
Willmars in der Rhön ist idyllisch gelegen. "Eigentlich ist es eine sehr schöne Umgebung", sagt Hermann Ammon und schaut sich um. Doch zum Ausflug sind er und Klaus Spyra an einem sonnigen Sommernachmittag nicht in den äußersten Norden Unterfrankens gefahren. Die zwei Männer, beide um die 60, wollen sich in dem kleinen Ort mit der düsteren Vergangenheit auseinandersetzen.
Das evangelische Nicolhaus in Willmars, eine Einrichtung der Diakonie, war in den 1960er und 70er Jahren nicht für alle Heimkinder Ort der Geborgenheit und Fürsorge. Hermann Ammon und Klaus Spyra schildern unvorstellbare Grausamkeiten, brutale Gewalt, schwersten sexuellen Missbrauch.
Diakon und Pfarrer werden unvorstellbarer Grausamkeiten beschuldigt
Als Täter beschuldigen sie einen Diakon, der ab 1969 Heimleiter war, und einen evangelischen Ortspfarrer. Aber auch an einige Betreuerinnen, die "Tanten", und an Erzieher haben die beiden ungute Erinnerungen.
Ihre Fälle sind anerkannt. Auch finanzielle Leistungen gab es. Doch Ammon und Spyra haben Widerspruch eingelegt. Es geht ihnen um mehr als Geld. Sie fordern, alles muss offen und öffentlich aufgearbeitet werden - von Diakonie und evangelischer Landeskirche. "Es sind Verbrechen an uns begangen worden."

Bei der Ankunft in Willmars ist die Stimmung gelöst. Für das Treffen mit Reporterin und Fotograf haben sie sich Klaus Spyra und Hermann Ammon bewusst für das Kinderheim entschieden. Dort wollen sie nochmal alles erzählen, alles zeigen - am Tatort.
Die Leichenhalle ist "der erste Ort des Grauens"
Die Begrüßung ist freundlich. Als nach wenigen Schritten vom Parkplatz zum Heim rechts ein Gittertor zum Friedhof auftaucht, sagt Klaus Spyra unvermittelt: "Hier war der erste Ort des Grauens."
Seite an Seite laufen die Männer über den Friedhof auf den Anbau der Kirche zu. Klaus Spyra stoppt wenige Meter vor der Leichenhalle. "Bis hierhin – und nicht weiter." Wie angewurzelt bleibt er stehen, atmet tief durch. Bilder kommen hoch. Die Erinnerungen an den Pfarrer. "Er hat mich gezwungen, die Leichen anzuschauen."

"Wir sollten wissen, für wen wir am nächsten Tag bei der Beerdigung das Kreuz tragen", sagt Ammon. Spyras Gesicht verändert sich. "Damals waren die Kühlketten nicht so wie heute. Wenn da jemand drei Tage tot war, kam beißender Geruch aus dem Sarg."
Noch mehr Bilder kommen hoch. "Er selbst hat nie in den Sarg geschaut, ich musste aber. Dann hat er mich vergewaltigt." Nicht nur einmal. "Hier fanden viele sexuelle Übergriffe statt." Klaus Spyra bezeichnet das als eine Form von Nekrophilie. Und wiederholt: "Näher kann ich wirklich nicht rangehen."
Stille.

Ammon ist der erste, der wieder spricht: "Auch ich musste mir Leichen anschauen. Ich war ein kleines Kind, es war schrecklich. Aber vergewaltigt hat er mich hier nicht."
Hier nicht. Aber ganz in der Nähe, im Pfarrhaus.
In einem Gespräch mit dieser Redaktion im April berichteten Ammon und Spyra, dass der Pfarrer sie auch dort oft schwerst sexuell missbraucht hat. Eigentlich suchten sie bei ihm Schutz und Beistand. Sie wollten ihm erzählen, dass der Heimleiter, der Diakon, sie schlägt und anderes mit ihnen macht, für das die Kinder kaum Worte hatten. Statt Beistand bekamen sie Ohrfeigen und Prügel – dann sollten sie sich bücken.

Nach ihrem verzweifelten Schrei nach Hilfe wurden sie weiter ins Pfarrhaus und in die Leichenhalle zitiert. Sie baten den Pfarrer nie wieder um Unterstützung.
Wusste er, was der Diakon den Kindern antat und wartete er nur auf eine Gelegenheit, es ihm gleichzutun?
Die Frau des Pfarrers soll Mitwisserin gewesen sein, sagen Spyra und Ammon. Sie sei öfter im Pfarrhaus ins Zimmer gekommen und habe sofort leise die Türe hinter sich geschlossen. So, als wolle sie ihren Mann nicht stören. Und die Jungen ihrem Schicksal überlassen.

Dem Friedhof gegenüber befindet sich das Kinderheim Nicolhaus. "Dort oben bist du aus dem Fenster gesprungen". Klaus Spyra deutet zum zweiten Stock. Hermann Ammon nickt. "Er hatte einen Knüppel in der Hand, da habe ich gewusst, was auf mich zukommt und bin ich aus Angst gesprungen. Mehr weiß ich nicht mehr."
Erst im Krankenhaus wachte er damals auf. Und wollte nie wieder ins Heim zurück.
Dem Diakon ausgeliefert - und in der Not aus dem Fenster gesprungen
Ammon weiß noch, dass er als einziger nicht mit zu einem Ausflug durfte. Eine Strafe. Wohl auch Kalkül des Diakons. "Ich war ihm ausgeliefert. Wenn die Köchin des Heims, die gerade auf dem Friedhof war, meinen Sturz nicht gesehen hätte, wäre ich heute wohl nicht mehr hier." Seine Lebensretterin sei nach Hause gelaufen und habe Hilfe geholt.
Und der Diakon? Mit bitterem Klang sagt Ammon: "Er hätte mich wohl liegenlassen und es später als tragischen Unglücksfall abgetan."

Gregor Koob, aktueller Heimleiter im Nicolhaus, kennt die beiden Männer. Erst in diesem Frühjahr hat er nach dem Bericht in der BR-Sendung "Stationen" erfahren, was sein Vorvorgänger Heimkindern angetan hatte. Und kurz darauf, im Gespräch mit dieser Redaktion, dass auch der Ortspfarrer als Täter beschuldigt wird. "Es war ein Schock."
Das Namensschild des Pfarrers von der Gedenktafel im Nicolhaus hat er sofort entfernt. Im Ort habe man ihm das übelgenommen, sagt Koob.
Der Heimleiter schaut aus dem Fenster: "Habt ihr meine Einladung zum Tag der offenen Tür bekommen?"
Ammon bedankt sich. "Wir wollten nicht fröhlich dasitzen und Kaffee trinken. Das hätte nicht gepasst."
Die Tür ist offen, auch an diesem Tag. Koobs Einladung zum "Käffchen" nehmen alle gerne an.

Bevor es ins Haus geht, lokalisiert Klaus Spyra die nächste "Hölle". Eine, in der der Diakon seine Kinderseele zerstörte. "Hinter diesem Fenster gab es früher einen Raum. Dort hat er mich immer vergewaltigt. Alle müssen es gehört haben, die Leute im Heim und nebenan."
Spyra dreht sich um, schaut auf die Häuser in der unmittelbaren Nachbarschaft.
Klaus Spyra: "Wenn man hinten nass wurde, wusste man, dass es zu Ende ist"
Die Wand ist weg, aus dem ehemals schmalen Gang wurde ein größerer Empfangsbereich. Spyra geht ins Haus, blickt nach links. "Wo jetzt die beiden Korbsessel stehen, fanden die Übergriffe statt. Wenn man zum Diakon kommen musste, wusste man, was passiert."
Damals seien in dem Raum, damals ein Büro, Stühle mit Armlehne gestanden. "Unter dieser Lehne mussten wir uns mit dem Bauch auf die Sitzfläche legen, dadurch war man eingeklemmt. Wenn man hinten nass wurde, wusste man, dass es zu Ende ist."
Zu Ende für dieses Mal.

Im Speisesaal suchen die beiden Männer ihre damaligen Plätze. Zur Tischgruppe gehörten drei weitere Jungen - und der Diakon. "Alle, die er vergewaltigt hat, mussten bei ihm sitzen", sagt Hermann Ammon. "Drei sind tot." Sie seien damit nicht zurechtgekommen, hätten als junge Erwachsene Suizid begangen.
"Wir haben am Tisch untereinander nicht geredet." Einmal habe es ein Junge versucht, erinnert sich Spyra. "Hat er dich auch ..." - weiter sei der Junge nicht gekommen. "Da hat ihm der Diakon so fest eine geknallt, dass er vom Stuhl flog." Wenn ein Junge im Stehen frühstückte, weil er Schmerzen hatte, "da wussten alle anderen, dass er dieses Mal dran war".

Hermann Ammon erzählt, er habe sich zum Küchendienst gemeldet, Käse und Wurst stibitzt. Das gab es nur fürs Personal. "Wir waren alle Hungerhaken, dürr. Morgens gab es Haferschleim, am Mittag Suppe, am Abend wieder Haferschleim. Wir hatten immer Hunger."

Beim Kaffee im gemütlichen Mitarbeiterzimmer kommt die Psychologin des Hauses dazu. "So jemanden wie Sie hätten wir damals auch gebraucht", sagt Hermann Ammon. "Wir konnten uns niemandem anvertrauen."
Klaus Spyra macht Heimleiter Koob auf eine Information in der 2009 erschienenen Chronik des Heimathistorikers Gerhard Schätzlein zum Nicolhaus aufmerksam. "Wussten Sie, dass das Heim bereits 1956 kurz vor der Schließung stand? Wegen Verwahrlosung und sittlicher Vorkommnisse."

In der Chronik ist der Pfarrer häufig abgebildet. Der Diakon nur einmal, auf einem unscharfen Foto. Auch ein Erzieher ist zu sehen. "Er hat mit uns komische Spielchen gemacht", sagt Spyra, "gemeinsames Onanieren".
Spyra verweilt nicht lange beim "Käffchen". Er schaut sich im Heim um. "Unser altes Zimmer, wo wir früher zu fünft untergebracht waren, ist jetzt ein Einzelzimmer", sagt er. Und: "Es ist gut so, wie es jetzt ist."

Hermann Ammon trinkt einen Schluck, stellt die Tasse ab. "Obwohl es so oft geschah, werden die Vergewaltigungen in meiner Erinnerung zu einer einzigen Episode, die ich abgespeichert habe." Ein Überlebensmechanismus?
Schon als Säugling war Ammon in ein Heim in Mittelfranken gekommen, im Alter von zwei Jahren dann nach Willmars ins Nicolhaus. Mit 13 wurde er getauft, mit 14 konfirmiert. "Danach hat der Pfarrer mich nicht mehr angerührt." Weil er nun kein Heidenkind mehr war?
Klaus Spyra kam 1969 im Alter von sechs ins Heim. In dem Jahr trat auch der Diakon seinen Dienst an. Spyra, der evangelischer Pfarrer ist, leidet bis heute massiv unter den Missbrauchserfahrungen - und ging deshalb vorzeitig in Ruhestand.

"Der Diakon, der mich missbraucht hat, und diejenigen, die ihm das ermöglicht und uns Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren ihm zugeführt haben, sind dafür bis heute nie zur Verantwortung gezogen worden", lautet die bittere Klage von Spyra.
Eine Betreuerin, die ihn damals zu einem der Beschuldigten brachte und hinterher abwusch, habe ihn einmal gefragt: "Oh Gott, was hast du verbrochen, dass der dich so hergerichtet hat?"
Eine klassische Opfer-Täter-Umkehr.
Ammon und Spyra schauen sich weiter im Heim um. Und im Freien, wo einige Kinder spielen. "Es ist schön zu sehen, dass sich die Kinder wohl und sicher fühlen."

"Als ich das Heim übernommen habe, dachte ich, hier wäre alles immer gut gewesen", sagt Gregor Koob draußen im Garten. Er verweist auf Leitbild und Präventionskonzept. "Wir stärken die Kinder, wir machen Kinder und Jugendkonferenzen ohne Erzieher, damit sie frei sprechen können. Patenfamilien machen nur Tagesausflüge mit den Kindern, Übernachtungen gibt es nicht." Zum Schutz – für beide Seiten.

Die Lebensgefährtin von Hermann Ammon, die bei dem Treffen dabei ist, hat sich etwas abseits auf eine Bank gesetzt. Nachdenklich schaut Ute Kiesel auf den Boden. Auch sie hat erst in diesem Frühjahr erfahren, was ihr Partner als Kind und Jugendlicher erlitten hat. Auch für sie war es ein Schock. Sie wurde krank. Es sei nicht einfach, sagt Ute Kiesel. Aber sie wolle für Hermann Ammon eine Stütze sein – ihn begleiten.


Hermann Ammon erinnert sich an einen Jungen, der an seinem letzten Tag im Heim die Gartenbeete bewusst zerstörte. Er wurde verprügelt, lag blutend am Boden. "Das war es mir wert", sagte er zu Ammon.
Ammon und Spyra wissen, dass sie nicht die einzigen Betroffenen sind. Sie sind mit mehreren in Kontakt, die sich nicht an die Öffentlichkeit wagen. Beim Treffen in Willmars erwähnen sie mehrfach, dass einige der damaligen Heimkinder wegen der sexuellen, körperlichen und psychischen Gewalt Suizid begangen haben. "Wir sind hier, weil wir auch den Toten eine Stimme geben wollen."
Das erneute Treffen mit Heimleiter Gregor Koob an diesem Nachmittag gehöre für sie zur Aufarbeitung. Auch der Austausch, den sie zuvor mit Dagmar Herda vom Willmarser Diakonieverein hatten.
Beim Abschied sagen Klaus Spyra und Hermann Ammon: "Die Gespräche und Informationen, die wir vom Ort des Schreckens erhalten, bieten uns die Möglichkeit, eine Annäherung an unsere verlorene Kindheit zu schaffen."
Autorin und Fotograf über die Recherche


Florian Wedlich