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BAD MERGENTHEIM
Industrie 4.0: Wenn das Regal mitdenkt
Solche sogenannten Kanban-Behälter werden bei Würth für den Transport von Waren zu Industriekunden in Europa eingesetzt. Die Boxen haben Codes und Computerchips, womit Warenbestellung digital ausgelöst werden können.
Foto: Jürgen Haug-Peichl | Solche sogenannten Kanban-Behälter werden bei Würth für den Transport von Waren zu Industriekunden in Europa eingesetzt. Die Boxen haben Codes und Computerchips, womit Warenbestellung digital ausgelöst werden können.
Jürgen Haug-Peichl
 |  aktualisiert: 27.04.2023 06:53 Uhr

Auf dem Arbeitsmarkt in Franken ist Industrie 4.0 nicht mehr wegzudenken – vor allem, wenn es um die Verteilung von Waren geht. Digitalisierung hat dort die Arbeit der Menschen verändert.

Wie es früher war

So lief das früher: Ein Arbeiter am Fließband braucht neue Schrauben, um Blechteile montieren zu können. Also geht er mit einer Bestellkarte ins zentrale Warenlager, wo er sich einen Schwung Schrauben geben lässt. Effekt: Der Gang zum Lager und zurück kostet wertvolle Zeit, die Menge der bestellten Schrauben ist Pi mal Daumen festgelegt worden und somit nicht dem aktuellen Bedarf angepasst. Und: Ein zentrales Lager mit seinem großen, starren Warenbestand ist für jedes Unternehmen teuer.

  • Video: Blicke ins riesige Logistikzentrum von Würth in Bad Mergentheim

Wie es heute läuft, zeigt dieses konstruierte Beispiel: Ein Arbeiter in einer Industriehalle der Firma XY irgendwo in Europa entnimmt aus einem sogenannten Kanban-Behälter die letzte Schraube, stellt den leeren Behälter auf ein Regal neben sich und bekommt wie von Geisterhand im Handumdrehen Nachschub.

Der Hintergrund: Die digitale Vernetzung dieser Industriehalle der Firma XY etwa mit dem Würth-Logistikzentrum in Bad Mergentheim sorgt dafür, dass eine exakt definierte Bestellung von Schrauben in dem Moment ausgelöst wird, in dem der XY-Arbeiter den leeren Kanban-Behälter auf das Regal stellt. Der Clou: Das Regal ist „intelligent“, weil es den leeren Behälter mit all den per Computerchip hinterlegten Daten digital erkennt. Die ausgelesenen Daten werden dann automatisch zu Würth nach Bad Mergentheim übermittelt.

Was es mit Kanban-Behältern auf sich hat

An sechs Tagen pro Woche werden dort all die Bestellungen von 6000 Kunden in Europa in sogenannte Kanban-Behälter verpackt und dann verschickt. 8500 Tonnen Waren verlassen nach Würth-Angaben jeden Monat das zentrale Logistikzentrum in Bad Mergentheim, in dem 1500 Menschen arbeiten.

Kanban ist eine schon in den 1940er Jahren bei Toyota in Japan entwickelte Methode, um Prozesse gerade in Industriefabriken zu optimieren. Vereinfacht ausgedrückt: Jeder Arbeiter am Fließband erhält durch eine ausgeklügelte und digitalisierte Lieferkette exakt die Menge an Materialnachschub, die er auch wirklich braucht. Nichts muss mehr von Hand bestellt werden.

Vorteile für Unternehmen

Es entfallen zudem große und teure Warenlager, Materialschwund sowie Fehllieferungen. Das wiederum senke das Risiko von Lieferengpässen und Produktionsstopps, sind sich Experten sicher. Künftig werde sich die komplette Lieferkette (Supply Chain) digital selbst steuern, ist man sich bei Würth sicher.

Kanban-Behälter am Beispiel des schwäbischen Schraubenkonzerns sind schuhkartongroße Boxen mit Code-Karte und Chip, die millionenfach zwischen Bad Mergentheim und den Kunden in Europa unterwegs sind. In ihnen wird digital die bestellte Ware genau erfasst, also etwa Schrauben oder andere für die Produktion benötigten Kleinteile.

Würth: Was Digitalisierung bringt

Die Boxen stellen sich die Beschäftigten an ihren Arbeitsplatz. Sind sie leer, kommen sie auf das intelligente Regal – die Rückreise der Box nach Bad Mergentheim beginnt, die Bestellung geht ihren Gang.

Nach Würth-Angaben schlägt sich diese Form der Digitalisierung in bare Münze nieder: Die Beschaffung von Nachschub wie Schrauben oder anderen Kleinteilen koste einen Industriebetrieb nun nur noch ein Zwanzigstel im Vergleich zu früher. Und: Der Würth-Kunde erhalte alle Daten zur Auswertung.

Wittenstein sammelt Daten von Schraubern

Wie sehr die Digitalisierung in der Industrie schon durchgesickert ist, machte Dirk Haft vor wenigen Tagen auf einem Fachkongress in Bad Mergentheim deutlich. Das Vorstandsmitglied des tauberfränkischen Mechatronik-Konzerns Wittenstein hat nach eigenen Worten beobachtet, dass auf Messen mittlerweile kaum noch Schilder mit „Industrie 4.0“ zu sehen seien. Das Thema müsse nicht mehr angepriesen werden, es werde schlicht und einfach umgesetzt.

Bei Wittenstein ist die Digitalisierung laut Haft schon an vielen Stellen angekommen. So biete das Unternehmen einen Schwerlastschrauber an, der Daten sammle und zur Auswertung weitergibt. Heißt: Das Gerät wird zum Beispiel bei den wuchtigen Bolzen von Windrädern eingesetzt und zeichnet auf, mit welchem Drehmoment und in welchem Winkel die Bolzen verschraubt wurden. Mit diesen Daten könne dann geprüft werden, ob bei der Montage alles richtig und sicher gelaufen ist.

GPS-Sender in Hallen

Oder die smarte, also intelligente Fabrik: Nach Hafts Worten gibt es Wittenstein-Hallen, in denen die Wege von Gabelstaplern per internem GPS-System – die Sender und Empfänger hängen an der Hallendecke – ausgewertet werden. Anhand der gesammelten Daten könnten die Lauf- und Liegezeiten der Gabelstapler optimiert werden.

Neben Würth und Wittenstein hat die Digitalisierung eine ganze Reihe namhafter Unternehmen verändert. Schneider Electric in Marktheidenfeld, Brose in Coburg, Bosch Rexroth in Lohr/Main oder Siemens in Bad Neustadt mit seiner „Arena der Digitalisierung“: Beispiele für Adressen, wo sich mittlerweile Heerscharen von Experten mit dem Thema auseinander setzen und Kunden unter anderem Software zum Datensammeln und -auswerten anbieten.

Auch auf dem Bau ein wichtiges Thema

Selbst auf dem Bau ist 4.0 angekommen: Gerade in der Logistik böten sich beste Chancen, durch Digitalisierung die gesamte Prozesskette „deutlich effizienter zu gestalten“, hieß es kürzlich auf dem „Forum Baukultur“ des Knauf-Konzerns in Iphofen (Lkr. Kitzingen).

Die Teilnehmer waren sich laut einer Mitteilung einig: Die Digitalisierung stelle eine der bedeutendsten Chancen für die eher traditionell geprägte Baubranche dar. Vor allem der Warenfluss vom Bauprodukte-Hersteller hin zum Abnehmer auf der Baustelle könne optimaler werden, wenn die damit zusammenhängenden Daten vernetzt werden.

Industrie 4.0

Der Begriff steht für die Digitalisierung der Industrie. Er wurde zum ersten Mal 2011 auf der Hannovermesse in der Öffentlichkeit verwendet und steht auch für „Vierte industrielle Revolution“. Weil sich Digitalisierung auch durch andere Bereiche zieht, spricht man heute unter anderem von Pflege 4.0 oder Arbeit 4.0. Gemeint ist: Es werden automatisch Daten gesammelt – zum Beispiel durch den Einsatz von Computerchips oder Sensoren. Diese Datenfülle dann klug auszuwerten, ist Sinn und Zweck der Digitalisierung. Beispiel: Sensoren sammeln rund um die Uhr alle wichtigen Betriebsdaten eines Windrades. Computerprogramme können aufgrund dessen herausfinden, wann und wo das Windrad kaputt gehen wird. Außerdem können durch Vernetzung mit Lieferanten gleich Ersatzteilbestellungen rausgehen.

Industrie 1.0: Im 18. Jahrhundert löst Massenproduktion die Handarbeit ab. Zum Einsatz kommen Wasser- und Dampfkraft, zum Beispiel bei Webstühlen.

Industrie 2.0: Elektrizität und der Einsatz von Verbrennungsmotoren beschleunigen die Massenproduktion, Fließband-Arbeit entsteht (Anfang 20. Jahrhundert).

Industrie 3.0: Einsatz von Computern in den Fabriken etwa zur Steuerung von Maschinen. Unterschied zu 4.0: Es werden keine Daten zur späteren Auswertung oder Vernetzung mit anderen Stellen erfasst. aug

Logistikzentrum der Würth Industrie Service GmbH & Co. KG in Bad Mergentheim: Blick auf die Verteilbänder der Waren. 1500 Menschen arbeiten in dem Würth-Zentrum. Die Digitalisierung der Lieferkette ist dort ein Top-Thema.
Foto: Jürgen Haug-Peichl | Logistikzentrum der Würth Industrie Service GmbH & Co. KG in Bad Mergentheim: Blick auf die Verteilbänder der Waren. 1500 Menschen arbeiten in dem Würth-Zentrum.
In diesem Industriepark hoch über Bad Mergentheim steht das zentrale Europa-Logistikzentrum von Würth. 1500 Menschen arbeiten dort.
Foto: Würth Industrie Service | In diesem Industriepark hoch über Bad Mergentheim steht das zentrale Europa-Logistikzentrum von Würth. 1500 Menschen arbeiten dort.
 
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