Dass aber Neugeborene in den ersten Tagen und Wochen schon sprachliches Talent zeigen, das wollten Wermkes Forscherkollegen lange nicht anerkennen. Bis die studierte Verhaltensbiologin vor sieben Jahren mit Mitstreitern den Nachweis lieferte: Säuglingslaute enthalten melodische Elemente der Muttersprache. Französische Babys klingen anders als deutsche. Wäääh-ähhhhhh-äaa.
Französische und deutsche Babys beim Weinen aufgenommen
„Da bedürfen die bisherigen Modelle zur Sprachentwicklung einer Überarbeitung“, sagt Wermke trocken. Für ihre Studie hatte die Würzburger Professorin, zusammen mit Kollegen vom Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften und Psycholinguisten aus Paris, 30 französische und 30 deutsche Neugeborene nicht absichtlich zum Weinen gebracht. Doch ihnen – beim Aufwachen, beim Wickeln oder vor dem Stillen – das Mikrofon hingehalten.Das Ergebnis der akustischen Analyse von mehreren Stunden Gewimmer und Geschrei: Kaum auf der Welt, imitieren die Kleinen die im Mutterleib gehörte Sprachmelodie ihrer Eltern und kopieren dabei charakteristische Intonationsmuster. Die deutschen Babys intonieren ihre Schreie auffallend häufig mit sinkender Tonhöhe. Bei den kleinen Franzosen steigt die Tonhöhe und Intensität an – mit Höhepunkt ganz am Ende.
Säuglinge brüllen nicht nur
Ähnlich gegensätzliche Melodieverläufe kennzeichnen die beiden Sprachen. Ist das deutsche „Mama“ auf der ersten Silbe betont, liegt der stimmliche Schwerpunkt beim französische „Maman“ auf der zweiten Silbe.
„Unglaublich, welche Komplexität das Babyweinen hat“, sagt Wermke nach 30 Jahren Forschung und vermeidet den Begriff „Babygeschrei“. Ihr geht es nicht um die Lautäußerungen der Säuglinge bei Schmerz oder schierer Not, also um den Schrei als Alarmsignal. Ihr geht es um das Quengeln, Wimmern, Babbeln. „Das ist kommunikatives Weinen, anrührend und mit emotionaler Botschaft.“
Aus den Hörproben in ihrer Datenbank liest sie Grundbausteine der Sprache und stimmliche Kreativität heraus. Säuglinge, sagt Wermke, brüllen nicht einfach nur. Sie bilden feine Klangfärbungen und Melodien und „spielen“ mit Betonung. Schmerz-Weinen klingt anders als zufriedenes oder gelangweiltes Herumweinen: „Sie teilen uns mit, was sie genau jetzt im Moment empfinden und wünschen.“
An der Charité in Berlin hatte Kathleen Wermke vor 15 Jahren für eine große Sprachentwicklungsstudie begonnen, „Stimmabdrücke“ zu sammeln. 2003 holte die Direktorin der Poliklinik für Kieferorthopädie, Professorin Angelika Stellzig-Eisenhauer, sie nach Würzburg. Im eigens geschaffenen Zentrum für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen erforscht und untersucht Kathleen Wermke seitdem mit ihren Studenten, welchen Zusammenhang es zwischen frühen Klangeigenschaften im Weinen und späteren Sprachleistungen der Kinder gibt.