Lohr vor 100 Jahren: Im Garten auf der Rückseite des Frauenklosters plätschert ein Springbrunnen, daneben liegen das Gebäude der Mädchenschule und zwei kleine Nebengebäude. Auf der benachbarten städtischen Bleichwiese knattern Tücher, wenn Frauen die feuchte Wäsche ausschütteln und zum Trocknen auslegen. Und gegenüber, auf der anderen Seite der Haaggasse, wird ein Türmchen gebaut, in dem es bald summen und brummen wird. So klein und unscheinbar es auch sein mag: Für die Stadt ist es wichtig. Denn dort sollen 9000 Volt Hochspannung zu 220 Volt Niederspannung transformiert werden - Voraussetzung dafür, dass im Jahr darauf die ganze Stadt mit Strom versorgt werden kann.
Das Brummen rührte her vom Transformator: Dessen Kern bestand aus aneinandergelegten Metallplatten, die vibrierten. Ein Herzstück aus einem Guss wäre zu heiß geworden, erklärt Lothar Vormwald. Der 65-jährige Sendelbacher ist gelernter Starkstromtechniker und heute so etwas wie der Hausherr des Lohrer Trafo-Türmchens, das die Stadt 2001 abreißen wollte, was das Landesamt für Denkmalpflege allerdings zu verhindert wusste.
Schon als Lehrling hatte Vormwald das (ohne Wetterfahne) rund elf Meter hohe Türmchen fasziniert. Vor nunmehr 15 Jahren hat er dort einen Bruchteil seiner 6000 Stücke umfassenden Isolatoren-Sammlung untergebracht - im mit jeweils sechs Quadratmetern auf zwei Ebenen womöglich kleinsten Museum des Landes.
So begrüßt Vormwald nunmehr jährlich rund 400 Besucher in dem Sandsteinbau, der so etwas wie einen Meilenstein in der Geschichte der Stadtentwicklung darstellt. Wobei die Stadt Lohr damals der Zeit in Sachen Elektrifizierung schon etwas hinterherhinkte. Denn schon ein halbes Jahrhundert war vergangen, seit Werner Siemens, einer der Wegbereiter der Starkstromtechnik, das dynamoelektrische Prinzip wissenschaftlich begründete, auf dessen Grundlage 1866 der erste elektrische Generator entwickelt wurde. Siemens war der erste gewesen, der die Tragweite dieser Entdeckung erkannte, die letztlich zur Elektrifizierung führte.
Als das Türmchen in der Haaggasse gebaut wurde, gab es Strom in Lohr nur punktuell, etwa seit 1890 bei Rexroth, ab 1908 auch in der Heil- und Pflegeanstalt. Im Maasebau, 1903/4 erbaut von dem Zementwarenfabrikant Victor Maase, gab es in den großzügig angelegten Mietwohnungen bereits Einrichtungen für Gas und für elektrisches Licht. Die Spessarter Hohlglaswerke GmbH, die heute zu Gerresheimer gehörende Glashütte, hatte seit 1906 einen wasserkraftbetriebenen Generator, der Strom für das elektrische Licht in der gesamten Fabrikanlage produzierte.
Am 12. Februar 1919 kauften die Hohlglaswerke dann den oberen Eisenhammer, den die Firma Rexroth 19 Jahre davor stillgelegt hatte. Glashütten-Chef Gustav Woehrnitz ließ die vorhandenen Gebäude renovieren, machte daraus Werkswohnungen für seine Arbeiter und ließ in der Hammermühle zwei Turbinen und Generatoren einbauen. Diese erzeugten allerdings weit mehr Strom als für den Eigenbedarf der Hütte nötig war: Das Unternehmen belieferte die Kreis AG (später Überlandwerke Unterfranken), die die Stadt ab Dezember mit Strom versorgte. Eine weitere Stromleitung vom oberen Eisenhammer wurde nach Partenstein gebaut.
- Mehr zur Geschichte der Glashütte erfahren Sie in dem Artikel "Lohr profitierte von Glashüttenschließung"
Lohr war vergleichsweise spät dran: Die Kernstadt von Marktheidenfeld war bereits 1902ans Stromnetz angeschlossen worden. In Gemünden überzeugte der damalige Bürgermeister Otto Christin einen Privatunternehmer, ein Elektrizitätswerk zu bauen. Die ersten Leuchten dort erstrahlten 1908. Karlstadt hatte in jener Zeit bereits Strom von der Portland-Cementfabrik bezogen, ist dann aber kurioserweise einen anderen Weg gegangen: 1906 hatten sich die Stadtväter vom elektrischen Licht verabschiedet und den Stromliefervertrag nicht mehr verlängert, stattdessen auf Gas gesetzt.
Der Stadt Lohr kam das offenbar gut zupass: Denn das Lohrer Gaswerk von 1867 war wohl so marode, dass 1921 ein Neubau fällig gewesen wäre. So nutzte die Stadt also einerseits den Strom des Eisenhammers und andererseits ein Angebot der Thüringer Gasgesellschaft, nämlich das Gas aus Karlstadt zu beziehen. Dafür wurden dann eine Hochdruck-Fernleitung gebaut – möglicherweise die erste zwischen zwei deutschen Städten - und in Sendelbach ein Gasbehälter errichtet.
Der Trafoturm kommt mit einer Grundfläche von 3x3 Meter (Außenmaß) aus. Im Erdgeschoss - lichte Höhe 2,90 Meter, stand der brummende Transformator. Unterm Dach wurde die Starkstrom-Hochleitung eingeführt, dort befanden sich ansonsten nur ein Schalter und die Sicherung.
Im gleichen Jahr wie dieser wurde baugleich auch ein zweiter errichtet: Er stand am früheren Zimmerplatz, wo in den 1930er Jahren die Parteizentrale der NSDAP gebaut wurde. Von 1990 bis 2017 wurde dieses Gebäude dann von der Rettungswache des Roten Kreuzes genutzt. Derzeit wird es zu einer Zahnarztpraxis umgebaut.
Von manchem vielleicht mitleidig belächelt, genießt das gerettete Türmchen in der Haaggasse in gewissen Kreisen durchaus Anerkennung. So ist es auch auf der Liste der "schönsten Trafohäuschen Europas"zu finden, die Freunde technischer Einrichtungen zusammengetragen haben. Vormwald selbst wiederum würde sich freuen, wenn das Turmjubiläum und das 15-jährige Bestehen seines Museums im Laufe dieses Jahres mit einer kleinen Feier gewürdigt würde.