Etwa 300 Menschen sind am Samstag beim ersten Christopher Street Day (CSD) in Haßfurt (Lkr. Haßberge) durch die Straßen gezogen, um für die Rechte und gegen Ausgrenzung und Diskriminierung von Homosexuellen, Transgender-Personen, Inter-, Bi- und Asexuellen aufmerksam zu machen. Unter ihnen war auch Grünen-Bundesabgeordnete Tessa Ganserer.
Die 45-Jährige stammt aus Niederbayern, als Abgeordnete vertritt sie heute den Wahlkreis Nürnberg-Nord. Von 2013 bis 2021 war sie Mitglied des Bayerischen Landtags, 2021 wurde Ganserer in den Bundestag gewählt. Für Aufmerksamkeit sorgte 2018 ihr Coming-Out als Transfrau. Damit wurde sie zur ersten Abgeordneten in Deutschland, die ihre Transidentität öffentlich machte. Im Interview spricht Tessa Ganserer unter anderem über die Situation von queeren Menschen im ländlichen Raum und darüber, was sie politisch bewegen möchte.
Tessa Ganserer: Fehlende Akzeptanz, Diskriminierung und Hasskriminalität gibt es natürlich in Großstädten genauso, nur gibt es halt dort auch eine aktive LSBTIQ-Community (Hinweis der Redaktion: die Abkürzung steht für lesbisch, schwul, bisexuell, trans, inter und queer), die sich für die Rechte von queeren Menschen stark macht. Ich habe zu meiner Zeit im Bayerischen Landtag als queer-politische Sprecherin der Grünen-Landtagsfraktion eine Studie in Auftrag gegeben zu den Diskriminierungserfahrungen von queeren Menschen in Bayern. Bei der Online-Befragung kam raus, dass bei über 900 vollständig ausgefüllten Fragebögen zwei Drittel der Menschen angegeben haben, dass sie im ländlichen Raum oder in einer Kleinstadt geboren und aufgewachsen sind. Aber zum Zeitpunkt der Befragung haben zwei Drittel der queeren Menschen in Großstädten mit über 100.000 Einwohnern gelebt. Als Grund, warum sie ihrer Heimat den Rücken gekehrt haben, war auf Platz 1 der Ausbildungs- und Arbeitsplatz, aber gleich auf Platz 2 die eigene Queernes, das fehlende Gesehen- und Ernstgenommen-Werden in ihrer Heimat. Das finde ich schon höchst bedauerlich, dass Menschen, die eigentlich gerne dort gelebt haben, wegziehen, weil sie sich dort nicht ernstgenommen, nicht gesehen, nicht willkommen fühlen.
Ganserer: Es war etwas überraschend, dass queere Menschen in Großstädten tendenziell häufiger von Diskriminierung berichtet haben. Allerdings haben die, die im ländlichen Raum gelebt haben, deutlich häufiger angegeben, dass sie nicht geoutet sind, aus Angst vor Diskriminierung. Und dort, wo queere Menschen im ländlichen Raum Diskriminierung erfahren haben, war sie auch deutlich heftiger.
Ganserer: Gegenfrage: Warum gibt es in jedem Dorf einen Fußballverein, obwohl bei Weitem nicht alle Menschen Fußball spielen? Warum gibt es in jedem Dorf ein Dorffest? Weil Menschen das Bedürfnis danach haben und Gemeinschaft erleben wollen. Deswegen finde ich auch CSDs oder Aktionstage, die auf die Belange und Probleme von queeren Menschen aufmerksam machen, im ländlichen Raum mindestens genauso wichtig wie in Großstädten.
Ganserer: Die neue Bundesregierung ist angetreten, für ein gutes gesellschaftliches Miteinander einzustehen und für gleiche Rechte im Gesetz zu sorgen. Auch nach der Ehe für alle kann von Gleichheit vor dem Gesetz noch lange keine Rede sein. Es ist ein Unding, dass bei lesbischen Paaren die Mitmutter das gemeinsame Kind adoptieren muss, während in heterosexuellen Ehen der Ehemann ohne Vaterschaftstest automatisch als Vater anerkannt wird. Das ist eine eindeutige Ungleichbehandlung. Nach 16 Jahren des gesellschaftspolitischen Stillstands ist es an der Zeit, dass wir per Mehrheitsbeschluss für gleiches Recht sorgen und nicht darauf warten, dass Betroffene ihre Rechte einklagen. Da haben wir noch eine Reihe von Aufgaben: Wir haben nach wie vor die Regelungen bei der Blutspende, die Männer, die Sex mit Männern haben, diskriminieren. Wir haben dieses entwürdigende sogenannte Transsexuellengesetz, das von Anfang an Unrecht war und heute noch Menschen in ein entwürdigendes Gerichtsverfahren zwingt, damit der Staat sie als der Mensch akzeptiert, der sie sind. Da haben wir auf gesetzgeberische Weise noch sehr viel zu tun. Wir können aber Akzeptanz natürlich nicht per Bundestagsbeschluss herbeiführen.
Ganserer: Für Akzeptanz braucht es eine klare Haltung. Da ist natürlich die Politik gefordert. Akzeptanz muss man vorleben, fördern und einfordern. Da ist es schon mal ein wichtiges Signal, dass die neue Bundesregierung mit Sven Lehmann erstmals einen Queer-Beauftragten einberufen hat, um diese Akzeptanz deutlich zu signalisieren. Wir werden dazu auch einen nationalen Aktionsplan für Akzeptanz und Vielfalt erarbeiten. Denn für diese Akzeptanzarbeit, die eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, braucht es natürlich personelle und finanzielle Ressourcen. Und dort wo fehlende Akzeptanz in Benachteiligung oder sogar Hasskriminalität umschlägt, da müssen wir als Staat schützend an der Seite der Betroffenen stehen. Deshalb werden wir das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz reformieren. Das betrifft ja nicht nur queere Menschen, sondern auch Menschen mit Migrationshintergrund oder Menschen, die wegen einer Behinderung benachteiligt werden. Hasskriminalität, online wie offline, muss konsequent bekämpft werden.
Ganserer: Ich finde wichtig, dass Angehörige von marginalisierten Gruppen über ihre Erfahrungen reden, aber es kann nicht allein die Aufgabe von Menschen sein, die Benachteiligung erfahren, sich gegen Diskriminierung, Benachteiligung und Hasskriminalität zu wehren. Für ein gutes, gesellschaftliches Miteinander sind alle Demokrat:innen gefordert, es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der sich alle stellen müssen.
Ganserer: Eine ideale Welt wäre eine, in der wir alle Artikel 1 der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren" wirklich zum Leitsatz für unser Handeln und unser zwischenmenschliches Miteinander machen und kein Mensch aufgrund von Gruppenbezogenen Merkmalen benachteiligt, abgewertet oder ausgegrenzt wird.
Murmeltier hat das treffend auf den Punkt gebracht.