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Willmars
Prügel und Vergewaltigung in evangelischer Einrichtung in der Rhön: Frühere Heimkinder erheben schwere Vorwürfe
Frühere Heimkinder des Nicolhaus in Willmars beschuldigen erstmals einen früheren Pfarrer des sexuellen Missbrauchs. Ähnliche Vorwürfe gibt es bereits gegen einen Diakon.
Das evangelische Kinderheim Nicolhaus in Willmars (Lkr. Rhön-Grabfeld) wurde 1884 gegründet. Für einige ehemalige Heimkinder ist es ein Ort des Schreckens. Heute gebe es ein Schutzkonzept, sagt Heimleiter Gregor Koob.
Foto: Michael Endres | Das evangelische Kinderheim Nicolhaus in Willmars (Lkr. Rhön-Grabfeld) wurde 1884 gegründet. Für einige ehemalige Heimkinder ist es ein Ort des Schreckens. Heute gebe es ein Schutzkonzept, sagt Heimleiter Gregor Koob.
Christine Jeske
 |  aktualisiert: 14.04.2024 02:43 Uhr

Der Name des evangelischen Pfarrers ist weg. Gregor Koob, seit 2020 Leiter des Kinderheims Nicolhaus in Willmars (Lkr. Rhön-Grabfeld), hat ihn von der Gedenktafel der Stifter und Förderer entfernt. Jüngst hatte er von einem ehemaligen Heimkind erfahren: Der Pfarrer soll ab den späten 1960er-Jahren Kinder verprügelt haben.

Nun kommt ein weiterer schwerer Vorwurf von Betroffenen hinzu: sexualisierte Gewalt. "Das ist mir neu", sagt Koob auf Nachfrage. Dass der Pfarrer auch ein Missbrauchstäter sein soll, habe er nicht gewusst.

Gregor Koob, Heimleiter des evangelischen Kinderheims Nicolhaus in Willmars im Landkreis Rhön-Grabfeld.
Foto: Michael Endres | Gregor Koob, Heimleiter des evangelischen Kinderheims Nicolhaus in Willmars im Landkreis Rhön-Grabfeld.

Ein ehemaliges Willmarser Heimkind, Klaus Spyra, bezichtigt im Gespräch mit dieser Redaktion den damaligen Ortspfarrer von Willmars, der auch die Heimaufsicht hatte, des schweren sexuellen Missbrauchs. Erstmals. Die Entfernung des Namens von der Gedenktafel ist "eine gute Nachricht" für den 61 Jahre alten Spyra.

Heimkinder beschuldigen Diakon und Pfarrer der körperlichen und sexualisierten Gewalt

Seit längerem bekannt sind Beschuldigungen gegen einen Diakon. Er war vor 55 Jahren der Heimleiter in Willmars. Klaus Spyra hatte auch diesen Fall 2022 öffentlich gemacht. Ein weiterer Betroffener, Hermann Ammon, hatte die Vorwürfe gegen den Diakon in der BR-Sendung "Stationen" jüngst bestätigt.

Ammon, heute 64 Jahre alt, redet bei einem Gespräch mit dieser Redaktion von Vergewaltigungen durch Diakon und erstmals auch durch den Pfarrer. Die Misshandlungen durch den Diakon geschahen "in seinem Büro im Heim", die durch den Pfarrer im Pfarrhaus in Willmars.

Ehemalige Heimkinder von Willmars erhofften sich vom Pfarrer Hilfe und Schutz

Klaus Spyra kam mit sechs Jahren ins Nicolhaus. Das war 1969. Damals trat der Diakon seinen Dienst als Heimleiter an. Bis zu Spyras zehntem Lebensjahr war der Diakon in Willmars.

Spyra und auch Ammon erzählen die gleiche brutale Geschichte. Sie haben sich unabhängig voneinander in ihrer Not an den Pfarrer gewandt. Sie wollten ihm erzählen, was der Diakon Schreckliches mit ihnen macht, erhofften sich von ihm Hilfe und Schutz. "Ich war ein Kind", sagt Spyra, "mir hat die Sprache gefehlt".

"Wir waren Freiwild."
Klaus Spyra, ehemaliges Heimkind

Die kindlichen Umschreibungen, die beide Jungen wählten, hat der Pfarrer dennoch wohl sofort verstanden – aber völlig anders reagiert als erwartet. "Er hat mir eine Tracht Prügel verpasst", sagt Spyra. Noch nie sei er derart geschlagen worden. Doch die Tortur war nicht zu Ende. "Danach hat er mich vergewaltigt" - wie zuvor der Diakon. Heute kann Spyra genau schildern, wie gewalttätig der Pfarrer vorgegangen sein soll.

Auch Ammon erinnert sich: Wegen der Schläge des Pfarrers sei er einmal mit dem Kopf "an die Wand geknallt" und habe heftig geblutet. Er spricht von "Alptraum" und "Horrorkindheit".

Gedenktafel mit Stiftern und Förderern des evangelischen Kinderheims Nicolhaus in Willmars (Lkr. Rhön-Grabfeld). Ein Name wurde von Heimleiter Gregor Koob kürzlich entfernt. 
Foto: Gregor Koob | Gedenktafel mit Stiftern und Förderern des evangelischen Kinderheims Nicolhaus in Willmars (Lkr. Rhön-Grabfeld). Ein Name wurde von Heimleiter Gregor Koob kürzlich entfernt. 

Spyra und Ammon erinnern sich unabhängig auch daran, dass die Frau des Pfarrers bei beiden ins Zimmer kam. Sie habe jedoch jedes Mal die Jungen ihrem Schicksal überlassen und sofort still die Türe hinter sich geschlossen. "So konnte der Pfarrer seinen Sadismus an mir ausleben", sagt Spyra.

"Wir mussten für die Kirche ehrenamtlich Dienste leisten, etwa Kirchenblätter austragen", sagt Ammon. "Danach hat der Pfarrer gesagt, ich soll noch da bleiben." Dann sei er von ihm sexuell missbraucht worden. Über vier Jahre.

Ammon und Spyra beschuldigen auch frühere Erzieherinnen des Nicolhaus

Auch Erzieherinnen werden von den beiden Betroffenen beschuldigt. Sie hätten im Heim in Willmars die Jungen jedes Mal zum Diakon geführt. Und hinterher alle äußeren Spuren von ihren Körpern abgewaschen – mit eiskaltem Wasser. Ammon erinnert sich auch an Sätze wie: "Ihr seid selber schuld." Und: "Früher hätten wir euch vergast". Deshalb vermutet er, dass die Frauen bereits in der NS-Zeit ausgebildet wurden.

Zudem sollen sie die Kinder stundenlang eingesperrt haben. Spyra: "Wir haben uns eingenässt und eingekotet." Auch sei es vorgekommen, dass eine der Frauen mit dem Fuß das Gesicht in den eigenen Kot gedrückt habe. Ammon sagt, "einmal war das so fest, dass meine Nase gebrochen wurde". Unfassbare Vorwürfe. "Wir waren Freiwild", sagt Spyra.

"Wir waren nicht die einzigen Kinder, die missbraucht wurden."
Hermann Ammon, ehemaliges Heimkind

Ammon ist sich sicher: Diakon, Pfarrer, deren Ehefrauen und zwei Erzieherinnen gehörten zu einem "Pädophilenring". Denn auch die Frau des Diakons habe gewusst, was im Büro ihres Mannes passierte. "Unsere Schreie waren im Heim zu hören." Nicht nur die von ihnen.

"Wir waren nicht die einzigen Kinder, die missbraucht wurden", sagt Ammon, obwohl sie nicht darüber reden konnten. "Wir mussten beim Essen am Tisch des Diakons sitzen." Er habe aufgepasst, was die Jungen sagen. Später erfuhr Ammon: "Zwei aus unserer Gruppe haben sich als junge Erwachsene das Leben genommen."

Ammon erzählt, er sei vor Angst vor dem Diakon sogar aus dem Fenster im zweiten Stock gesprungen und erst wieder im Krankenhaus aufgewacht. Er habe nur knapp überlebt. Zurück im Heim, sei der Diakon nicht mehr dagewesen. Ebenso die beiden Erzieherinnen. Das war 1971. Danach sei alles anders gewesen. "Wir durften erstmals Kinder sein" – im Heim.

Im Pfarrhaus endete die Gewalt jedoch nicht. Erst 1973, als der Pfarrer ihn im Alter von 13 Jahren getauft hatte, habe dort der Missbrauch aufgehört, sagt Ammon.

Wegen der Missbrauchserfahrung in Willmars wurde Klaus Spyra Pfarrer

Recherchen des BR ergaben: Der beschuldigte Diakon kam mit seiner Frau aus Niedersachsen in die Rhön, vom Stefansstift in Hannover, einer Einrichtung der Dachstiftung Diakonie. Der Mann begann ab 1959 seine Ausbildung als Diakon und für soziale Berufe – "im Dienst der Nächstenliebe".

Und: Der Diakon war bereits auffällig, bevor er nach Willmars kam. Und er war nach seinem plötzlichen Weggang in weiteren Einrichtungen tätig. Das alles steht in der Personalakte des Diakons. Sie befindet sich im Diakoniearchiv in Gifhorn-Kästorf in Niedersachsen.

Diakon und Pfarrer müssten heute um die 90 Jahre alt sein. Ob sie noch leben, ist unklar. Hermann Ammon hat sich einmal als Erwachsener beim Pfarrer gemeldet. Er habe ihn freundlich empfangen. Aber über das, was er ihm in Willmars angetan habe, wollte er nicht reden. "Da bin ich gegangen."

2015 meldete Spyra seinen Missbrauch der Evangelischen Landeskirche in Bayern

Klaus Spyra habe aufgrund seiner Erfahrung der Ohnmacht früh beschlossen, evangelischer Pfarrer zu werden. Er wollte sich schützend vor alle Kinder stellen und ihnen glauben. Sie sollten nicht das Ungeheuerliche erleiden müssen wie er. Seit 2019 ist Spyra Pfarrer im Ruhestand.

Viele Jahre vergrub Spyra seinen schweren sexuellen Missbrauch in seinem Inneren. 2015 wandte er sich an die Evangelische Landeskirche in Bayern. Sein Fall sei anerkannt, sagt Spyra. Er verlangte jedoch nicht nur finanzielle Entschädigung, sondern auch Aufklärung. Als er 2018 in München nachfragte, habe er gehört: Es seien Akten zum Fall des Diakons aus Hannover angefordert worden, aber nie hätte es eine Antwort gegeben.

Spielplatz des evangelischen Kinderheims Nicolhaus in Willmars im Landkreis Rhön-Grabfeld.
Foto: Michael Endres | Spielplatz des evangelischen Kinderheims Nicolhaus in Willmars im Landkreis Rhön-Grabfeld.

Spyra sei klar geworden: Die Landeskirche in München bemühe sich nicht um Aufklärung. Daraufhin wandte er sich an den Bayerischen Rundfunk. Dieser brachte 2022 seinen Fall an die Öffentlichkeit. "Seither hat die Landeskirche gegen mich ein Disziplinarverfahren eingeleitet, weswegen weiß ich nicht."

Missbrauchsstudie der Evangelischen Kirche spricht von "Verantwortungsdiffusion"

Was Spyra besonders erbost: Die föderale Struktur der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) begünstige "Verantwortungsdiffusion". So bezeichnet es die Missbrauchsstudie von EKD und Diakonie, die im Januar in Hannover veröffentlicht wurde. Sie bestätigt, dass EKD und Diakonie sehr viele Missbrauchstäter in ihren Reihen haben. "Wir haben uns auch als Institution an unzählig vielen Menschen schuldig gemacht", sagte die amtierende EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs bei der Vorstellung der Studie.

"Mein Name ist in München verbrannt."
Missbrauchs-Betroffener Klaus Spyra

In der Studie ist auch von "Verantwortungsdelegation" die Rede. Für Klaus Spyra ein bezeichnendes Wort. Er zählt auf: Die Landeskirche in Bayern habe die Verantwortung über die Aufklärung an die Diakonie mit Sitz in Nürnberg delegiert, und die Diakonie gab sie an die örtlichen Trägervereine weiter. "Ehrenamtliche sollen in ihrer Freizeit kostenlos Aufarbeitung leisten." Hinterher würde es zur "Chefsache" erklärt. Für Spyra ein Unding.

Er habe erneut Ärger mit der Landeskirche, wegen eines Beitrags in der Februar-Ausgabe des Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatts. Der wurde entfernt, sagt Spyra. Die Landeskirche in Bayern habe eine Unterlassungserklärung an die Redaktion geschickt, berichtet der Evangelische Pressedienst. "Mein Name ist in München verbrannt", sagt Spyra. Nur noch über ihre jeweiligen Anwälte werde kommuniziert.

Nicolhaus-Leiter Gregor Koob hat im Heim im Willmars ein neues Schutzkonzept eingeführt

Gregor Koob im Nicolhaus in Willmars bedauert: Die Vergangenheit werfe einen großen Schatten auf die Einrichtung. Aber die Gegenwart sehe anders aus. "Wir sind sehr präventiv tätig. Es gibt klare Regelungen, ein Schutzkonzept und einen Verhaltenskodex." Achtsamkeit sei wichtig. "Alle Beschäftigten schauen aufeinander, dass keine Grenzen überschritten werden." Übergriffe sollen so im Nicolhaus künftig verhindert werden.

Koob lädt alle ehemaligen betroffenen Heimkinder ein und möchte ihnen zuhören und Hilfestellung geben. Mit Hermann Ammon habe er bereits ein Gespräch geführt. Bei Klaus Spyra habe er sich auch gemeldet. Spyra hält Koob für "fähig", er sei nicht zu vergleichen mit anderen Heimleitern. Bei der Landeskirche will er nun auch den Missbrauch durch den Pfarrer melden.

Bei Hermann Ammon sei die Landeskirche von sich aus auf ihn zugegangen. Der Arbeits- und Sozialpädagoge im Ruhestand ist erleichtert, dass sein "Geheimnis" gelüftet ist und seine Familie ihn dabei unterstützt hat.

 
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  • Stefan Flessa
    Gut, dass es ans Licht kommt!

    Es gibt ein Buch von Thilo Sarrazin: „Deutschland schafft sich ab“

    Die Kirche schafft sich selbst ab, indem sie nicht mehr das lebt, was sie zumindest teilweise von den Kanzel predigt.

    Egal wo und welche Kirche: Jesus hat ganz klar gesagt, dass wenn das Salz nicht mehr salzt, dass es dann ausgeschüttet wird und von den Leuten zertreten wird. Das was da in der Vergangenheit im kirchlichen Raum passiert ist, dass ist nicht nur nicht mehr salzen, das ist ganz klar Anti-Salz.

    Ich empfehle den Herren bei den Kirchen das Evangelium vom vorletzten Sonntag im Kirchenjahr zur Lektüre. Und dann dieses Evangelium ernst nehmen und endlich den eigenen Saustall aufräumen!

    Und noch etwas: Gott schüttet gerade langsam aber stetig den fad und falsch gewordenen Salztopf aus. Das kann man unter anderem an den Austrittszahlen sehen und dass endlich, endlich Licht an die dunklen Stellen der Kirchen kommt!

    Gott sei Dank!
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  • Georg Metzger
    Landeskirche,

    Ihre Haltung ist menschenverachtend
    was die Wahrnehmung der Vorfälle und Aufarbeitung der strafrechtlichen Vorfälle in Willmers betrifft,
    was den Umgang mit dem unbeugsamen Herrn Spyra betrifft. Im Gegensatz zu ihrer institutionalisierten anonymen Machtstruktur wehrt er sich als Opfer gegen die Nicht-Aufarbeitung dieser Sauereien.
    Dann stellen sich ihre obersten Repräsentanten bei der Präsentation der Missbrauchsstudie von EKD und Diakonie hin, drücken aufs Tränendrüschen, heucheln Mitgefühl und erzählen was von Aufklärung. In diesem Punkt hätte es die Reformation nicht gebraucht. Evangelische wie katholische Kirche unterscheidet bei der Ausübung von Machtmissbrauch, so hier bei hilflosen Kindern und im späteren Leben benachteiligten Opfern, in NICHTS.
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  • Martin Deeg
    ….“Die Landeskirche in München bemühe sich nicht um Aufklärung. Daraufhin wandte er sich an den Bayerischen Rundfunk. Dieser brachte 2022 seinen Fall an die Öffentlichkeit. "Seither hat die Landeskirche gegen mich ein Disziplinarverfahren eingeleitet, weswegen weiß ich nicht."….

    Kann mal jemand erklären, weshalb diese Muster des autoritären Machtmissbrauchs und der Vertuschung von Gewalt und Verbrechen durch hierarchische Strukturen heute immer noch funktioniert?

    Wer ist verantwortlich bei der „Landeskirche“?
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  • Alfred Holler
    Steht doch im Bericht: "Verantwortungsdelegation" bzw. "Verantwortungsdiffusion". Da kann / konnte man sich doch prima dahinter verstecken.......
    Die haben scheinbar schon gewusst, warum sie sich bei den Kath. Brüdern so still verhalten haben.....

    Und allgemein (nicht spez. an H. Deeg): Die haben doch alles, was den kath. Geistlichen angeblich "vorenthalten" wird und trotzdem solche ....bären in Ihren Reihen. Der Zölibat alleine kanns also auch nicht gewesen sein, sondern vielleicht eher die Machtstruktur. Soll aber keine Entschuldigung sein!!!!!!!!!!!!
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