
Gumbrecht: Das sind nicht nur positive Erinnerungen. Eher glaube ich, dass meine Kindheit und Jugend in Würzburg in geradezu emblematischer Weise typisch waren für die erste und zweite deutsche Nachkriegsphase. Das wäre in Tübingen, Marburg oder Göttingen nicht sehr anders gewesen.
Gumbrecht: Ich habe zum Beispiel über die Besatzungskinder von damals im Hinblick auf das gegenwärtige politische und kulturelle Problem der Migrantenströme geredet. Damit wollte ich daran erinnern, dass als „Sudetendeutsche“ Millionen Menschen aus Osteuropa in die Bundesrepublik gekommen sind – und dies in Bayern während einer massiven Präsenz der amerikanischen Besatzung. 1954, als ich in die Schule kam, haben gewiss 20 000 oder mehr Menschen in Würzburg gelebt, die in keinem Sinn „Würzburger“ waren und in einem sehr konkreten Sinn „Migranten“.