Der Wahlsieg von Jens Marco Scherf im März 2014 war eine Sensation. 28 Jahre lang war CSU-Urgestein Roland Schwing Landrat in Miltenberg. Dass ihm Michael Berninger im Amt folgt, galt als ausgemacht. Der CSU-Kandidat hatte im ersten Wahlgang mit 47,5 zu 31,2 Prozent auch deutlich vorn gelegen. Doch die Stichwahl gewann Scherf - mit gerade mal 40 Stimmen Vorsprung. Erstmals überhaupt in Deutschland siegten Politiker der Grünen bei Landratswahlen: Wolfgang Rzehak im oberbayerischen Miesbach und Jens Marco Scherf in Miltenberg. Seit fünf Jahren sitzt der 45-jährige Hauptschullehrer mittlerweile auf dem Chefsessel im Landratsamt. Und 2020 tritt er wieder an.
Wir sind einen Tag unterwegs mit Jens Marco Scherf. Der Landrat bittet, im Dienstwagen Platz zu nehmen. Ein BMW i3, ein Elektromobil: Das setzt schon mal ein grünes Zeichen. Zu Beginn seiner Amtszeit sei er noch Audi A8 gefahren, erzählt Scherf. Probefahrten von Mitarbeitern der Bauabteilung hätten dann ergeben, das Umsteigen ins E-Mobil sei kein Problem. "Bis zu 230 Kilometer Reichweite, da komme ich selbst im Flächenlandkreis Miltenberg überall gut hin." Aber auch für Fahrten zum Regierungspräsidenten in Würzburg nutze er den kleinen BMW.
Keine zwei Minuten auf der Straße, präsentiert sich der Landrat so wie man es von einem guten Kommunalpolitiker erwarten darf: als Werber für seine Region. "Wissen Sie, dass der Landkreis Miltenberg der zweitgrößte Chemie-Standort in Bayern ist?" Tatsächlich ist das so, der Kreis gilt zudem als "industrieller Kern" der Metropolregion Frankfurt/Rhein-Main: 43 000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze bei 128 000 Einwohnern. Hemmelrath Lacke in Klingenberg ("ein Weltmarktführer"), der Kontaktlinsen-Hersteller Alcon in Großwallstadt oder die Glanzstoffwerke in Obernburg sind nur drei Beispiele: "Keine Namen, die auf den ersten Blick für Grün sprechen", sagt Scherf. Doch fühle er sich längst als anerkannter Gesprächspartner der Unternehmen. "Wir wissen, was wir aneinander haben."
Der Landräte trägt Maßanzug made im Odenwald
Viele Firmen seien für ökologische Fragen offen. "Da wird ideologiefrei diskutiert." Josera, Tierfutter-Produzent in Kleinheubach, habe einen eigenen Güterbahnhof gebaut, um Transporte weg von der Straße zu verlagern, freut sich der Landrat. Mit Fripa in Miltenberg habe man eine "alte Idee" umgesetzt: Seit 2017 heizt der Kreis sein Schulzentrum für 2000 Schüler mit der Abwärme der energieintensiven Papierfabrik. In spätestens zwölf Jahren hätten sich die Mehrkosten für die Anlage amortisiert. Scherf: "Da profitieren Ökonomie und Ökologie gleichermaßen."
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Kleinheubach, Erlenbach, Obernburg: Der Weg zum Termin in Leidersbach zieht sich. Der Landrat schwärmt weiter von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Region. Er zeigt auf seinen grauen Anzug: "Maßanfertigung aus Schneeberg". Wirklich? Doch, die hierzulande in den vergangenen Jahrzehnten arg gebeutelte Textilindustrie hat sich im Landkreis Miltenberg Standorte bewahrt. Auch sein Hemd sei aus der Region, fährt Scherf fort: "Made in Großostheim".
In Leidersbach warten Vertreter einer Bürgerinitiative. Sie haben 500 Unterschriften gesammelt, um einen sicheren Übergang über die Kreisstraße zu erreichen, die das Dorf kilometerlang durchzieht. "Damit die Kinder sicher zum Schulbus kommen." Am liebsten hätten Eltern und Großeltern einen Zebrastreifen mit Ampel. Beim Gespräch mit Behördenvertretern wird schnell klar, dass einer schnellen Lösung viele gesetzliche Regelungen im Wege stehen. Scherf, selbst Vater von vier Kindern im Alter zwischen acht und 23 Jahren, hört zu, fragt nach, vermittelt. Am Ende einigen sich Landrat und Straßenbauamt auf einen Testlauf mit provisorischer Ampel. Eine Verlegung der Schulbushaltestelle soll überprüft werden. Auch wenn sie nur einen Teilerfolg errungen haben, die Bürger sind zufrieden: "Gut, dass der Landrat selbst gekommen ist und uns angehört hat. Endlich geht hier was voran."
Mitarbeiter wollten wissen: Wie tickt der neue Landrat?
"Die ersten zwei Jahre im Amt habe ich intensiv gelernt", sagt Scherf. Es sei darum gegangen, sich Fachwissen zu erarbeiten, die Abläufe innerhalb der Verwaltung zu verstehen und die eigenen Gestaltungsspielräume auszuloten. "Vor allem galt es, Vertrauen zu den Mitarbeitern aufzubauen." Vorbehalte wegen seiner Parteizugehörigkeit habe er nicht gespürt.
Die Neugierde indes nach fast drei Jahrzehnten mit dem alten Chef war groß. "Man wollte wissen: Wie tickt der neue Landrat, was macht er anders?" Als Fußballer, sagt Scherf, wisse er, dass das Zusammenspiel in der Mannschaft passen muss, wenn man gewinnen möchte. "Jeder Spieler braucht seine Freiheiten. Am Ende aber muss einer den Kopf hinhalten." Zugute kommt dem 45-Jährigen, dass er schon als Rektor der Mittelschule in Faulbach Führungsqualitäten beweisen musste. Politisch war er auch kein Greenhorn mehr: Seit 2002 saß der Grünen-Politiker im Kreistag, ab 2008 war er Gemeinderat und dritter Bürgermeister in Wörth am Main.
Die Grünen wissen, was sie an Jens Marco Scherf haben. Als CSU-Chef Markus Söder die Partei nach der Landtagswahl zu Sondierungsgesprächen lud, gehörte der Miltenberger Landrat der Verhandlungsdelegation an. "Ich war die kommunale Stimme." Die Frage, ob er Ambitionen habe, selbst in die Landes- oder Bundespolitik zu wechseln, wehrt er ab. "Ich gehöre nach Miltenberg."
Kurzer Abstecher auf die Höhe Richtung Dornau. Der Landrat will zeigen, dass der Kreis mehr zu bieten hat als das dicht bebaute Maintal. "Wir haben wirtschaftliche Ballung und traumhafte Natur. Wir haben den Spessart, wir haben den Odenwald. 58 Prozent der Kreis-Fläche sind Wald", betont er. Und schiebt noch eine Info nach: "Der Waldanteil ist genauso groß wie im Landkreis Freyung-Grafenau im Bayerischen Wald."
Bislang gibt es keinen Gegenkandidaten
Jens Marco Scherf wird im Kreistag von einer knappen Mehrheit von Freien Wählern, SPD, Grünen, FDP und ÖDP getragen. Mehr und mehr stimmten aber auch die Vertreter der Neuen Mitte und weite Teile der CSU "guten Empfehlungen" der Verwaltung zu, berichtet Landrat-Stellvertreter Thomas Zöller von den Freien Wählern. Scherf zeige sich "immer sehr kompromissbereit", regelmäßig informiere er die Fraktionen. Sein Verhältnis zum Landrat sei "freundschaftlich" geworden, so Zöller. "Wir telefonieren oder simsen geradezu täglich." Folgerichtig verzichten die Freien Wähler darauf, für die Wahl 2020 einen eigenen Kandidaten zu nominieren. Er hoffe, dass Scherf wiedergewählt werde, sagt Zöller: "Und ich habe dafür auch ein sehr gutes Gefühl."
Noch ist überhaupt kein Gegenkandidat in Sicht. In der CSU heißt es zwar, "selbstverständlich" habe man den Anspruch, einen eigenen Bewerber ins Rennen zu schicken. Mit einem Namen sei aber "frühestens im Oktober" zu rechnen, sagt Michael Schwing, frisch gewählter Kreisvorsitzender und Sohn von Scherf-Vorgänger Roland Schwing. Ob er selbst antritt, lässt der 40-Jährige auf Nachfrage offen. Derweil betont Jürgen Reinhard, der CSU-Fraktionschef im Kreistag, "große Konfrontationen" mit dem Grünen-Landrat habe es in den fünf Jahren nicht gegeben. In guter Erinnerung sei ihm die Flüchtlingspolitik geblieben. "Da sind wir gemeinsam marschiert."
Hitzige Debatte um Krötentunnel
Scherf selbst erinnert sich an eine hitzige Debatte mit der Opposition: Da setzte er mit "seiner" Mehrheit beim Neubau einer Kreisstraße im idyllischen Ohrnbachtal ein Amphibien-Leitsystem mit gleich sieben Krötentunneln durch. Kostenpunkt: 140 000 Euro. Das wollten nicht alle im Kreistag einsehen. "Dem Landrat sind Kröten wichtiger als Kinder", hieß es angesichts vermeintlicher Sparpolitik im Sozialen. Scherf entgegnete: "Entweder wir machen Artenschutz richtig oder gar nicht." Er gewann knapp. Das war vor drei Jahren. Mittlerweile profitiert er davon, dass viele grüne Themen mehr und mehr Mainstream sind. "Dass wir bei Sanierungen öffentlicher Gebäude nicht unbedingt die billigste, sondern die nachhaltigste Lösung anstreben", dieses Scherf-Credo würde auch ein CSU-Kollege unterschreiben. "Landräte müssen zu allererst pragmatische Sachpolitiker sein."
Mittlerweile ist der 45-Jährige in Mömlingen angekommen. Dort treffen sich gerade Fair-Trade-Aktivisten aus ganz Unterfranken. Eine Ansammlung grüner Kernwählerschaft möchte man meinen. Doch als Erste begrüßt CSU-Bezirksrätin Rosa Behon aus Ochsenfurt (Lkr. Würzburg) den Landrat. Hat jetzt sie oder hat er das falsche Parteibuch? Behon und Scherf lachen unisono. "Fair Trade kennt kein Parteibuch."
Früh um sieben liest der Landrat seinem Sohn vor
"Ich bin hier groß geworden, ich möchte hier gestalten", antwortet Scherf später in seinem Dienstzimmer auf die Frage, was ihn antreibt angesichts von 80-Stunden-Wochen im Amt. Den BMW hat er zuvor in der Tiefgarage wieder an die Steckdose ("alles Ökostrom") gehängt. Unweit seines Schreibtisches hängen neben einem Bild des Bundespräsidenten auch zwei christliche Kreuze. "Eine Demutsbekundung", erläutert der Landrat, "gerade wir Politiker sollten uns immer bewusst sein, dass Menschen nicht allmächtig sind, dass wir eine Verantwortung vor einer höheren Instanz haben".
Kraft tanke er bei der Familie, sagt Scherf, wohl wissend, dass die Ansprüche der Öffentlichkeit an den Landrat groß sind. Ein regelmäßiger freier Sonntag für Frau und Kinder, das sei mal ein Ziel gewesen. Allzu oft habe er es über den Haufen geworfen, räumt er ein. Bürger äußerten zwar Verständnis für private Bedürfnisse, manch einer sei dann aber verärgert, wenn er am Sonntag nicht innerhalb von drei Stunden Antwort auf seine E-Mail erhält. Die halbe Stunde Vorlesen für den achtjährigen Sohn hat der Landrat mittlerweile auf den Morgen verlegt: "Früh um sieben, vor der Schule."