Ein Jahr ist es her, dass die russische Armee die Ukraine angegriffen hat. Viele Menschen, vor allem Frauen und Kinder, sind seitdem aus ihrer Heimat geflüchtet. Alleine nach Deutschland ist ungefähr eine Million gekommen. Wie geht es den Ukrainerinnen und Ukrainern, die in Main-Spessart Zuflucht gefunden haben? Wie fühlen sie sich und wie blicken sie auf die Zukunft? Wir haben mit vier von ihnen gesprochen.
1. Larysa Andrus aus Kiew lebt mit ihrer Mutter in Gemünden
"Jeder hat damit gerechnet, dass der Krieg kommt, aber gleichzeitig gehofft, dass es doch nicht so sein wird." Als Larysa Andrus die erste Bombe einschlagen sah, ist sie aus Kiew losgezogen, um ihre Mutter aus dem Osten des Landes in Sicherheit zu bringen. Für die 88-Jährige sei es zu anstrengend gewesen, bei jedem Fliegeralarm schnell in den Keller zu flüchten.
Als Andrus versuchte, aus Kiew herauszukommen, hatte sie am überfüllten Bahnhof zunächst keine Chance. Durch einen glücklichen Zufall schaffte die 51-Jährige es jedoch mit ihrer Mutter in einen Bus, der Richtung Österreich fuhr. Als Gepäck hatten sie nur ihren Kater und einen kleinen Koffer mit Medikamenten dabei. Nach mehreren Tagen auf der Flucht kamen sie Mitte März in Rieneck an und dort bei einer bekannten Familie unter. Seit einigen Monaten lebt Larysa Andrus mit ihrer Mutter in einer kleinen Wohnung in Gemünden. Ihre Cousine und ihr Bruder sind noch immer in der Ukraine, Andrus macht sich große Sorgen um ihre Familie.
Sie ist noch immer überwältigt angesichts der Hilfe, die sie in Deutschland erfahren hat. "Decken, Kleidung, Zahnpasta, wir haben alles bekommen", sagt sie. In Gemünden fühlt sie sich sehr wohl. "Ich liebe diesen Ort", sagt sie. Besonders gefallen ihr die drei Flüsse, an denen sie Kraft tanken kann. Die Ruhe tut ihr, die eigentlich den Trubel der Großstadt gewohnt ist, gut.
Jeden Tag besucht sie einen Sprachkurs, am Nachmittag hilft sie häufig anderen Ukrainerinnen, die noch nicht so gut Deutsch können, bei Behördengängen. "Wenn mein Deutsch ausreicht, möchte ich gerne hier arbeiten", sagt Andrus. Als selbstständige Grafikdesignerin hat sie immer viel und gerne gearbeitet.
Kurz nach ihrer Flucht konnte Andrus nicht einmal sagen, was in drei Tagen sein wird. Inzwischen glaubt sie, dass sich die Lage in der Ukraine nicht vor einem Jahr verbessern wird. "Niemand dachte, dass es so lange dauert." Einer Sache ist sie sich aber sicher: "Putin wird nicht an der Grenze Halt machen. Deshalb ist es nicht nur ein Krieg der Ukraine, sondern der ganzen Welt."
2. Oleksii Bakhtin aus Mykolaiv ist mit seiner Familie in Erlenbach untergekommen
"Wir sind noch am Tag des Angriffs, am 24. Februar, geflohen, weil wir uns bedroht fühlten", sagt Oleksii Bakhtin. Mit seiner Frau und den beiden Söhnen ist der 40-Jährige von der Hafenstadt Mykolaiv im Süden der Ukraine etwa 100 Kilometer zur Schwiegermutter gereist. Einen Monat später verließen sie das Land.
Das sei notwendig gewesen, weil die Familie für den 14-jährigen Sohn, der an einem Nierenleiden erkrankt ist, in der Ukraine seine dringend benötigten Medikamente nicht mehr bekam. Deshalb erteilte das Land für die gesamte Familie, auch den Vater, eine Ausreisegenehmigung. Von Schweinfurt aus unterstützte Bakhtins Cousine die Flucht, half dabei, Unterlagen auszufüllen und Kontakte herzustellen.
Einige Wochen verbrachte die Familie in Sammelunterkünften, unter anderem im ehemaligen Marktheidenfelder Krankenhaus. "Mit der Unterstützung von Ehrenamtlichen des Helferkreises haben wir ein Haus in Erlenbach gefunden", erzählt Bakhtin. Die neuen Freunde haben sich auch um vieles andere gekümmert, zum Beispiel Möbel oder einen Platz im Kindergarten für den jüngeren Sohn.
Auch Bakhtins Eltern seien nach Deutschland geflohen, berichtet er. "Doch es fiel ihnen schwer, die Sprache zu lernen. Und sie sind es gewohnt, alleine zu leben, anstatt eng mit anderen zusammen, wie in der Notunterkunft." Deshalb seien sie zurück in ihr Heimatland gegangen. Das war nicht einfach für Sohn Oleksii Bakhtin. Aber er könne die Entscheidung nachvollziehen.
Der Familienvater unterrichtet seit September in der Staatlichen Realschule an Marktheidenfeld ukrainische Schülerinnen und Schüler in Mathematik, Deutsch und Englisch. "Lehrer werden in der Ukraine sehr schlecht bezahlt", sagt er. Deshalb habe er dort zuletzt nicht in diesem Beruf gearbeitet, sondern als Verkaufsmanager. Wie es nach diesem Schuljahr weitergeht, weiß er allerdings nicht. Er und seine Familie können sich vorstellen, in Deutschland zu bleiben, sagt er. "Doch wer weiß, was die Zukunft bringt."
3. Oleg Korobkin und Alla Korobkina leben mit ihrem Sohn Daniil in Marktheidenfeld
Als Alla Korobkina ihre Koffer packte, um mit ihrem Sohn Daniil aus Kiew zu fliehen, dachte sie, nach ein oder zwei Monaten würde sie wieder in ihre Heimat zurückkehren. Dass der Krieg nun schon ein Jahr dauert, ist für sie nur schwer zu begreifen. Die 37-Jährige lebt seit März mit ihrem Sohn bei einer Familie in Marktheidenfeld, doch bald müssen sie aus der Wohnung raus. "Es ist sehr schwierig, eine neue Wohnung zu finden", sagt sie. Denn fast alle Angebote würden vom Jobcenter als zu teuer abgelehnt werden.
Vor einem Monat ist auch Allas Mann Oleg Korobkin aus der Ukraine nach Marktheidenfeld gekommen. Er ist mit seinen Eltern geflohen, seine Mutter ist krank, deshalb durfte er ausreisen. Die drei wohnen in der Notunterkunft des Landkreises im ehemaligen Krankenhaus in Marktheidenfeld. Er ist sehr dankbar für die Hilfe in Deutschland, doch er würde gerne mit seiner Frau und seinem Sohn in eine gemeinsame Wohnung ziehen. Auch arbeiten würde er in Deutschland gerne, in Kiew war er im Bereich Internet-Marketing tätig. Doch dazu fehlen ihm noch die nötigen Papiere.
Eigentlich wollte Alla Korobkina die Ukraine gar nicht verlassen, doch ihr Mann drängte sie dazu, damit ihr Sohn in Sicherheit leben und in den Kindergarten gehen kann. Daniil hat in Marktheidenfeld im Kindergarten bereits Freunde gefunden und lernt schnell Deutsch. Seine Eltern vermeiden es, mit dem Fünfjährigen über den Krieg in der Heimat zu sprechen. "Er versteht, was dort passiert, aber wir sprechen nicht so viel mit ihm darüber."
Alla und Oleg erzählen, dass sie nicht glauben, dass der Krieg bald vorbei ist. Dabei haben sie Tränen in den Augen. Sie haben noch viel Kontakt zu Freunden und Angehörigen, die in der Ukraine geblieben sind. "Unsere Freunde sagen uns, dass man an sich die Gefahren dort schnell gewöhnt hat. Aber alle warten auf das Ende des Krieges."