ort noch Zeitzeugen?
Die Reaktionen in Bezug auf den Ortspfarrer beschreibt Vereinsvorsitzende Herda als "geteiltes Entsetzen". Dass er gewalttätig gewesen sei, habe man gewusst. Vom sexuellen Missbrauch durch den Pfarrer aber niemand. Einige Zeitzeugen würden noch leben, etwa eine Erzieherin. Sie sei "sehr gesprächsbereit" und habe eine pädagogische Fachkraft erwähnt, die damals ebenfalls übergriffig gewesen sein soll.
Was wissen ehemaligen Heimkinder über den neuen Vorwurf der Zeitzeugin?
Hermann Ammon bestätigt auf Nachfrage: Diese pädagogische Fachkraft habe andere Kinder und auch ihn geschlagen. "Ohrfeigen wurden damals als legitimes Erziehungsmittel angesehen", sagt der 64-Jährige. "Wir Kinder kannten es damals nicht anders und dachten, wir sind selbst dran schuld, wenn wir geschlagen werden." Zudem sei es im Heim nie bei Ohrfeigen geblieben. "Wir mussten unsere Hosen runterziehen und wurden mit dem Rohrstock geschlagen, bis wir bluteten."
Es gebe noch einen weiteren Betroffenen aus seiner Zeit im Nicolhaus, sagt Ammon. "Er möchte nicht an die Öffentlichkeit gehen." Zu einem Gespräch mit dem jetzigen Heimleiter Gregor Koob sei er aber bereit.
Beteiligt sich die Diakonie in Hannover an der Aufarbeitung?
Der Diakon kam von einer Einrichtung der Dachstiftung Diakonie, dem Stephansstift, in die Rhön. Erfreulich sei, dass im Fall Willmars die Diakonie in Hannover "mittlerweile deutlich kooperativer" bei Informationen sei, sagt Daniel Wagner von der Diakonie Bayern. Dem Trägerverein in Willmars liegen inzwischen Unterlagen des Diakonie-Archivs vor. Laut Dagmar Herda geht daraus hervor, dass das Stephansstift von früheren Vorkommnissen wusste und der Diakon besser in der Erwachsenenarbeit eingesetzt werden sollte. Dies sei der Diakonie Bayern aber damals so nicht mitgeteilt worden.
Wer ist für die Anerkennung des erlittenen Leids zuständig?
Die Anerkennungskommission der Landeskirche bearbeite - völlig anonymisiert - auch Fälle der Diakonie, sagt der Sprecher.
Haben Betroffene bereits Anerkennungsleistungen erhalten?
Klaus Spyra hat 2015 den Antrag gestellt und Leistung erhalten. Hermann Ammon hat seinen Antrag kürzlich gestellt, nachdem die Landeskirche auf ihn zugegangen sei. Die Entscheidung darüber könne aber bis Herbst dauern, habe man ihm gesagt.
Warum wurde gegen den Betroffenen Klaus Spyra ein Disziplinarverfahren eröffnet?
Der Missbrauchsbetroffene Klaus Spyra, Pfarrer im Ruhestand, sagte gegenüber der Redaktion, dass es ein Disziplinarverfahren gegen ihn gebe. Auf Nachfrage informiert der ELKB-Sprecher: "Dies steht allerdings nicht im Zusammenhang mit seinem Antrag auf Anerkennung des erlittenen Leides." Und: "Der Grund ist ihm selbstverständlich bekannt."
Ihm sei aktuell vor allem wichtig sei, nach den Bedürfnissen der Betroffenen zu fragen, sagt Spyra. Er habe sich an die Öffentlichkeit gewandt, weil er andere Betroffene ermutigen wolle, zu ihrer Lebensgeschichte zu stehen. Nur wenn öffentlich wird, welche schreckliche Taten begangen wurden und welche Folgen sie für das Leben der Betroffenen hatten und haben, komme eine Aufarbeitung in Gang. Wichtig sei für ihn auch, dass Diakonie und Landeskirche sich an der Aufarbeitung in Willmars beteiligen.