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Willmars
Rückkehr nach Willmars an den Ort der "Hölle": Zwei Missbrauchsopfer wagen sich an den Tatort Kinderheim
Vor über 50 Jahren lebten Hermann Ammon und Klaus Spyra im Nicolhaus in Willmars in der Rhön. Jetzt haben sie sich an den Schreckensort ihrer Kindheit begeben.
Hermann Ammon (links) und Klaus Spyra am Eingang zum Friedhof in Willmars in der Rhön. Im Hintergrund ist das evangelische Kinderheim Nicolhaus zu sehen. 
Foto: Daniel Biscan | Hermann Ammon (links) und Klaus Spyra am Eingang zum Friedhof in Willmars in der Rhön. Im Hintergrund ist das evangelische Kinderheim Nicolhaus zu sehen. 
Christine Jeske
 und  Daniel Biscan
 |  aktualisiert: 12.09.2024 08:57 Uhr

Willmars in der Rhön ist idyllisch gelegen. "Eigentlich ist es eine sehr schöne Umgebung", sagt Hermann Ammon und schaut sich um. Doch zum Ausflug sind er und Klaus Spyra an einem sonnigen Sommernachmittag nicht in den äußersten Norden Unterfrankens gefahren. Die zwei Männer, beide um die 60, wollen sich in dem kleinen Ort mit der düsteren Vergangenheit auseinandersetzen.

Das evangelische Nicolhaus in Willmars, eine Einrichtung der Diakonie, war in den 1960er und 70er Jahren nicht für alle Heimkinder Ort der Geborgenheit und Fürsorge. Hermann Ammon und Klaus Spyra schildern unvorstellbare Grausamkeiten, brutale Gewalt, schwersten sexuellen Missbrauch.

Diakon und Pfarrer werden unvorstellbarer Grausamkeiten beschuldigt

Als Täter beschuldigen sie einen Diakon, der ab 1969 Heimleiter war, und einen evangelischen Ortspfarrer. Aber auch an einige Betreuerinnen, die "Tanten", und an Erzieher haben die beiden ungute Erinnerungen.

Ihre Fälle sind anerkannt. Auch finanzielle Leistungen gab es. Doch Ammon und Spyra haben Widerspruch eingelegt. Es geht ihnen um mehr als Geld. Sie fordern, alles muss offen und öffentlich aufgearbeitet werden - von Diakonie und evangelischer Landeskirche. "Es sind Verbrechen an uns begangen worden."

Erste Station in Willmars - der Friedhof: Der kleine Anbau der Kirche - die Leichenhalle - ist für Hermann Ammon und Klaus Spyra 'der erste Ort des Grauens'.
Foto: Daniel Biscan | Erste Station in Willmars - der Friedhof: Der kleine Anbau der Kirche - die Leichenhalle - ist für Hermann Ammon und Klaus Spyra "der erste Ort des Grauens".

Bei der Ankunft in Willmars ist die Stimmung gelöst. Für das Treffen mit Reporterin und Fotograf haben sie sich Klaus Spyra und Hermann Ammon bewusst für das Kinderheim entschieden. Dort wollen sie nochmal alles erzählen, alles zeigen - am Tatort.

Die Leichenhalle ist "der erste Ort des Grauens"

Die Begrüßung ist freundlich. Als nach wenigen Schritten vom Parkplatz zum Heim rechts ein Gittertor zum Friedhof auftaucht, sagt Klaus Spyra unvermittelt: "Hier war der erste Ort des Grauens."

Seite an Seite laufen die Männer über den Friedhof auf den Anbau der Kirche zu. Klaus Spyra stoppt wenige Meter vor der Leichenhalle. "Bis hierhin – und nicht weiter." Wie angewurzelt bleibt er stehen, atmet tief durch. Bilder kommen hoch. Die Erinnerungen an den Pfarrer. "Er hat mich gezwungen, die Leichen anzuschauen."

Klaus Spyra kehrt der Leichenhalle in Willmars den Rücken zu. Näher an das Gebäude kann er nicht gehen. Die Erinnerungen, was der Pfarrer ihm dort angetan hat, sind präsent, als würde es gerade geschehen.
Foto: Daniel Biscan | Klaus Spyra kehrt der Leichenhalle in Willmars den Rücken zu. Näher an das Gebäude kann er nicht gehen. Die Erinnerungen, was der Pfarrer ihm dort angetan hat, sind präsent, als würde es gerade geschehen.

"Wir sollten wissen, für wen wir am nächsten Tag bei der Beerdigung das Kreuz tragen", sagt Ammon. Spyras Gesicht verändert sich. "Damals waren die Kühlketten nicht so wie heute. Wenn da jemand drei Tage tot war, kam beißender Geruch aus dem Sarg."

Noch mehr Bilder kommen hoch. "Er selbst hat nie in den Sarg geschaut, ich musste aber. Dann hat er mich vergewaltigt." Nicht nur einmal. "Hier fanden viele sexuelle Übergriffe statt." Klaus Spyra bezeichnet das als eine Form von Nekrophilie. Und wiederholt: "Näher kann ich wirklich nicht rangehen."

Stille.

Auch Hermann Ammon hat Schwierigkeiten, sich der Leichenhalle zu nähern. Er kehrt ihr den Rücken zu und schaut gedankenverloren. Später sagt er, dass die Erinnerungen stärker gewesen seien als erwartet. 
Foto: Daniel Biscan | Auch Hermann Ammon hat Schwierigkeiten, sich der Leichenhalle zu nähern. Er kehrt ihr den Rücken zu und schaut gedankenverloren. Später sagt er, dass die Erinnerungen stärker gewesen seien als erwartet. 

Ammon ist der erste, der wieder spricht: "Auch ich musste mir Leichen anschauen. Ich war ein kleines Kind, es war schrecklich. Aber vergewaltigt hat er mich hier nicht."

Hier nicht. Aber ganz in der Nähe, im Pfarrhaus.

In einem Gespräch mit dieser Redaktion im April berichteten Ammon und Spyra, dass der Pfarrer sie auch dort oft schwerst sexuell missbraucht hat. Eigentlich suchten sie bei ihm Schutz und Beistand. Sie wollten ihm erzählen, dass der Heimleiter, der Diakon, sie schlägt und anderes mit ihnen macht, für das die Kinder kaum Worte hatten. Statt Beistand bekamen sie Ohrfeigen und Prügel – dann sollten sie sich bücken.

Beim Gespräch auf dem Friedhof in Willmars kommen bei Klaus Spyra (links) und Hermann Ammon Erinnerungen hoch. Sie sind seit zwei Jahren in Kontakt, kämpfen gemeinsam um Aufarbeitung.
Foto: Daniel Biscan | Beim Gespräch auf dem Friedhof in Willmars kommen bei Klaus Spyra (links) und Hermann Ammon Erinnerungen hoch. Sie sind seit zwei Jahren in Kontakt, kämpfen gemeinsam um Aufarbeitung.

Nach ihrem verzweifelten Schrei nach Hilfe wurden sie weiter ins Pfarrhaus und in die Leichenhalle zitiert. Sie baten den Pfarrer nie wieder um Unterstützung. 

Wusste er, was der Diakon den Kindern antat und wartete er nur auf eine Gelegenheit, es ihm gleichzutun?  

Die Frau des Pfarrers soll Mitwisserin gewesen sein, sagen Spyra und Ammon. Sie sei öfter im Pfarrhaus ins Zimmer gekommen und habe sofort leise die Türe hinter sich geschlossen. So, als wolle sie ihren Mann nicht stören. Und die Jungen ihrem Schicksal überlassen.

Klaus Spyra deutet aufs Nicolhaus, auf den zweiten Stock. 'Dort oben bist du aus dem Fenster gesprungen.' Hermann Ammon hat seine Flucht aus dem Fenster beinahe nicht überlebt.
Foto: Daniel Biscan | Klaus Spyra deutet aufs Nicolhaus, auf den zweiten Stock. "Dort oben bist du aus dem Fenster gesprungen." Hermann Ammon hat seine Flucht aus dem Fenster beinahe nicht überlebt.

Dem Friedhof gegenüber befindet sich das Kinderheim Nicolhaus. "Dort oben bist du aus dem Fenster gesprungen". Klaus Spyra deutet zum zweiten Stock. Hermann Ammon nickt. "Er hatte einen Knüppel in der Hand, da habe ich gewusst, was auf mich zukommt und bin ich aus Angst gesprungen. Mehr weiß ich nicht mehr."

Erst im Krankenhaus wachte er damals auf. Und wollte nie wieder ins Heim zurück.

Dem Diakon ausgeliefert - und in der Not aus dem Fenster gesprungen

Ammon weiß noch, dass er als einziger nicht mit zu einem Ausflug durfte. Eine Strafe. Wohl auch Kalkül des Diakons. "Ich war ihm ausgeliefert. Wenn die Köchin des Heims, die gerade auf dem Friedhof war, meinen Sturz nicht gesehen hätte, wäre ich heute wohl nicht mehr hier." Seine Lebensretterin sei nach Hause gelaufen und habe Hilfe geholt.

Und der Diakon? Mit bitterem Klang sagt Ammon: "Er hätte mich wohl liegenlassen und es später als tragischen Unglücksfall abgetan." 

Moment der Entspannung. Heimleiter Gregor Koob begrüßt Hermann Ammon und Klaus Spyra. Er hat sie erwartet, fragt, ob sie ein 'Käffchen' mögen. Die Männer mögen die offene Art von Heimleiter Koob.
Foto: Daniel Biscan | Moment der Entspannung. Heimleiter Gregor Koob begrüßt Hermann Ammon und Klaus Spyra. Er hat sie erwartet, fragt, ob sie ein "Käffchen" mögen. Die Männer mögen die offene Art von Heimleiter Koob.

Gregor Koob, aktueller Heimleiter im Nicolhaus, kennt die beiden Männer. Erst in diesem Frühjahr hat er nach dem Bericht in der BR-Sendung "Stationen" erfahren, was sein Vorvorgänger Heimkindern angetan hatte. Und kurz darauf, im Gespräch mit dieser Redaktion, dass auch der Ortspfarrer als Täter beschuldigt wird. "Es war ein Schock."

Das Namensschild des Pfarrers von der Gedenktafel im Nicolhaus hat er sofort entfernt. Im Ort habe man ihm das übelgenommen, sagt Koob.

Der Heimleiter schaut aus dem Fenster: "Habt ihr meine Einladung zum Tag der offenen Tür bekommen?"

Ammon bedankt sich. "Wir wollten nicht fröhlich dasitzen und Kaffee trinken. Das hätte nicht gepasst."

Die Tür ist offen, auch an diesem Tag. Koobs Einladung zum "Käffchen" nehmen alle gerne an.

Früher war hier das Büro des Diakons. Klaus Spyra sagt: 'Wo die beiden Korbsessel stehen, fanden die Übergriffe statt.' 
Foto: Daniel Biscan | Früher war hier das Büro des Diakons. Klaus Spyra sagt: "Wo die beiden Korbsessel stehen, fanden die Übergriffe statt." 

Bevor es ins Haus geht, lokalisiert Klaus Spyra die nächste "Hölle". Eine, in der der Diakon seine Kinderseele zerstörte. "Hinter diesem Fenster gab es früher einen Raum. Dort hat er mich immer vergewaltigt. Alle müssen es gehört haben, die Leute im Heim und nebenan."

Spyra dreht sich um, schaut auf die Häuser in der unmittelbaren Nachbarschaft.

Klaus Spyra: "Wenn man hinten nass wurde, wusste man, dass es zu Ende ist"

Die Wand ist weg, aus dem ehemals schmalen Gang wurde ein größerer Empfangsbereich. Spyra geht ins Haus, blickt nach links. "Wo jetzt die beiden Korbsessel stehen, fanden die Übergriffe statt. Wenn man zum Diakon kommen musste, wusste man, was passiert."

Damals seien in dem Raum, damals ein Büro, Stühle mit Armlehne gestanden. "Unter dieser Lehne mussten wir uns mit dem Bauch auf die Sitzfläche legen, dadurch war man eingeklemmt. Wenn man hinten nass wurde, wusste man, dass es zu Ende ist."

Zu Ende für dieses Mal.

Hermann Ammon und Klaus Spyra suchen im Speisesaal ihre alten Plätze. Sie wissen noch genau, wer mit am Tisch saß. 
Foto: Daniel Biscan | Hermann Ammon und Klaus Spyra suchen im Speisesaal ihre alten Plätze. Sie wissen noch genau, wer mit am Tisch saß. 

Im Speisesaal suchen die beiden Männer ihre damaligen Plätze. Zur Tischgruppe gehörten drei weitere Jungen - und der Diakon. "Alle, die er vergewaltigt hat, mussten bei ihm sitzen", sagt Hermann Ammon. "Drei sind tot." Sie seien damit nicht zurechtgekommen, hätten als junge Erwachsene Suizid begangen.

"Wir haben am Tisch untereinander nicht geredet." Einmal habe es ein Junge versucht, erinnert sich Spyra. "Hat er dich auch ..." - weiter sei der Junge nicht gekommen. "Da hat ihm der Diakon so fest eine geknallt, dass er vom Stuhl flog." Wenn ein Junge im Stehen frühstückte, weil er Schmerzen hatte, "da wussten alle anderen, dass er dieses Mal dran war".

Wenig Essen, viel Leid: Hermann Ammon und Klaus Spyra durften sich beim Essensklau nicht erwischen lassen, 'sonst wären wir wieder verprügelt worden'. Oft seien sie grundlos geschlagen worden.
Foto: Daniel Biscan | Wenig Essen, viel Leid: Hermann Ammon und Klaus Spyra durften sich beim Essensklau nicht erwischen lassen, "sonst wären wir wieder verprügelt worden". Oft seien sie grundlos geschlagen worden.

Hermann Ammon erzählt, er habe sich zum Küchendienst gemeldet, Käse und Wurst stibitzt. Das gab es nur fürs Personal. "Wir waren alle Hungerhaken, dürr. Morgens gab es Haferschleim, am Mittag Suppe, am Abend wieder Haferschleim. Wir hatten immer Hunger."

Klaus Spyra und Hermann Ammon im Gespräch mit dem Leiter des Nicolhauses, Gregor Koob. Spyra sagt: 'Ich glaube, in diesem Zimmer habe ich die Mondlandung gesehen.'
Foto: Daniel Biscan | Klaus Spyra und Hermann Ammon im Gespräch mit dem Leiter des Nicolhauses, Gregor Koob. Spyra sagt: "Ich glaube, in diesem Zimmer habe ich die Mondlandung gesehen."

Beim Kaffee im gemütlichen Mitarbeiterzimmer kommt die Psychologin des Hauses dazu. "So jemanden wie Sie hätten wir damals auch gebraucht", sagt Hermann Ammon. "Wir konnten uns niemandem anvertrauen."

Klaus Spyra macht Heimleiter Koob auf eine Information in der 2009 erschienenen Chronik des Heimathistorikers Gerhard Schätzlein zum Nicolhaus aufmerksam. "Wussten Sie, dass das Heim bereits 1956 kurz vor der Schließung stand? Wegen Verwahrlosung und sittlicher Vorkommnisse."

Klaus Spyra sagt über das Kinderheim Nicolhaus in Willmars heute: 'Es ist alles anders jetzt, viel schöner.' 
Foto: Daniel Biscan | Klaus Spyra sagt über das Kinderheim Nicolhaus in Willmars heute: "Es ist alles anders jetzt, viel schöner." 

In der Chronik ist der Pfarrer häufig abgebildet. Der Diakon nur einmal, auf einem unscharfen Foto. Auch ein Erzieher ist zu sehen. "Er hat mit uns komische Spielchen gemacht", sagt Spyra, "gemeinsames Onanieren".

Spyra verweilt nicht lange beim "Käffchen". Er schaut sich im Heim um. "Unser altes Zimmer, wo wir früher zu fünft untergebracht waren, ist jetzt ein Einzelzimmer", sagt er. Und: "Es ist gut so, wie es jetzt ist."

Hermann Ammon sagt, schlimm sei auch das Verbot gewesen, das Heimgelände zu verlassen. 'Das wollte der Diakon so.' 
Foto: Daniel Biscan | Hermann Ammon sagt, schlimm sei auch das Verbot gewesen, das Heimgelände zu verlassen. "Das wollte der Diakon so." 

Hermann Ammon trinkt einen Schluck, stellt die Tasse ab. "Obwohl es so oft geschah, werden die Vergewaltigungen in meiner Erinnerung zu einer einzigen Episode, die ich abgespeichert habe." Ein Überlebensmechanismus?

Schon als Säugling war Ammon in ein Heim in Mittelfranken gekommen, im Alter von zwei Jahren dann nach Willmars ins Nicolhaus. Mit 13 wurde er getauft, mit 14 konfirmiert. "Danach hat der Pfarrer mich nicht mehr angerührt." Weil er nun kein Heidenkind mehr war?

Klaus Spyra kam 1969 im Alter von sechs ins Heim. In dem Jahr trat auch der Diakon seinen Dienst an. Spyra, der evangelischer Pfarrer ist, leidet bis heute massiv unter den Missbrauchserfahrungen - und ging deshalb vorzeitig in Ruhestand.

Klaus Spyra, evangelischer Pfarrer im Ruhestand, ist bis heute in therapeutischer Behandlung. 2015 hatte er seine Missbrauchserfahrungen der Landeskirche mitgeteilt.
Foto: Daniel Biscan | Klaus Spyra, evangelischer Pfarrer im Ruhestand, ist bis heute in therapeutischer Behandlung. 2015 hatte er seine Missbrauchserfahrungen der Landeskirche mitgeteilt.

"Der Diakon, der mich missbraucht hat, und diejenigen, die ihm das ermöglicht und uns Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren ihm zugeführt haben, sind dafür bis heute nie zur Verantwortung gezogen worden", lautet die bittere Klage von Spyra.

Eine Betreuerin, die ihn damals zu einem der Beschuldigten brachte und hinterher abwusch, habe ihn einmal gefragt: "Oh Gott, was hast du verbrochen, dass der dich so hergerichtet hat?"

Eine klassische Opfer-Täter-Umkehr.

Ammon und Spyra schauen sich weiter im Heim um. Und im Freien, wo einige Kinder spielen. "Es ist schön zu sehen, dass sich die Kinder wohl und sicher fühlen."

Gregor Koob ist seit 2020 Heimleiter im Nicolhaus. Er wird für seinen offenen Umgang mit Betroffenen geschätzt. 
Foto: Daniel Biscan | Gregor Koob ist seit 2020 Heimleiter im Nicolhaus. Er wird für seinen offenen Umgang mit Betroffenen geschätzt. 

"Als ich das Heim übernommen habe, dachte ich, hier wäre alles immer gut gewesen", sagt Gregor Koob draußen im Garten. Er verweist auf Leitbild und Präventionskonzept. "Wir stärken die Kinder, wir machen Kinder und Jugendkonferenzen ohne Erzieher, damit sie frei sprechen können. Patenfamilien machen nur Tagesausflüge mit den Kindern, Übernachtungen gibt es nicht." Zum Schutz – für beide Seiten.

Ute Kiesel, Lebensgefährtin von Hermann Ammon.
Foto: Daniel Biscan | Ute Kiesel, Lebensgefährtin von Hermann Ammon.

Die Lebensgefährtin von Hermann Ammon, die bei dem Treffen dabei ist, hat sich etwas abseits auf eine Bank gesetzt. Nachdenklich schaut Ute Kiesel auf den Boden. Auch sie hat erst in diesem Frühjahr erfahren, was ihr Partner als Kind und Jugendlicher erlitten hat. Auch für sie war es ein Schock. Sie wurde krank. Es sei nicht einfach, sagt Ute Kiesel. Aber sie wolle für Hermann Ammon eine Stütze sein – ihn begleiten. 

Hermann Ammon: 'Wir hatten immer Angst.'
Foto: Daniel Biscan | Hermann Ammon: "Wir hatten immer Angst."
Klaus Spyra: 'Wir wurden unserer Kindheit beraubt.'
Foto: Daniel Biscan | Klaus Spyra: "Wir wurden unserer Kindheit beraubt."

Hermann Ammon erinnert sich an einen Jungen, der an seinem letzten Tag im Heim die Gartenbeete bewusst zerstörte. Er wurde verprügelt, lag blutend am Boden. "Das war es mir wert", sagte er zu Ammon.

Ammon und Spyra wissen, dass sie nicht die einzigen Betroffenen sind. Sie sind mit mehreren in Kontakt, die sich nicht an die Öffentlichkeit wagen. Beim Treffen in Willmars erwähnen sie mehrfach, dass einige der damaligen Heimkinder wegen der sexuellen, körperlichen und psychischen Gewalt Suizid begangen haben. "Wir sind hier, weil wir auch den Toten eine Stimme geben wollen."

Das erneute Treffen mit Heimleiter Gregor Koob an diesem Nachmittag gehöre für sie zur Aufarbeitung. Auch der Austausch, den sie zuvor mit Dagmar Herda vom Willmarser Diakonieverein hatten.

Beim Abschied sagen Klaus Spyra und Hermann Ammon: "Die Gespräche und Informationen, die wir vom Ort des Schreckens erhalten, bieten uns die Möglichkeit, eine Annäherung an unsere verlorene Kindheit zu schaffen."

Autorin und Fotograf über die Recherche

Christine Jeske
Foto: Christoph Weiss | Christine Jeske
Seit Jahren höre ich Frauen und Männern zu, die von katholischen Geistlichen missbraucht wurden. Seit einigen Monaten berichte ich auch über leidvolle Erfahrungen von Menschen, die in der evangelischen Kirche und Diakonie sexualisierte Gewalt erlebt haben.
Bereits vor zwei Jahren hat sich Klaus Spyra per E-Mail an mich gewandt, aber noch nicht das Gespräch gesucht. Erst in diesem Frühjahr. Er hat den Kontakt zu Hermann Ammon ermöglicht.
Beide äußerten den Wunsch, nicht nur mit mir zu telefonieren, sondern mich persönlich kennenzulernen. Danach waren sie bereit, nicht nur namentlich in Artikeln genannt zu werden. Sie wollen ihr Gesicht zeigen.
Und es war ihr Vorschlag, sich an dem Ort zu treffen, wo sie ihrer Kindheit beraubt wurden. Es dauert meist Jahre, bis Betroffene, die sich auch als Überlebende bezeichnen, sich jemand anvertrauen und an die Öffentlichkeit gehen können. Das erfordert Mut – und Vertrauen.
Daniel Biscan
Foto: Daniel Biscan | Daniel Biscan
Im Vorfeld eines solchen Termins ist einem als Fotograf klar, dass das keine einfache Angelegenheit werden wird. Fotografieren ist etwas Intimes. Für einen kurzen Augenblick sieht man tief in einen Menschen hinein. Es ist eine sehr direkte Kontaktaufnahme.
Beide Parteien wissen zwar, worum es geht, dennoch lässt sich der tiefe Schmerz und die Verletzlichkeit nicht verbergen. Das bewegt auch den Fotografierenden und macht die Situation oft delikat.
Ich habe den Mut der beiden sehr bewundert, da sicher klar war, dass die physische Nähe zu den eigenen Erinnerungen die tiefen Verletzungen wieder zum Vorschein kommen lassen würde. Respekt.
cj/bis
 
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  • Wolfgang Wedlich
    Ein Artikel der beim Lesen unfassbar traurig und betroffen macht. Zugleich in meinen Augen ein sehr wichtiger Teil der Aufarbeitung! Großer Respekt an die Betroffenen zu diesem mutigen Schritt und an die Redakteure und Mainpost dieses Thema aufzuarbeiten und darauf aufmerksam zu machen.

    Florian Wedlich
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