Der Hut darf nicht fehlen: Kaum hat Jürgen Wolfarth ihn aufgesetzt, verlässt er schwungvoll die Wohnung am Marktturm und steigt aus dem zweiten Stock die enge Treppe hinunter. Unten wartet schon sein blauer Einkaufstrolley. Fünf Schritte damit aus der Haustür heraus und der 85-Jährige steht mitten in der Kitzinger Innenstadt. Ein Zentrum, in dem es kurz nach diesem Treffen keinen Supermarkt mehr gibt. Denn inzwischen ist die Norma im Schwalbenhof zu. Endgültig.
Ein- bis zweimal pro Woche kam Jürgen Wolfarth dorthin zum Einkaufen. Während seiner letzten Tour lobt er ausdrücklich "die Damen von der Norma", die ihm oft geholfen haben. Dabei ist der Rentner gar nicht der Typ, der sich gerne helfen lassen möchte. Doch eine Augenkrankheit zwingt ihn manchmal eben doch dazu. Weniger als zehn Prozent Sehkraft sind dem früheren Fotografen und Geschäftsinhaber geblieben.
Doch selbst davon lässt sich der Ur-Kitzinger die Lebensfreude nicht verderben. Auch nicht von der Schließung des Discounters? Er sagt einen Satz dazu mit einem Lächeln, bei dem andere eher mit Tränen kämpfen würden: "Für mich ist die Norma fast lebenswichtig."
Der nächste Supermarkt liegt jenseits der B 8
Mit zügigem Schritt läuft Jürgen Wolfarth an diesem Tag also ein letztes Mal zu seinem Lieblings-Supermarkt. Sein Gang ist aufrecht, an seinem Tempo zeigt sich der trainierte Wanderer. Touren bis zu einer Länge von 15 Kilometern macht der Rentner noch regelmäßig mit den Kitzinger Naturfreunden. Er schafft auch den Weg zum nächstgelegenen Supermarkt, dem Edeka Waigandt in der Wörthstraße. Aber das sei, sagt er mit einem Grinsen, jenseits der B 8 und damit außerhalb der Stadt für einen Kitzinger.
Die Norma hingegen lag wie der 2011 geschlossene Kupsch immer mittendrin. Als Jürgen Wolfarth den Laden ein letztes Mal betritt, ist von dem nahenden Ende noch nichts zu merken. Der 85-Jährige schiebt seinen Einkaufswagen durch gut gefüllte Regale, die recht eng auf 400 Quadratmetern stehen. Zu wenig für ein Sortiment, das auf 800 Quadratmeter ausgelegt ist. Für den Markt ist das auf Dauer nicht wirtschaftlich. Doch der Kundschaft reicht es. Beim Obst angekommen, zieht Jürgen Wolfarth eine Plastiktüte aus seinem blauen Trolley, den er zwischen Griff und Wagen geklemmt hat. Schon sind die Bananen umweltfreundlich verstaut.
Sie dürfen in seinen Vorräten ebenso wenig fehlen wie der Joghurt für sein Müsli. Seit über 40 Jahren ist das sein Frühstück. Zudem habe ihm ein Arzt schon vor Jahren geraten, das Fett zu reduzieren und keinen Alkohol zu trinken. Daran hält er sich. "Ob ich 100 werden will, weiß ich nicht, aber die 90 würde ich schon gerne erreichen", sagt der Rentner.
Als er das sagt, hat Jürgen Wolfarth gerade den Erdbeerjoghurt in den Einkaufswagen gestellt. Ihn hat er auch ohne die beleuchtete Lupe gefunden, die sonst sein ständiger Begleiter ist. Hauptsache, er kann selbst aussuchen, auf welche Sorte er diesmal Lust hat. Oder was er in den nächsten Tagen kochen könnte. Das zeigt dieser Einkauf: Eigene Entscheidungen treffen zu können, auch solch vermeintlich banale wie die Wahl der Einmachgurken, hat viel mit dem Erhalt der Selbstständigkeit zu tun.
Sohn und Schwiegertochter kaufen die schweren Sachen ein
Für die Grundversorgung des Witwers ist gesorgt, darum kümmern sich Schwiegertochter und Sohn. Axel Wolfarth ist Krankenpfleger in der Klinik Kitzinger Land. Wenn er Spätschicht hat, kauft er am Vormittag schwere Dinge wie Milch und Getränke ein, wofür sein Vater sehr dankbar ist. Nicht jeder Altstadtbewohner ohne Auto hat solche Hilfe. Dennoch ist Jürgen Wolfarth wichtig: "Ich möchte selbst schauen – und so gut wie möglich alleine zurechtkommen ."
Schon hat sich Jürgen Wolfarth in die Kassenschlange eingereiht. Drei Frauen vor ihm unterhalten sich auf Türkisch; nicht wenige Kunden in der Altstadt haben einen Migrationshintergrund. Jetzt, zur Mittagszeit, ist die Norma gut besucht. Ein Handwerker hat gerade ein Getränk und eine Bäckertüte auf das Band gelegt, bei einer Frau fiel die Wahl auf einen abgepackten Salat und einen Kaffee aus dem Kühlregal.
Vor der Norma liegen Kornkorken und Zigarettenkippen
Nach dem Einkauf hat der 85-Jährige seine Lebensmittel rasch im Trolley verstaut. Da nutzt er noch schnell die Chance, sein umfangreiches historisches Wissen über Kitzingen zu teilen. Er zeigt über die parkenden Autos im Schwalbenhof hinweg auf ein Türmchen, das früher Teil der inneren Stadtmauer war. Was ihn weniger interessiert, sind die überall verstreuten Zigarettenkippen und Kronkorken. Stumme Zeugen häufiger Treffpunkte zum Trinken direkt vor dem Markt. Das brachte in der Vergangenheit durchaus Konflikte mit sich.
Jürgen Wolfarth fragt sich eher, was die anderen Kundinnen und Kunden der Altstadt jetzt machen. Er nennt ein Beispiel: "Das ist ja bekannt, dass in der Oberen Kirchgasse viele Türken wohnen. Wo gehen die jetzt hin zum Einkaufen?"
Durch die Gasse zurück führt sein kurzer Weg nach Hause; nur rund 350 Meter sind es. Der Rentner wird einen anderen, längeren für den Einkauf finden müssen. Ausprobiert hat er das schon: zu einem anderen Supermarkt zu laufen und mit einem Anrufsammeltaxi zurückfahren. Das Taxi darf er – wie den kompletten öffentlichen Nahverkehr – gratis nutzen mit seinem Behindertenausweis. "Aber", fragt sich Jürgen Wolfarth, "was ist mit den anderen, für die selbst das keine Möglichkeit ist?"