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"Im Kurs haben ab und an welche geweint": So lief der Erstorientierungskurs an der VHS Lohr-Gemünden
Die Erstorientierungskurse bei der VHS Lohr-Gemünden sind bei Ukrainern beliebt. Was sie auf ihrer Flucht erlebt haben, wieso der Kurs wichtig ist und worauf geachtet werden sollte.
Die Kursteilnehmer und  -teilnehmerinnen des Gemündener Erstorientierungskurses der VHS verbrachten nicht nur viel Zeit im Klassenraum, sondern picknickten auch im Freien. 
Foto: Larysa Andrus | Die Kursteilnehmer und  -teilnehmerinnen des Gemündener Erstorientierungskurses der VHS verbrachten nicht nur viel Zeit im Klassenraum, sondern picknickten auch im Freien. 
Nicole Schmidt
 |  aktualisiert: 09.02.2024 07:55 Uhr

Wenn Achlak Abdul Salam und seine Frau Viktoriia von ihrer Flucht aus der Ukraine berichten, kommen ihnen die Tränen. Direkt am ersten Tag des Krieges hörten sie Bomben neben ihrem Haus in Odessa einschlagen. Sechs Tage lang brauchten sie mit dem Auto bis zur polnischen Grenze, stets begleitete sie dabei die Angst. "Wir sind gemeinsam mit Freunden und drei kleinen Kindern geflüchtet, das Auto war voll", erzählen sie, "wir haben dort geschlafen, gegessen, die Kinder gewickelt und gestillt." Eine Tortur, nicht nur wegen der eisigen Temperaturen, die im Februar herrschten, sondern, auch weil die Kinder geweint hätten.

Trotz ihrer traumatischen Erlebnisse, war für sie klar, dass sie so schnell wie möglich einen Erstorientierungskurs besuchen möchten. "Die Sprache ist ein Schlüssel zur Integration", so die Eheleute, die seit April in Gemünden sind. "Ich habe 20 Jahre in der Ukraine gewohnt, dort Medizin studiert und vor vier Jahren meine Frau kennengelernt", sagt Achlak Abdul Salam, der auch in Deutschland wieder als Zahnarzt arbeiten möchte. Dafür müsse er aber laut eigener Aussage, die deutsche Sprache perfekt beherrschen, nur dann ließe sich Arbeit finden. 

"Frontalunterricht ist schwierig in solchen Klassen"

Die Nachfrage nach den Kursen der Volkshochschule Lohr-Gemünden (VHS) war deshalb von Anfang an hoch, informiert die Leiterin Dr. Susanne Duckstein, "wir mussten noch zusätzliche Räume anmieten, sodass wir am Ende drei Erstorientierungskurse mit 24 Personen gestartet haben." Diese stehen zwar allen Geflüchteten mit unklarer Bleibeperspektive offen, die Kurse bestanden aber überwiegend aus ukrainischen Flüchtlingen.

Darauf stellten sich auch die Dozentinnen ein. "Frontalunterricht ist schwierig und funktioniert in solchen Klassen nicht. Ich habe immer versucht, ihnen mit viel Bewegung Sachen beizubringen", berichtet Olga Venisti, die den Erstorientierungskurs in Lohr leitete.

Zudem habe sie sich im Vorfeld überlegt, was sie ansprechen könne. "Ich habe mich gefragt, ob ich eine Vorstellungsrunde machen darf, aber dann erzählen sie vielleicht über ihre Familien oder sind verheiratet, da waren wir alle sehr vorsichtig." Niemand wollte traumatische Erlebnisse wiederaufleben lassen. In den Kursen wurde dann aber überraschend viel gelacht. Ihre Kollegin Oksana Chaikivska, die selbst aus der Ukraine stammt, pflichtet ihr bei: "Im Unterricht haben wir nicht nur gelernt, wir haben auch gespielt, gesungen und Exkursionen gemacht." 

Von einer Kursteilnehmerin hat Kursleiterin Olga Venisti gebackene Herzen geschenkt bekommen.
Foto: Olga Venisti | Von einer Kursteilnehmerin hat Kursleiterin Olga Venisti gebackene Herzen geschenkt bekommen.

Sie besuchten gemeinsam die Stadtbibliothek in Gemünden, feierten Geburtstage, veranstalteten ein Picknick und schmissen am Ende eine Abschiedsparty. Die Kursleiterinnen können sich deshalb an viele schöne Momente erinnern. "Bei der Abschlussparty hat meine Arbeitskollegin lecker gekocht. Das war wirklich toll", erzählt Chaikivska.

Berührt habe sie auch ein Plakat mit Genesungswünschen, das die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bastelten, als sie krank war. "Ich habe zu Hause ein Herz, das hat eine Teilnehmerin gebacken", ergänzt Venisti, "das schmeckt wie Lebkuchen mit Zimt." Es sind Momente wie diese, die den Dozentinnen den Abschied von ihren Klassen schwer machten.

Vereinzelt kehrten ukrainische Flüchtlinge in ihre Heimat zurück

Gerade zu Beginn "hatten unsere Kursteilnehmer Angst, sie haben sich viele Sorgen gemacht, aber wir sind in den drei Monaten eine große Familie geworden", berichtet Chaikivska, deren Eltern mittlerweile wieder in die Ukraine zurückgekehrt sind. Natürlich mache sie sich deshalb Gedanken, doch sie betont: "Am Anfang hatte ich mehr Angst. Ich kann nicht erklären, warum sich das geändert hat, aber ich mache mir nicht mehr so viele Sorgen wie früher." Ihre Eltern sind derzeit im Westen der Ukraine, in der Nähe der polnischen Grenze, wo es "noch ruhig" ist. 

"Meine Eltern sagen, 'wir sind schon alt und haben in der Ukraine unser ganzes Leben verbracht. Wir wollen dort bleiben und sterben'."
Oksana Chaikivska, VHS-Dozentin

"Sie sagen, 'wir sind schon alt und haben in der Ukraine unser ganzes Leben verbracht. Wir wollen dort bleiben und sterben'." Vermisst hätten die 66-Jährigen ihren Garten, dort verbrachten sie vor dem Krieg viel Zeit. "Das macht ihnen Spaß, das ist ihr Hobby", erklärt die gebürtige Ukrainerin und fügt hinzu, "mein Papa wollte auch zu seinen Kaninchen zurück".  Vereinzelt beobachtete sie dies auch bei Kursteilnehmenden, gerade jüngere Ukrainerinnen und Ukrainer hätten Heimweh, und kehrten deshalb in ihre Heimat zurück.

Achlak Abdul Salam, seine Frau Viktoriia (links) und Anna Shvindt (rechts) hoffen sich in Deutschland ein neues Leben aufbauen zu können, deshalb möchten sie schnell die deutsche Sprache lernen.
Foto: Nicole Schmidt | Achlak Abdul Salam, seine Frau Viktoriia (links) und Anna Shvindt (rechts) hoffen sich in Deutschland ein neues Leben aufbauen zu können, deshalb möchten sie schnell die deutsche Sprache lernen.

Die Mehrheit wolle aber bleiben, darunter auch Anna Shvindt, die am 26. März mit ihrer Tochter mit dem Zug über Ungarn nach Deutschland geflohen ist und hier gerne einen Nagelsalon eröffnen würde. Ihr Ehemann und ihr 19-jähriger Sohn durften die Ukraine zu diesem Zeitpunkt nicht verlassen und konnten erst im Juni nachkommen. "Ich wollte mit beiden Kindern fliehen, aber mein Sohn durfte nicht über die Grenze. Wir haben es zweimal versucht, ohne Erfolg." Das habe sie mitgenommen, deshalb wollte sie ohne ihre Tochter wieder zurück, "aber die Männer haben gesagt, 'bleib in Deutschland'." 

Zuhören und Hoffnung machen

Auf die Frage, wie sie mit solchen Schicksalen umgehen, entgegnet Dozentin Olga Venisti, "natürlich wissen wir nie, welche Gedanken sie haben. Im Kurs haben ab und an Menschen geweint oder kamen traurig zu mir und meinten, 'heute will ich nicht viel mitmachen'. Letztendlich war die Stimmung aber angenehm und schön." In solchen Momenten sei es wichtig, ergänzt Duckstein, dass das Lehrpersonal für die Flüchtlinge da ist und ihnen zuhört.

"Ich wollte mit beiden Kindern fliehen, aber mein Sohn durfte nicht über die Grenze. Wir haben es zweimal versucht, ohne Erfolg."
Anna Shvindt, über die Flucht aus Kiew nach Deutschland

"Was willst du ihnen auch sagen?", fragt Venisti. "Es wird alles gut, der Krieg geht irgendwann zu Ende? Aber wird dann tatsächlich alles gut? Ich denke, es wird eine Weile dauern, bis alles gut wird." Trotzdem versuche sie, die Geflüchteten zu trösten und ihnen Hoffnung zu machen. Sie selbst frage dann die betroffene Person, ob sie im Unterricht bleiben, draußen spazieren gehen oder mit einer anderen Person aus der Klasse sprechen möchte. Natürlich nehme sie Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer auch mal in den Arm.

 
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