"Mund auf!"
"Noch weiter!"
"Und dann ein langes Aaaah sagen, wie beim Arzt."
"Gut so. Wenn man ein Würge-Gefühl spürt, ist es richtig."
Unangenehm, aber kurz: Knapp dreißig Sekunden dauert der Corona-Test, bei dem, in weiße Ganzkörper-Schutzanzüge gehüllt, Mitarbeiter der Corona-Teststation in Miltenberg dem 18-jährigen Hannes Müller (Name von der Redaktion geändert) zwecks Abstrich ein Teststäbchen in den Rachen einführen. Während Hannes danach nach Hause fährt, wo er hofft und bangt, gelangt seine Probe in ein Labor. Nach Angaben von Corona-Teststationen sollte das Testergebnis spätestens nach zwei Tagen vorliegen.
In Hannes' Fall ploppt die E-Mail vom Testlabor direkt am Folgetag auf. "Findings Report" steht da und "Result: Yes". Wenn der Getestete Glück hat, sieht er das Wort: "Negative". Aber bei Hannes steht: "Positive". Für den 18-jährigen Schüler bedeutet das erstens eine zweiwöchige Quarantäne, zweitens auch Angst. Für den zuständigen Contact Tracer bedeutet ein positives Testergebnis: Arbeit.
Ein positives Ergebnis: Für den Contact Tracer fängt die Arbeit jetzt an
Die Nachverfolgung von Kontakten von Erkrankten - etwa Tuberkulose-Kranken – hat auch vor Corona zu den Aufgaben der meist bei den Landratsämtern angesiedelten Gesundheitsämter gehört. Seit Corona hat die Kontaktverfolgung aber eine völlig neue Dimension bekommen. Im Gesundheitsamt Miltenberg etwa arbeiteten vor dem März 2020 zwei Ärzte auf eineinhalb Stellen, außerdem drei Hygienekontrolleure. Mittlerweile ist nach Aussage von Landrat Jens Marco Scherf (Grüne) das Personal auf 3,8 Arztstellen und 15 Contact-Tracing-Stellen aufgestockt. Demnächst soll es für Miltenberg fünf Vollzeitstellen mehr geben.
"Immer noch zu wenig! Angesichts der aktuellen Inzidenzen von weit über 50 reicht das nicht!", sagt Landrat Scherf. Er berichtet, dass die ersten Contact Tracer gegen 7 oder halb 8 Uhr zur Arbeit kämen; die letzten gegen 22 Uhr das Haus verließen. Er berichtet, dass die Leute "jenseits aller Belastungsgrenzen" arbeiteten. Er sagt, dass einige der Tracer seit März durchgearbeitet hätten, vielleicht mit einer kleinen Atempause im fallzahlarmen August. Dass das ganze Team zum Umfallen erschöpft sei.
"Wir haben Leute, die vernachlässigen sich, ihre Familie, haben vergessen, dass es so etwas wie Freizeit gibt. Die arbeiten nur noch", so Scherf. Die Aufgabe der Tracer ist es, so schnell wie möglich die Kontaktpersonen positiv auf Corona getesteter Menschen zu finden, um so die unkontrollierte Verbreitung des Virus zu stoppen.
"Guten Tag, Anja Schmidt (Name geändert) vom Gesundheitsamt Miltenberg hier. Herr Müller, Sie sind ja positiv und wir müssen jetzt gemeinsam herausfinden, wo Sie sich angesteckt haben könnten und wen Sie infiziert haben könnten."
"Oje. Meine Familie. Meine ganze Schulklasse. Vielleicht die Jungs von der Band…“
Wenn, wie im Beispielfall Hannes, eine Person mit sehr vielen Kontakten positiv getestet wurde, kann das Telefongespräch, das die Tracerin führt, durchaus zwei Stunden dauern. Denn Anja Schmidt muss, den Vorgaben des Robert Koch-Instituts (RKI) folgend, einerseits die "Rückwärts-Ermittlung" durchführen, also in diesem Fall Hannes' Infektionsquelle suchen. Könnte ja sein, dass diese Person noch nicht identifiziert ist und gerade weitere Menschen ansteckt. Außerdem obliegt der Tracerin die "Vorwärts-Ermittlung", also die Suche nach Menschen, die Hannes schon angesteckt haben könnte.
Telefongespräche mit Betroffenen dauern im Durchschnitt eine Stunde
Dabei muss die Tracerin beurteilen, wie wahrscheinlich eine Ansteckung gewesen sein könnte – und das hängt wiederum davon ab, wie das Infektionsumfeld ausgesehen hat: Wie war die Personendichte wie die Räumlichkeit, wie waren die Lüftungsverhältnisse?
Auch durch betriebene Aktivitäten wird das Risiko beeinflusst: Eine "schreiende oder singende Person emittiert pro Sekunde in etwa so viele Partikel wie 30 sprechende Personen", heißt es auf der Website des Robert Koch-Instituts. Im Durchschnitt telefoniert die Tracerin mit einem Infizierten etwa eine Stunde. "Wenn jemand sehr wenige Kontakte hat, ist man in 45 Minuten fertig; aber das ist die Ausnahme", sagt Landrat Scherf.
Im Beispielfall von Hannes muss die Tracerin, die idealerweise über medizinische Kenntnisse verfügt, herausfinden, ob Hannes in dem Zeitraum, in dem er als ansteckend galt, tatsächlich nicht nur mit seinen Mitschülern, sondern auch mit den Bandkollegen relevanten Kontakt hatte. Sollte das der Fall sein, muss die Schule verständigt werden und Hannes' gesamte Klasse in Quarantäne und ins Homeschooling geschickt werden. Die vier jungen Musiker, mit denen Hannes Eminem-Songs nachspielt, müssen kontaktiert werden. Und Hannes alter Nachbarn auch; der hat Hannes am Sonntag nämlich vor der Kirche abgepasst und mit ihm geredet.
"Manchmal bräuchte man drei Leute, um die Kontaktpersonen eines einzigen Infizierten abzutelefonieren", sagt Johannes Hardenacke, Sprecher der Regierung von Unterfranken. Fälle, in denen wegen eines Corona-Infizierten ganze Einrichtungen heruntergefahren werden müssen, kommen immer häufiger vor. "Aktuell haben wir hier zehn Schulklassen in Quarantäne. Eigentlich kommt jeden Tag eine neue Schulklasse dazu", berichtet Landrat Jens Marco Scherf. Derzeit (Stand: 23. Oktober) seien im Kreis Miltenberg außerdem zwei oder drei Kitas in Quarantäne und drei Senioreneinrichtungen.
Der Tracer darf im Gespräch mit Kontaktpersonen den Namen des Infizierten nicht nennen
Computer hochfahren, Headset aufsetzen, zum Telefonhörer greifen: Alle relevanten Kontakte eines Neuinfizierten – wie Hannes – aufzunehmen, ist nur der erste Arbeitsschritt für die Tracer. Der zweite Schritt besteht darin, die Kontaktpersonen aufzuspüren, sie zum Test zu schicken. Manchmal, berichtet Landrat Scherf, bedürfe es schon größerer Anstrengungen, überhaupt die Kontaktpersonen zu erreichen. "Meist geht es über Mail oder Telefon; aber wir haben auch schon Briefe geschickt oder an der Haustür geklingelt", erzählt er.
Eines der vielen Probleme beim Tracing besteht laut Gesundheitsamt Miltenberg darin, dass die Tracer aus Datenschutzgründen den Namen des infizierten Kontakts nicht nennen dürfen. Tracerin Schmidt muss also manchmal um den heißen Brei herumreden. Wie im Fall von Hannes' altem Nachbarn. "Können Sie sich vorstellen, warum ich Sie anrufe?", fragt sie also den alten Herrn, nachdem sie sich mit Amt und Namen vorgestellt hat.
"Nein, kann ich nicht. Wer, sagen Sie, sind Sie? Gesundheitsamt? Um Gottes willen!"
"Keine Angst, es sind erstmal nur Fragen. Wir haben Sie als Kontaktperson auf der Liste eines Infizierten. Vielleicht erinnern Sie sich an den Sonntag, an eine Begegnung vor der Kirche?"
"Sonntag. Ja, genau weiß ich das nicht mehr. Wen soll ich da getroffen haben?"
So oder so ähnlich kann man sich den Beginn mancher Telefongespräche vorstellen, die der Contact Tracer jeden Tag führt. Die meisten Angerufenen, berichtet Landrat Scherf, blieben gelassen und ruhig. "Aber manche reagieren aggressiv. Und manche haben einfach Angst. Viel Angst."
Der alte Nachbar zum Beispiel hat fürchterliche Angst. Als er endlich verstanden hat, um welche Begegnung es sich handelt, ohne dass der Name von Hannes explizit genannt wurde, gibt der alte Herr an, mit dem Schüler übers Band-Leben gesprochen zu haben. "Weil ich doch auch Musik gemacht habe, als ich jung war."
Der alte Mann wird vom Amt einen Test-Bescheid und einen Quarantäne-Bescheid bekommen; beide Beteiligten hatten beim Gespräch keine Maske auf und sprachen wohl länger als 15 Minuten miteinander. Sollte der Senior positiv sein und ebenfalls in Quarantäne müssen, werden gerade ihn aufgrund seines fragilen Gesundheitszustand Mitarbeiter des Gesundheitsamtes Miltenberg täglich anrufen. Manche Getesteten litten "unwahrscheinlich" unter der zweiwöchigen Quarantäne, sagt Landrat Scherf, die telefonische Betreuung durchs Gesundheitsamt sei eine wichtige, manchmal die einzige Verbindung zur Außenwelt.
An der Grenze der Belastbarkeit: Mehr Anrufe können die Mitarbeiter kaum stemmen
Eigentlich aber könne sich das Gesundheitsamt gerade diese Telefonbetreuung kaum mehr leisten. Wegen der Zeit. Wegen mangelnder Kapazitäten. Denn aktuell steige im Kreis Miltenberg, wie in weiten Teilen Unterfrankens, die Zahl der täglichen Neufinfektionen dermaßen schnell an, dass man mit der Kontaktverfolgung kaum nachkomme. "Wenn die Bürger doch einfach die Zahl ihrer Kontakte reduzieren könnten", bittet der spürbar erschöpfte Landrat. Das sei die sicherste Methode, das Ansteigen der Corona-Fallzahlen zu verlangsamen. "Und das Maskentragen, natürlich!"
Tatsächlich klingt Scherf, als habe er, wie die Miltenberger Contact Tracer, seit Monaten durchgearbeitet – und das hat er wohl auch. "Wir sind gerade an einem sehr kritischen Punkt", sagt der Landrat. "Wenn die Neuinfektionen weiter zunehmen, können wir einfach nicht mehr alle Kontakte verfolgen. Das schaffen wir einfach nicht. Das ist einfach nicht möglich." Er holt Luft: "Aber dann vermehrt sich das Virus unkontrolliert."
Heute wissen wir, dass die södersche CSU Verbotspolitik, die in vielen Teilen nicht mehr nachzuvollziehen ist, wenig bis nichts gebracht hat. Bis auf wenige kleine Flecken ist Bayern rot.