Der gebürtige Bad Neustädter Tobias Weihmann (42) lebt seit 2015 mit seiner Familie in Kiew, der Hauptstadt der Ukraine, an deren Grenzen über 120 000 russische Soldatenaufmarschiert sind. Weihmann ist Software-Entwickler für deutsche Firmen, seine Frau Shandra, eine Ukrainerin, ist Bloggerin für ein englischsprachiges Politportal. Weihmann hat in Irland und Moskau studiert und dann in Minsk, der Hauptstadt von Belarus, und in der litauischen Hauptstadt Vilnius, gelebt. Osteuropa ist ihm zur zweiten Heimat geworden. "Wenn die Sprachbarriere überwunden ist und man sich für ihre Kultur interessiert, sind die Menschen extrem begeistert und offen und schließen einen überall mit ein", sagt er. Im Interview berichtet er über die Lage in Kiew und wie Deutschland in der Ukraine wahrgenommen wird.
Tobias Weihmann: Kiew ist eine friedliche, sehr lebendige Stadt, in der man vom Krieg nichts mitbekommt. Es sei denn, man geht auf die Friedhöfe. Die sind voll und wachsen weiter, wenn die jungen Soldaten bestattet werden, die am Donbass eingesetzt waren. Der Krieg hat ja nie aufgehört.
Weihmann: Seit 2014 gab es immer wieder Angriffe, das ist der Normalfall in der Ukraine. Im Alltag hat man sich damit arrangiert. Auch über die gegenwärtige Lage wird weit weniger diskutiert als im Westen – es gab immer wieder Bedrohungen, immer wieder Truppen-Aufmärsche. Wenn man das mehrfach durchmacht, stumpft man ab. Irgendwie hat man sich daran gewöhnt, dass man einen problematischen Nachbarn hat, der einen einfach nicht in Ruhe das Land aufbauen lassen möchte.
Weihmann: Es geht ja vor allem um psychologische Ziele: Nicht nur wir, sondern auch der Westen soll in Panik geraten. Auf die leichte Schulter wird das Problem dennoch nicht genommen: Es gibt eine Bewegung von Leuten, die sich mit Waffen eindecken, um im Fall einer Besatzung Partisanenverbände zu bilden.
Weihmann: Zum einen muss man sagen, dass die deutsche Debatte Fortschritte gemacht hat. 2014, nach der Besetzung der Krim, war ich völlig entsetzt, als in deutschen Nachrichten ernsthaft behauptet wurde, dass die Krim ja ohnehin russisch sei. Das hat sich geändert, und das finde ich sehr gut. Lange galt nach dem zweiten Weltkrieg das Narrativ, dass allein Russland der Befreier war und Kollaboration nur in der Ukraine stattgefunden hätte. Als ob nicht Millionen Ukrainer in der Sowjetarmee gekämpft hätten. Auch das hat sich gebessert. Aber die Selbstverständlichkeit, mit der man mit dem Regime Putin Geschäfte macht, die entsetzt mich weiterhin.
Weihmann: Das ist nicht die ganze SPD. Aber es gibt Strömungen, die profitieren von diesen Wirtschaftsprojekten und blenden das menschliche Leid vollkommen aus. Das sind standortnationalistische Strömungen, die gar nicht zur Sozialdemokratie passen. Es war ein Fehler, sich mit der Pipeline vom größten Versorger so abhängig zu machen – eigentlich sollte man ja diversifizieren. Und man muss sich eines klarmachen: Erst wenn Russland sein Gas über Nord Stream 2 ohne den Umweg Ukraine nach Deutschland pumpen kann, ist der Weg frei für eine Invasion. Solange das Gas weiterfließt, kann Putin hoffen, dass er weiterhin mit allem durchkommt. So wie er mit der Krim durchkommt. Nord Stream 2 wäre also der Wegbereiter des nächsten Krieges. Das ist eine Katastrophe für die deutsche Reputation.
Weihmann: Ein souveränes Land, das niemanden bedroht und in den letzten Jahren versucht, sich zu reformieren und gegen die Korruption anzukämpfen. Da ist noch viel zu tun, aber es gab mehrere demokratische Machtwechsel, es gibt freie Medien, eine lebendige Kulturszene und auch eine politische Kultur. Wir haben einen jüdischen Präsidenten und hatten mehrere Jahre lang einen jüdischen Premierminister, und das spielte in der oft sehr kontroversen öffentlichen Diskussion keinerlei Rolle. Es ist eine offene Gesellschaft. Die Paraden der LGBTQ-Community werden von der Polizei geschützt – das ist absolut ungewöhnlich für diese Region. Das könnte jetzt alles wieder kaputtgemacht werden – das macht mir große Sorgen. Allein der Donbass-Krieg hat mehrere Millionen Flüchtlinge und 14 000 Tote verursacht. Ein großer Krieg würde unvorstellbares Leid zur Folge haben, und er kann auch nicht im Interesse Deutschlands liegen.
Weihmann: Das ist extrem peinlich. Als ich neulich hier im Ausländeramt zu tun hatte, habe ich gehört, wie der Chef sich darüber lustig gemacht hat. Da gab es nur Kopfschütteln. Ich habe versucht, ein bisschen zu erklären, und das wurde auch angenommen. Aber es wären natürlich ganz andere Formen der Unterstützung vorstellbar. In der Not erkennt man, wer ein Freund ist. Und im Moment sieht es so aus, als könne man Deutschland nicht zu den Freunden zählen.
Weihmann: Eine so massive Bedrohung kann man jedenfalls nicht mit Passivhäuern abhalten, die von Deutschland gefördert werden. Es sollte absolut klar sein, dass Deutschland einen Krieg nicht akzeptiert. Putin ist nicht verrückt, sondern er kalkuliert knallhart. Wenn er eine Schwäche sieht, nutzt er sie aus. Es muss ihm also glaubhaft klargemacht werden, dass die Kosten für ihn im Falle eines Krieges extrem hoch wären. Es muss ein klares Maßnahmenpaket geben: Wenn ihr angreift, könnt ihr Nord Stream 2 vergessen. Dann könnt ihr die wirtschaftliche Kooperation vergessen, die Überweisungen per SWIFT. Russland ist nicht so stark, das Regime ist abhängig vom Westen.
Weihmann: Die bisherigen Sanktionen sind löchrig wie ein Schweizer Käse. Wenn Deutschland es nicht schafft, sie viel konsequenter durchzusetzen, muss es Waffen liefern. Nicht, um sie sofort einzusetzen. Es geht darum, das die Ukraine sich verteidigen kann, und dass Putin sieht: Das ist kein einfaches Spiel. Man versucht sich damit rauszureden, man könne keine Waffen in Krisengebiete schicken, aber das ist falsch. Es steht ganz klar in den deutschen Exportregeln, dass es Ausnahmen für den Verteidigungsfall nach der UN-Charta gibt. Und ein solcher liegt hier ganz eindeutig vor. Wir haben überhaupt kein Problem mit den Russen, wir haben ein Problem mit einem nationalistischen, militäristischen Regime.
Warum sollten wir also mit einem Land wie der Ukraine befreundet sein? Anders als im Falle Russland gibt es gegenüber der Ukraine keinerlei Abhängigkeiten von Energielieferungen.
Warum sollten wir angesichts unserer Abhängigkeit von Russland der Ukraine Waffen schenken, denn von Kauf ist nirgendwo die Rede? Das ist übrigens der Unterschied zu den von einigen Kommentatoren hier kritisierten “Waffenexporten”. Wenn wir Waffen exportieren, also verkaufen, sichern deutsche Rüstungsunternehmen Arbeitsplätze in Deutschland und zahlen im Höchststeuerland Deutschland auch Steuern.
Und zum Thema Korruption, da findet man, dass schon kleine Schritte getan wurden, zumindest was das Ranking weltweit betrifft. Auch wenn es noch ein weiter Weg ist, aber solange dort Krieg herrscht, wird es sich nicht verbessern lassen.
https://en.wikipedia.org/wiki/Corruption_in_Ukraine
Year Ranking
2011 152 of 183
2012 144 of 176
2013 144 of 175
2014 142 of 175
2015 130 of 167
2016 131 of 176
2017 130 of 180
2018 120 of 180
2019 126 of 180
2020 117 of 180
(die ganze Tabelle ist hier schwer darzustellen)
Aufgrund unserer starken und kurzfristig nicht substituierbaren Energieabhängigkeit von russischem Erdgas sollte unsere Außenpolitik gegenüber Russland unter anderem von unserem Interesse einer Versorgungssicherheit geleitet sein. Das allein schon schließt Waffenlieferungen in die Ukraine aus.
Oder wollen Sie frieren oder teures und dreckiges Frackinggas aus den USA, deren Verhalten an dieser Stelle durchsichtig und eigennützig ist, beziehen?
Der hier im Forum von „Erding“ geäußerten Meinung zur weiteren Vorgehensweise schließe ich mich weitestgehend an.
Keiner bedroht Russland und bevor Ukraine von RU bedroht und überfallen wurde, gab es keine pro-NATO - Stimmung dort. Das kann Putin sich als seinen "Erfolg" zuschreiben.
Ich habe selbst erlebt, wie die Stimmung in Kiew nach 2014 von Russland-freundlich bis neutral auf anti-russisch und anti-Putin gekippt ist (ich war mehr als 15-mal dort).
Abstimmung auf der Krim: wenn jemand mit einem Gewehr dabei steht, überlege ich mir, meine Meinung zu ändern. Und was würde Putin wohl sagen, wenn wir einen Teil Russlands abstimmen lassen würden, ob sie nicht lieber zu Deutschland gehören wollen (hypothetisch - nur mal angenommen)
Keiner bedroht Russland und bevor Ukraine von RU bedroht und überfallen wurde, gab es keine pro-NATO - Stimmung dort. Das kann Putin sich als seinen "Erfolg" zuschreiben.
Ich habe selbst erlebt, wie die Stimmung in Kiew nach 2014 von Russland-freundlich bis neutral auf anti-russisch und anti-Putin gekippt ist (ich war mehr als 15-mal dort).
Abstimmung auf der Krim: wenn jemand mit einem Gewehr dabei steht, überlege ich mir, meine Meinung zu ändern. Und was würde Putin wohl sagen, wenn wir einen Teil Russlands abstimmen lassen würden, ob sie nicht lieber zu Deutschland gehören wollen (hypothetisch - nur mal angenommen)
Unter Stalin wurde so gründlich aufgeräumt dass die Mehrheit „Russen“ sind.
Nicht nur das Zugehörigkeitsgefühl zu Russland sondern auch das Misstrauen gegenüber der Ukraine war für die Stimmung ausschlaggebend.
„Marktwirtschaft“ hat den Bürgern dort keine Vorteile gebracht, da Alles von Oligarchen abgeschöpft wurde und Korruption aus russischer Zeit einfach übernommen wurde.
Aus historischen Gründen ist dieses Ansinnen natürlich absoluter Unfug.
Das hat auch nichts mehr mit freier Selbstbestimmung der Ukraine zu tun sondern ist einfach dumm.
Letzen Endes hat diese penetrante Ausdehnung der NATO dazu geführt,
dass Russland seinen Flottenstützpunkt Sewastopol auf der Krim gegen Zugriff des Nordatlantikbündels sichern musste!
Und auch das Vorgehen Russlands in der Donbass-Region ist im Hinblick auf den Expansionswahn der USA mitsamst ihren Verbündeten ziemlich nachvollziehbar.
Mich verwundert eher, dass die russische Regierung angesichts dieser permanenten Reizung bisher stets höflich und zurückhaltend auf diese Provokationen seitens "des Westens" reagiert !
Putin hat sich aber stattdessen für Krieg entschieden.
wenn ich nur an die bzopfte Julia Timoschenko denke.
Oligarchen und Kleptomanen.
Was haben sie mit den 2 Milliarden € angefangen.
Mit welchem Recht fordert die Ukraine etwas von der BRD?
Und natürlich umsonst
Über das Verhalten von Merkel und Schröder, die Putin erst zum Überfall auf die Ukraine ermutigt haben muss man sich schämen.
Und von fossiler Energie müssen wir uns früher oder später verabschieden.
https://www.sueddeutsche.de/politik/ukraine-korruption-rechnungshof-1.5419576
Und um die Menschenrechte steht es so
https://de.wikipedia.org/wiki/Menschenrechte_in_der_Ukraine
Also, nicht verfeindet reicht als Status völlig aus.