
Es gibt Momente, in denen reicht ein einziger Blick. Naglaa Ashry lässt ihre Augen über einen Patienten oder eine Patientin schweifen – und weiß Bescheid. "Wenn jemand regelmäßig in die Praxis kommt, verstehe ich ihn oder sie oft, ohne zu reden. Ich sehe der Person an, wenn sie abgenommen hat, traurig ist oder Schmerzen hat", sagt die Hausärztin, die vor acht Jahren aus Ägypten nach Deutschland zog und seit 2022 in der Praxis Weier und Pladek-Weier in Bad Neustadt arbeitet.
Auch wenn es manchmal ohne Worte geht, spricht Naglaa Ashry inzwischen gut Deutsch. Die Sprache inklusive medizinischer Fachbegriffe brachte sie sich selbst bei. Auch durch ihre Töchter lernte sie viel. Egal ob in Schule oder Kindergarten, sie habe immer nachgefragt, wenn sie etwas nicht verstanden habe, so Ashry. "Und die Videos der Kindersendung 'Checker Tobi' haben mir sehr geholfen", sagt sie und lacht. Wenn doch mal ein Patient zu sehr Rhöner Dialekt spricht, bittet Ashry ihn oder sie mit einem Lächeln, den Satz noch einmal zu wiederholen.
Naglaa Ashry wollte schon als kleines Mädchen Ärztin werden
Menschen helfen, zuhören, Schmerzen lindern, davon träumte Naglaa Ashry schon als kleines Mädchen. "Ich wollte immer Ärztin werden. Als ich sechs oder sieben war, schenkte meine Mutter mir ein Doktorspiel", erinnert sich die heute 42-Jährige. Sie verfolgt ihren Traum hartnäckig: Studiert und gearbeitet als Familienärztin, wie der Beruf in ihrer Heimat heißt, hat sie unter anderem in Kliniken und einer eigenen Praxis.
Doch ihr und ihrem Mann – einem Orthopäden – missfällt das ägyptische Gesundheitssystem. "Außerdem ist die Bezahlung der Ärzte schlecht. Um davon leben zu können, müsste ich ganztags und in mehreren Jobs arbeiten", so Naglaa Ashry. Das sei nur schwer mit einem Familienleben zu vereinbaren.

Deshalb ziehen Naglaa Ashry, ihr Mann und die Töchter 2016 nach Deutschland. "Vor allem das Wetter ist in Ägypten anders. Als ich gesehen habe, dass manche hier kurze Hosen, aber eine Jacke tragen, war das komisch für mich", erinnert sich Ashry. Doch die Familie lebt sich schnell ein in ihrem neuen Wohnort Herschfeld: "Ich mag die Gemeinde, hier ist es ruhig und sauber. Auch mein Mann und meine Töchter fühlen sich wohl".
Die Anerkennung als Ärztin in Deutschland als "neue Geburt"
Einen Wermutstropfen gibt es allerdings. Weil sie ihre medizinische Ausbildung außerhalb der Europäischen Union (EU) absolvierte, dauert es fünf Jahre, bis sie als Ärztin in Deutschland tätig werden darf. Mann und Kinder machen ihr Mut, durchzuhalten. Dennoch: "Diese Zeit war sehr schwierig für meine Seele. Ich wurde depressiv, denn ich hatte ja immer gearbeitet, war nie länger zu Hause gewesen."
Am 10. Oktober 2021 der große Moment: Sie erhält endlich ihre ärztliche Zulassung und darf in der EU als Medizinerin arbeiten. "Das fühlte sich an wie eine neue Geburt. Endlich war ich wieder ein normaler Mensch", sagt Naglaa Ashry. Sofort telefoniert sie sämtliche Hausarztpraxen im Umkreis ab, um einen Job zu finden. Darunter die Praxis von Bernd Weier und Claudia Pladek-Weier, in der sie zur Probe arbeitet. Schnell ist klar: Das passt.
Ab Januar 2022 arbeitet sie dort als Assistenzärztin und meldet sich zur Facharztprüfung in Allgemeinmedizin an. Sie stellt sich auf eine lange Wartezeit ein – doch es kommt anders. Weil jemand abgesagt hat, kann sie am 15. Dezember kurzfristig teilnehmen. "Eines Tages legte sie mir ihr Facharztzeugnis auf den Tisch mit den Worten 'Ich war gestern in München und habe die Prüfung gemacht'", erinnert sich Claudia Pladek-Weier. "Andere nehmen einen Monat Urlaub, um das hinzukriegen. Sie konnte es einfach. Die Frau hat mir der Himmel geschickt." Sie schätze ihre Mitarbeiterin als sehr gewissenhafte Ärztin.
Muslimische Religion von Naglaa Ashry hat keinen Einfluss auf ihre Arbeit
Auch Naglaa Ashry zeigt sich froh, weiter in der Praxis arbeiten zu können, wo sie inzwischen in Teilzeit als angestellte Fachärztin tätig ist. Vorurteilen, weil sie keine Deutsche ist, sei sie bisher nicht begegnet. Ihre Chefin wurde schon mit solchen konfrontiert: "Es gibt Patienten, die sich nicht von Ausländern behandeln lassen wollen. Wer offen diskriminiert, fliegt aus unserer Praxis raus!"
Auf ihre Arbeit hat es ohnehin keinen Einfluss, dass Naglaa Ashry Muslima ist und Hijab, also Kopftuch, trägt. "Ich darf auch Männer normal behandeln", sagt die 42-Jährige. Egal ob Mann, Frau, Jugendliche oder Kind: "Ich mag die Nähe zu den Menschen und freue mich, wenn ich ihnen helfen kann. Schmerzen sind das Schlimmste." Und um die zu erkennen, reicht Naglaa Ashry in manchen Momenten ein einziger Blick.