
Die Seiten des Albums sind leicht verknickt, wieder und wieder umgeschlagen. Zielstrebig blättert Ghezaluddin Moradi bis zu einem Bild: Ein Bub grinst aus einem Krankenhausbett in die Kamera, sein linkes Bein ist komplett bandagiert. Moradi schaut auf, sucht Jessica Körbers Blick. Und plötzlich ist da das gleiche Grinsen in seinem Gesicht.
"Genauso hast du als Kind ausgesehen, bevor du etwas angestellt hast", sagt Körber. Damals, als das Foto gemacht wurde. Als Ghezaluddin Moradi als Patient aus Afghanistan schwer verletzt in der Main-Klinik in Ochsenfurt lag und Jessica Körber dort ihre ersten Tage als junge Ärztin verbrachte.

33 Jahre später sitzen die beiden nebeneinander in Würzburg in einem afghanischen Restaurant. Es ist ein schwülwarmer Juniabend, der Curryduft zieht durch den Raum, leises Gemurmel dringt von den Nachbartischen herüber. Die beiden Mediziner nehmen es kaum wahr. Immer wieder lachen sie beim Blättern durch das Fotoalbum laut auf. Kramen Namen aus der Erinnerung, schildern Szenen aus der Vergangenheit.
Früher Ärztin und Patient: Jetzt sind sie Kollegen am Schweinfurter Leopoldina-Krankenhaus
Jessica Körber und Ghezuladdin Moradi kennen sich ein halbes Leben lang. Die 59-Jährige ist heute leitende Oberärztin der Chirurgie am Leopoldina-Krankenhaus in Schweinfurt. Seit wenigen Wochen arbeitet Kinderarzt Moradi dort auch. "Ohne die Hilfe von Jessica wäre ich nicht hier", sagt der 44-Jährige. Seine Wertschätzung für die Ärztin schwingt in jedem Wort mit. Jessica Körber und er sind Freunde, Vertraute, weit mehr als Kollegen. Und sie verbindet eine lange Geschichte.

Sie begann 1991, in Zimmer 145 der Ochsenfurter Main-Klinik. Ghezaluddin Moradi war elf und teilte den Raum mit Amir Sha, einem anderen ausländischen Jungen. Die Buben "hatten genaue Vorstellungen, wer ihren Verband wechseln darf", erzählt Jessica Körber. Die 59-Jährige schmunzelt. Sie habe sich durchgesetzt – und den störrischen Jungen irgendwie ins Herz geschlossen.
Selbst gerade Mutter geworden, ging ihr das Schicksal des Elfjährigen nahe. Moradi war mit der Hilfsorganisation Friedensdorf Oberhausen aus Afghanistan nach Deutschland gekommen, allein in ein völlig fremdes Land, ohne seine Familie. Er litt an einer Knochenentzündung im Bein. In seiner Heimat konnte sie nicht geheilt werden, in dem Land am Hindukusch herrschte Krieg.
"Am Anfang habe ich jeden Tag geweint", erinnert sich der 44-Jährige. Körber und ihre Kollegen versuchten, die Buben abzulenken. Sie feierten mit dem Jungen Geburtstag, spielten stundenlang Mensch-Ärgere-Dich-Nicht oder Uno, nahmen ihn am Wochenende zu Ausflügen mit. "Er kennt Museen hier im Umkreis, in denen die meisten Würzburger oder Schweinfurter nie waren", sagt Körber.


Ein Lehrer brachte Ghezaluddin Moradi und Amir Sha Deutsch bei, mit der Sprache wurde es leichter, die Jungen wurden frecher. Sie fuhren Rennen mit ihren Rollstühlen, spielten den jungen Krankenschwestern Streiche. Zu Weihnachten bastelte der Elfjährige heimlich für alle Mitarbeiter Geschenke.
Über zwei Jahre lag der junge Patient aus Afghanistan in Ochsenfurt im Krankenhaus. Die Zeit hat ihn geprägt. "Ich finde, du hast sehr deutsche Züge", neckt ihn Körber. "Du bist zum Beispiel sehr ordentlich und korrekt. Und du hast Briefmarken gesammelt." Moradi zieht die Augenbrauen hoch, dann lacht er herzlich. Die bunten Marken habe er geliebt, sein Sammelalbum kaum aus der Hand gegeben und mit zurück nach Afghanistan genommen.
"Als ich angekommen bin, hat mich mein Vater im ersten Moment nicht erkannt", erzählt der 44-Jährige. In Kabul "wurde gekämpft", seine Familie floh in die Provinz. Das Leben dort, die persische Sprache, waren für ihn plötzlich ungewohnt. "Ich habe anfangs kaum gesprochen und nur genickt."
Den Kontakt zu seinen deutschen Freunden hielt Moradi sorgsam aufrecht. Von einer damaligen Anästhesistin der Main-Klinik, Maria Bayer, und anderen wurde er finanziell unterstützt. Nach dem Abitur begann er, in seiner Heimat Medizin zu studieren. "In meinem Inneren habe ich das Gefühl, dass ich helfen sollte – so wie mir andere Menschen geholfen haben."

Schon während seines Studiums kam Moradi wieder nach Deutschland, arbeitete drei Monate an der Uniklinik Mainz. "Man wusste immer, wo er ist", sagt Chirurgin Jessica Körber. Mit einem ehemaligen Kollegen aus Ochsenfurt habe sie seinen Werdegang verfolgt. Und bekam mit, dass Moradi erst eine Praxis in Kabul betrieb, später Arzt im dortigen Krankenhaus wurde.
Dann kam das Jahr 2021. "Da brach das politische Chaos aus", sagt der Kinderarzt. Nach dem Abzug der US-Truppen und Nato-Verbände aus Afghanistan hatten die Taliban das Regime übernommen. "Ich wollte als Arzt nach Deutschland kommen, aber es gab keine Möglichkeit mehr, auszureisen."

In Schweinfurt saß Jessica Körber vor dem Fernseher und verfolgte die Eskalation: "Ich sah die Menschen zum Flughafen rennen." Sofort habe sie den früheren Kollegen aus Ochsenfurt angerufen und nach Moradi erkundigt. Doch der Kontakt war abgebrochen, alle Telefonate blieben erfolglos. Schließlich schrieb Körber via Facebook eine Nachricht.
In Afghanistan gab es keine Zukunft für den Kinderarzt und seine Familie
Ghezaluddin Moradi antwortete schnell, verzweifelt. "Ich hatte Angst", sagt er. In Afghanistan gibt es keine Zukunft für ihn und seine Familie. Der 44-Jährige ist verheiratet, hat zwei Söhne und zwei Töchter. Die Mädchen dürfe nicht mehr zur Schule gehen, seine Frau traue sich nicht allein auf die Straße, sein Bruder werde vermisst, sagt der Arzt: "Ich wollte nach Deutschland kommen, um sicher zu sein."
Doch obwohl Kinderärzte bundesweit händeringend gesucht werden, wurde das alles andere als einfach. "Ich dachte, man gibt Unterlagen ab und dann läuft das", sagt Körber. "Das war blauäugig." Fast zwei Jahre lang kämpften sich die Schweinfurter Chirurgin und der Kinderarzt aus Kabul durch einen Wust an Bürokratie, reichten die gleichen Dokumente bei zig Behörden ein. Kaum war ein Antrag ausgefüllt, wurde der nächste gefordert.
Denn generell gilt: Wer als Arzt oder Ärztin aus dem Ausland in Deutschland arbeiten will, braucht entweder eine dauerhafte ärztliche Zulassung, also Approbation, oder eine befristete Berufserlaubnis. Zudem müssen Mediziner aus Drittstaaten vor der Einreise ein Visum beantragen.
Aktuell sind laut der bayerischen Landesärztekammer 12.892 ausländische Ärztinnen und Ärzte im Freistaat gemeldet. In Unterfranken verzeichnete die Kammer Ende 2023 insgesamt 1190 ausländische Mediziner. Das sind deutlich mehr als noch vor zehn Jahren. Und doch sei der Weg hierher "anstrengend" geblieben, sagt Körber.
Erst nachdem die Chirurgin für Moradi eine Verpflichtungserklärung unterschrieben hatte – die Zusicherung, dass sie fünf Jahre für alles haftet – sei Bewegung in das Verfahren gekommen. Die Ausländerbehörde in Schweinfurt habe sich "maximal bemüht", sagt die 59-Jährige.

Da es in Kabul keine deutschen Behörden mehr gab, musste Moradi mehrfach nach Pakistan, zum Goethe-Institut und zur Botschaft. Ein gefährlicher Kraftakt. Anfang Januar 2024 meldete er sich für die für ein Visum geforderte Sprachprüfung an. Kurz danach schrieb er per WhatsApp:
"Als ich gegen Viertel vor 22 Uhr an der Grenze angekommen bin, war das Tor schon gesperrt. Darum musste ich hinter dem Tor übernachten. Da das Wetter draußen kalt war und ich Angst hatte, im Freien zu erfrieren, bin ich hin und her gelaufen, um ein Zimmer zum Mieten zu finden. Ich fand dann eine armselige, von Insekten behauste, ganz von Staub bedeckte Hütte (…)"
Zwei Wochen später fuhr er erneut in das afghanische Nachbarland, legte die Prüfung ab: "Ich kam nach 20 Stunden Reise im Bus oder Kleinfahrzeugen erschöpft dort an, konnte nachts nicht schlafen und war während der Prüfung komplett müde", erzählt der 44-Jährige. Doch er bestand.
Danach begann das Warten auf ein Visum. Der Februar verging. Körbers Nachfragen verhallten effektlos. Bis zum 25. März 2024. Da schrieb Moradi per WhatsApp: "Ich habe das Visum bekommen". Fünf Worte. Hoffnung!
Die letzten Wochen in Afghanistan zerrannen, Moradi organisierte den Umzug seiner Familie zu seiner Schwiegermutter und dem Schwager. "Allein kann sich meine Frau nicht um vier Kinder kümmern", sagt der 44-Jährige. Und zum ersten Mal beim Treffen ringt er um Worte. Emotionen huschen sekundenschnell über sein Gesicht.
Moradi hat seine Kinder seit dem 4. Mai nicht mehr gesehen
"Es ist schwer." Der Arzt stockt, zieht sein Handy aus der Tasche. Vom Display blicken zwei Mädchen und ein kleiner Junge. Drei Augenpaare, drei lächelnde Gesichter. Muradis Finger zittern leicht. "Die Bilder haben mich kaputt gemacht."
Moradi hat seine Kinder seit dem 4. Mai nicht mehr gesehen. An diesem Tag flog er von Kabul nach München. Als er landete, stand Jessica Körber vor dem Terminal. "Ich habe ihn gleich erkannt, die Augen sind ja unverkennbar." Das Vertrauen zwischen ihnen sei sofort wieder dagewesen.
In den ersten beiden Wochen wohnte Ghezaluddin Moradi bei Körber und ihrem Mann. Dann zog er in eine WG, die das Leopoldina-Krankenhaus für ausländische Ärzte stellt. Am 13. Mai 2024 begann er seinen Dienst in der Kinderklinik, zunächst als Hospitant.
Vieles, sagt er, laufe auf den Stationen in deutschen Krankenhäusern völlig anders als in Afghanistan. Hier brauche man oft "eine halbe Stunde für ein Kind, das Schnupfen hat, weil alles dokumentiert werden muss". Und: "Bei uns in Afghanistan reden wir Ärzte weniger mit Eltern und Patienten." Das ständige Begründen und Erklären, daran habe er sich noch nicht gewöhnt.
Der Kinderarzt schmunzelt, wird dann aber schnell ernst. "Das Wichtigste für mich ist: Ich fühle mich hier sicher." Was das wirklich bedeute, könnten Europäer kaum nachvollziehen. "In Deutschland machen sich die Menschen viele Sorgen – in Afghanistan kämpfen wir ums Überleben."
Lernen für die Fachsprachprüfung und hoffen auf die Zukunft
Mit Körbers Hilfe hat sich Moradi mittlerweile zur medizinischen Fachsprachprüfung angemeldet, danach wollen sie die Berufserlaubnis beantragen. Sobald sie bewilligt ist, darf der 44-Jährige ärztlich im Leopoldina arbeiten – und seine Frau und die Kinder nach Unterfranken holen. Moradis Augen leuchten. Bis er allerdings eine deutsche Approbation erhalte, könne es noch dauern. Monate, vielleicht Jahre.
Moradi zuckt die Schultern. Er wird weiter warten, Jessica Körber wird ihn weiter unterstützen. Die Chirurgin zieht noch einmal das dicke Fotoalbum heran, sucht nach einem Bild. Darauf wirft der elfjährige Ghezaluddin Moradi den Kopf vor Lachen in den Nacken, glücklich, trotz seiner schweren Verletzungen. Das Bild habe sie nie vergessen, der einsame Bub habe sie als junge Mutter tief bewegt.
"Man wird Arzt, weil man helfen will", sagt Jessica Körber. "Ich finde, das ist etwas Normales – das macht uns Menschen aus." Damals, 1991 in Ochsenfurt, hätten sie und das gesamte Team so empfunden. Und daran habe sich drei Jahrzehnte später nichts geändert.
Die Autorin und die Recherche
