Der 29. April 2022 ist kein guter Tag für Kitzingen. Als Punkt 18 Uhr die Türen des Norma-Markts im Schwalbenhof schließen, sind die Trauerreden und der Abgesang längst gehalten. Viele haben gewarnt, geklagt, getrauert, diese Redaktion schickte noch einmal eine Reporterin los, um die Stimmung einzufangen. Alles ist wie immer an diesem Tag – und nichts ist, wie es war.
Eine Frau, 65 Jahre, sagt: "Wir haben schon einen Brief an den Oberbürgermeister geschrieben."
Ein Mann, 56 Jahre, sagt: "Alle, die hier einkaufen, sind eigentlich Stammkunden."
Eine Frau, 73 Jahre, stützt sich auf ihren Rollator und sagt: "Mein ganzes Herz tut weh. Ich habe kein Auto, ich bin allein – was soll ich machen?"
Das Thema treibt viele um, seit vor einem Jahr der letzte Lebensmittelladen der Innenstadt aufgegeben hat. Und die Frage ist: Wird sich nun, da die eine Tür geschlossen ist, an anderer Stelle noch einmal eine Tür öffnen?
Aldi in der Falterstraße, Kupsch am Markt, Edeka im Storg – alle verschwunden. Vor einem Jahr dann die Norma, der letzte Saurier aus einem längst vergangenen Einkaufszeitalter. Gerüchte gab es seit Jahren, immer war da die Sorge vor dem großen Knall. Und dann kam er – und schlug einen weiteren Krater in die Versorgung der ohnehin wüsten Innenstadt. Auch Kitzingen ist inzwischen eine Welt voller Abtrünniger, in der jetzt alle alles auf der grünen Wiese kaufen.
Viele Kommunen können die Bedürfnisse des Handels nicht erfüllen
Man kann das beklagen, nur wird man es kaum ändern. Die Innenstädte sind nicht mehr das, was sich die Lebensmittelriesen heute wünschen. Große Ladenflächen von 1500 Quadratmetern, besser mehr, ausreichend Parkplätze vor der Tür, Premium-Verkehrsanbindung, all das kollidiert mit den gut gemeinten Bestrebungen vieler Kommunen, die in den vergangenen Jahren eher auf Entschleunigung setzten – auf weniger Verkehr, auf weniger Stellplätze, auf mehr Grün – und jetzt damit zu kämpfen haben, dass sie nicht mehr anziehend genug für den Lebensmitteleinzelhandel sind.
Besucht man Frank Gimperlein in seinem Büro des Stadtmarketingvereins nahe dem Marktplatz, spricht man mit Stefan Güntner an seinem Schreibtisch im Rathaus, bittet man die Versorger um ihre Sicht der Dinge, dann ist bei allen der Wunsch und der Wille spürbar, Lösungen zu finden. Die Ansätze aber sind grundverschieden.
Gimperlein erhofft sich eine Initiative und Steuerung durch die Stadt, der OB bevorzugt ein rein marktwirtschaftliches Modell, und die Versorger selbst stellen Bedingungen, sind aber grundsätzlich offen für alles. Wie lassen sich die Philosophien mit den Bedürfnissen der Kundschaft zusammenbringen? Gimperlein spricht vom "Kitzinger Modell" und sagt auch gleich, was er darunter versteht: "Einen Träger für den Laden finden, ihn finanziell unterstützen und langfristig mit regionalen Produkten aufbauen."
Konfrontiert man Güntner mit der Idee des Stadtmarketing-Vorsitzenden, dann sagt er: "Ich würde vor einem Modell zurückschrecken, bei dem wir als Stadt einen solchen Markt subventionieren." Für freiwillige Leistungen habe die Stadt gerade kein Geld – sie hat noch nicht einmal eine passende Immobilie, die sie zur Verfügung stellen könnte. Wie wichtig ein solches Objekt sein kann, hat sich ein paar Kilometer weiter östlich, in Iphofen, gezeigt. Dort öffnete vor gut einem Jahr das "Genusshaus" am Marktplatz, kein klassischer Lebensmittelladen, aber immerhin ein kleiner Kaufladen mit regionalen Produkten, Gastronomiebereich – und der Stadt als Hausherrin, die über die Miete vieles steuern kann.
In Kitzingen hat der Stadtrat vor wenigen Wochen nach langer Kontroverse ein neues Einzelhandelskonzept verabschiedet. Es ist kein Patentrezept, um die bekannten Schwächen der Innenstadt zu heilen. Aber auf 120 Seiten nennt es Potenziale und Perspektiven, darunter auch für einen Lebensmittelmarkt. Ein großer Discounter sei zwar aufgrund der benötigten Fläche "aktuell nicht realistisch", heißt es. Doch Chancen für einen kleinen Markt gebe es auf jeden Fall.
Tegut betreibt inzwischen rund 30 teo-Märkte in Hessen, Bayern und Baden-Württemberg – auf Tante-Emma-Größe zugeschnittene Läden mit bis zu 950 Artikeln von Wurst und Fleisch, Obst und Gemüse bis Nudeln, Getränken sowie Drogerie- und Hygieneartikeln, die seit dem Abschied von Rossmann Ende 2021 ebenfalls nicht mehr in der Kitzinger Innenstadt zu finden sind.
Langfristig sieht das Handelsunternehmen mit Hauptsitz in Fulda Potenzial für mehrere hundert Standorte, wie es von der Pressestelle heißt. Zwei "Grundvoraussetzungen" nennt Tegut auf Anfrage. Erstens: "Eine Grundstücksgröße von 150 Quadratmetern oder eine Immobilie mit 80 bis 150 Quadratmetern, die gut zugänglich und sichtbar sowie rund um die Uhr und barrierefrei erreichbar ist." Und zweitens: "Im ländlichen Raum eine Einwohnerzahl von mindestens 1500 Bürgerinnen und Bürgern, damit sich teo langfristig wirtschaftlich betreiben lässt."
Das Kitzinger Einzelhandelskonzept zählt im Dreieck von Nordtangente, B8 und Main 3171 Einwohner sowie 8,7 Millionen Euro potenzielle Kaufkraft im Segment Nahrung und Genussmittel, dazu kaum Konkurrenz – das sollte einen Betreiber doch überzeugen.
In Johannesberg, einer 4200-Einwohner-Gemeinde vor den Toren Aschaffenburgs, ist dies bereits gelungen. Zehn Jahre kämpfte Bürgermeister Peter Zenglein dort nach dem Abschied des letzten Nahversorgers um eine Lösung. Aldi, Netto, Norma – alle hatte er angefragt, alle sagten ihm ab. Dann kam eines Tages Tegut mit dem verlockenden Angebot um die Ecke, einen teo-Markt anzusiedeln, und plötzlich ging alles ganz schnell.
Die Stadt vermittelte ein Grundstück der Kirche – nicht direkt an der Hauptstraße wie von Tegut gewünscht, aber nahe dem Marktgelände, der Schule und einer Kita. Kurz darauf öffnete der Markt: ohne Personal und mit automatischer Kasse. Neulich, so erzählt es Zenglein, habe er mit einer alten Dame gesprochen, 90 Jahre alt, ob sie bei teo einkaufen gehe. "Jeden Tag schaue sie vorbei, sagte sie."
Auch das Start-up Tante-M geht verstärkt in die Innenstädte
Das Konzept des schwäbischen Start-ups Tante-M liest sich wie ein auf die Kitzinger Kernstadt zugeschnittenes Versprechen: "Der Einkauf in unseren Tante-M-Läden soll und kann nicht den Wocheneinkauf ersetzen, sondern die leicht zu erreichende tägliche Nahversorgung in der Ortsmitte sein", heißt es auf der Homepage des Unternehmens. Und: "Unser Standort-Schwerpunkt liegt auf Ortschaften zwischen 700 und 4000 Einwohnern, die leider nur noch eine eingeschränkte oder gar keine Nahversorgung mehr haben." 40 Filialen gibt es inzwischen, vorwiegend in Baden-Württemberg, und es werden immer mehr, weil in immer mehr Kommunen der Nahversorger um die Ecke wegbricht.
Selbst bedienen, selbst kassieren, selbst bezahlen – damit werben sowohl teo als auch Tante-M. Gimperlein ist sich nicht sicher, ob dieses Minimalkonzept zu der eher älteren Zielgruppe der Kitzinger Innenstadt passt. Ihm schwebt deshalb eine Art Markthalle am Marktplatz vor, in dem es vor allem regionale Produkte zu kaufen gibt. Die frühere Commerzbank-Filiale in der Kaiserstraße, die seit Jahren leer steht und auch im Einzelhandelskonzept als mögliche Ladenlokalität auftaucht, hält Gimperlein für zu klein, zudem sei das Haus in Privatbesitz.
Der OB sieht in der Innenstadt durchaus Angebote wie den Pazar-Markt in der Kaiserstraße mit Frischfleisch und Gemüse oder den Edeka-Vollsortimenter jenseits der B8 in der Wörthstraße. Von der Idee, einen Markt zu subventionieren, wie es Buchbrunn oder Rödelsee seit Jahren mit ihren Dorfläden tun, hält Güntner in Kitzingen wenig. Das, so sagt er, könnte schnell als unerlaubte Beihilfe ausgelegt werden. Doch das Landratsamt gibt Entwarnung. Den Gemeinden stehe in dieser Frage ein "gewisser Beurteilungsspielraum" zu. "Sie können am ehesten einschätzen, ob der Betrieb eines Nachbarschaftsladens erforderlich ist, um die tägliche Versorgung der örtlichen Gemeinschaft zu sichern", heißt es auf Nachfrage.
Betrachtet man die Sache realistisch, so sieht es nicht nach einer schnellen Lösung aus. Frank Gimperlein, der Mann vom Stadtmarketingverein, sagt, er fühle sich mit seinen Vorschlägen kaum gehört. Der OB sagt, bei ihm im Rathaus habe sich noch nie jemand über einen fehlenden Supermarkt beschwert. Die Hoffnung, so scheint es, ruht derzeit auf 120 Seiten bedrucktem Papier, auf dem irgendwo der Satz steht: Es gelte das Zentrum als soziale Mitte zu stärken.
Hauptsache das Rathaus TV wird professionell in Szene gesetzt.
Ich hoffe sehr, das es bei einer Amtszeit bleibt.
Next please!