Die Betroffenen stehen im Regen. Einige fühlen sie sich auch so. Sie haben sexualisierte Gewalt erlebt - in evangelischen Kinderheimen. An diesem trüb-feuchten Montagmorgen demonstrieren sie, halten Transparente hoch, stehen auf dem Gehsteig gegenüber dem Congress Centrum Würzburg. Dort tagt die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
Am Nachmittag steht das Thema "Missbrauch" auf der Tagesordnung. Es geht um den ersten Bericht des Beteiligungsforums Sexualisierte Gewalt, um Maßnahmen aufgrund der Ergebnisse der im Januar veröffentlichten Forum-Studie, der ersten großen Missbrauchsstudie der evangelischen Kirche. Deshalb sind die Demonstrierenden nach Würzburg gefahren. Sie wollen gesehen und ebenfalls gehört werden. Einige wenige Synodale kommen zu ihnen über die Straße. Mehr Aufmerksamkeit erhalten sie von den Medienleuten.
Edwin Benter gehört zu den Demonstranten. Es wären sicher mehr gekommen, sagt der Betroffenenvertreter aus Baden-Württemberg. Doch "den meisten fehlt das Geld". Ehemalige Heimkinder würden häufig am Existenzminimum leben. Die extreme körperliche und sexualisierte Gewalt, die sie deutschlandweit in den Einrichtungen der Diakonie erlitten hatten, habe sie in diese Situation gebracht. Dazu Kinderarbeit "bis zum Umfallen", oft keine Ausbildung, schwere psychische Probleme.
"Heimkinder stehen nicht im Fokus", so Edwin Benter. Anders sei das bei den Betroffenen im kirchengemeindlichen Kontext. Das wollen sie ändern. "Wir fordern ein eigenes Beteiligungsforum für Heimkinder!" Eines, in dem sie ihre Anliegen direkt einbringen können. Zudem sollte nicht nur Diakonie und Kirche, auch die Jugendämter sollten in die Aufarbeitung eingebunden werden.
Von dem 2022 gegründeten Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt (BeFo), das an diesem Montag bei der EKD-Synode den ersten Bericht vorstellt, würden sie sich nicht vertreten fühlen. "Es ist wie ein Geheimbund", sagte Benter in einem Gespräch mit dieser Redaktion im Oktober.
Das Geheime dürfte sich ab diesem Montag wohl ändern. Detlev Zander, ebenfalls ein ehemaliges Heimkind, gehört zu den Sprechern des Beteiligungsforums. Bei der Synode stellt er zusammen mit Nancy Janz sowie der Sprecherin der kirchlichen Vertreter des BeFo, Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst (Evangelische Kirche in der Pfalz), den Bericht vor. Zudem ist die Homepage nun online. Die Mitglieder präsentieren sich dort auf einem Foto und in Statements.
Die Demonstration vor dem CCW, organisiert von der Initiative "Vertuschung beenden" aus Hannover, hat sich zuvor bereits aufgelöst. Einige Betroffene sitzen inzwischen auf der Besuchertribüne. "Gut, dass Sie da sind", begrüßt sie Anna-Nicole Heinrich. Sie leitet als Präses die EKD-Synoden, ist eine kirchliche BeFo-Vertreterin.
Betroffenensprecherin: "Wir wollen Lösungen!"
Detlev Zander rekapituliert kurz die Probleme der evangelischen Kirche beim Anerkennungsverfahren, die uneinheitlichen Standards in den 20 evangelischen Landeskirchen und 23 diakonischen Verbänden. Nancy Janz betont: "Wir wollen Lösungen!" Kirche und Diakonie dürften nicht immer infrage stellen, was wir im Beteiligungsforum hart erarbeiten. Sie räumt ein: "Es wird immer ein Kompromiss bleiben."
Es geht um finanzielle Leistungen. Geplant ist eine Kombination aus einer individuellen Anerkennung und einer Pauschale. Letztere soll 15.000 Euro betragen. Betroffene sollen sie erhalten, wenn ihr Fall strafrechtlich relevant ist. Die Höhe stelle "für uns Betroffene im Beteiligungsforum die absolute Untergrenze dar", sagt Zander.
Aus 46 Empfehlungen werden zwölf konkrete Maßnahmen
Anschließend geht es um den Maßnahmenplan aufgrund der Ergebnisse der Forum-Studie. 46 Empfehlungen wurden vom Beteiligungsforum in zwölf konkrete Maßnahmen übersetzt. So soll es künftig unter anderem eine zentrale Ombudsstelle zur Unterstützung von Betroffenen geben.
Kann Ioannis Wolters damit etwas anfangen? Er hat am Vormittag mitdemonstriert, verfolgt die Vorträge am Nachmittag auf der Besuchertribüne. Er sei Zögling in Freistatt gewesen, erzählt der 80-Jährige, eine zu Bethel gehörende Zweiganstalt der Diakonie. Freistatt sei die "Hölle" gewesen – "tagsüber Zwangsarbeit, nachts Vergewaltigung". Einstige KZ-Aufseher hätten dort zum Personal gehört. Er kämpft sei 20 Jahren vor dem Sozialgericht, um als Opfer anerkannt zu werden. Lange hätte er geschwiegen. An diesem Montag redet er.
"Anwältin der Betroffenen" trägt auf Synode Anmerkungen der Betroffenen vor
Am späten Nachmittag werden seine Anmerkungen und die von anderen Betroffenen von Julia von Weiler notiert und danach im Plenum vorgetragen. Sie fungiert als "Anwältin der Betroffenen und Gäste", die bei der Synode kein Rederecht haben. Sie zitiert auch Wolters. Die mögliche Leistung in Höhe von 15.000 Euro sei das, was er sich durch die Zwangsarbeit bereits selbst verdient habe. Mehr nicht.
Betroffener Klaus Spyra rechnet frühestens 2027 mit Umsetzung des Kombimodells
Was ist mit den Betroffenen, die bereits Geld erhalten haben, fragt Edwin Benter. Eine Neubewertung koste viel Zeit. Auch Detlev Schorn, ebenfalls ehemaliges Heimkind, kritisiert das BeFo, fühlt sich von Detlev Zander dort nicht vertreten.
Klaus Spyra, der seinen Missbrauch im Kinderheim in Willmars (Lkr. Rhön-Grabfeld) bereits vor Jahren öffentlich gemacht hat, sagt: "Die Betroffenen fühlen sich erneut nicht wahrgenommen. Wieder müssen wir warten aufgrund der kirchlichen Strukturen". Er rechnet frühestens 2027 mit der Umsetzung des neuen Modells. Deshalb fragt er: "Wie viele Heimkinder leben dann noch?"